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Thomas Gesterkamp
Die Trennung der siamesischen Zwillinge
Auch die IT-Branche organisiert sich - aber in
Verbänden ohne Tarifbindung
Der beste Betriebsrat ist der Chef", hieß es einst in den
jungen Firmen der Informationswirtschaft. Ein kostenloses
Mittagessen und das Taxi, wenn es mal richtig spät wurde,
schienen als betriebliche Sozialleistung zu reichen. Die
Gründer bemühten sich um ein entspanntes Arbeitsklima -
auch wenn der eigens für die durch Dauer-Bildschirmarbeit
gepiesackten Nacken engagierte Masseur stets ein Klischee war. Zum
Kern eines anderen Selbstverständnisses avancierte das
"Commitment", die Verpflichtung auf eine gemeinsame Mission.
Interessenkonflikte sollten gar nicht erst aufkommen, mögliche
Streitpunkte schnell geklärt werden. Die formalen Regularien
herkömmlicher Betriebsratsarbeit schienen
überflüssig. Der Betriebsrat mutierte zum "Round
table".
Viele dieser runden Tische formierten sich mit
ausdrücklicher Unterstützung des Managements. In der
großen Ernüchterung nach dem Börsenkrach entpuppten
sie sich als Schönwetter-Einrichtungen. Bei
Betriebsschließungen und Entlassungen klopften verunsicherte
Mitarbeiter plötzlich bei der bis dahin ignorierten
Gewerkschaft an. Der Beratungsbedarf war groß,
Vorzeigeunternehmen wie Pixelpark bekamen mit Verspätung doch
noch einen offiziellen Betriebsrat. Nach wie vor aber tun sich die
Arbeitnehmerorganisationen schwer in der IT-Branche. Das gilt auch
für ihr Pendant, die Arbeitgeberverbände. Von einer
"verbandlichen Ordnung" könne in diesem Bereich kaum
gesprochen werden, sagt Raphael Menez, Politikwissenschaftler an
der Universität Tübingen. Gewerkschaftliche Erfolge
blieben "auf große Unternehmen mit einer Tradition
institutionalisierter Arbeitsbeziehungen beschränkt",
resümiert Menez ein im März beendetes zweijähriges
Forschungsprojekt. Wo nicht auf vorhandene Strukturen
zurückgegriffen werden konnte, "gelang es den Gewerkschaften
trotz der Krise nur selten, tarifvertragliche Standards zu
implementieren".
Die Mitbestimmungsmöglichkeiten hängen Menez zufolge
"entscheidend von der Organisationsmacht der
Interessenverbände" ab. Auf Arbeitgeberseite ist diese
besonders schwach ausgeprägt. Gudrun Trautwein-Kalms
ermittelte Ende 2000 in einer Befragung für die
gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung, dass nur jedes dritte
Unternehmen, das über einen Betriebsrat verfügt, auch an
einen Verbandstarif angeschlossen ist (sonstige Privatwirtschaft:
77 Prozent). Peter Ittermann von der Ruhr-Universität Bochum
kam unter den 2002 am Neuen Markt notierten Unternehmen auf
deutlich niedrigere Zahlen: Nur 19 Prozent der befragten Firmen
waren Mitglied in einem Arbeitgeberverband, lediglich sieben
Prozent unterlagen einer Tarifbindung. Firmen- oder
Haustarifverträge überwiegen in den wenigen
Großunternehmen wie etwa IBM, die Kleinbetriebe hingegen sind
kaum organisiert. "Ein zentrales Motiv zum Verbandsbeitritt liegt
nach Einschätzung der Gesprächspartner dann vor, wenn
Gewerkschaften im entsprechenden Unternehmen einen Druck auf
Belegschaft und Geschäftsführung aufbauen", heißt es
in der Tübinger Studie. Diesen Druck aber können ver.di
oder IG Metall nur in Ausnahmefällen entfalten. Zwar gilt die
einst idealisierte informelle Mitsprache nicht mehr als
wegweisendes Modell, die Schwächen der selbst organisierten
Gremien waren in der Krise nicht zu übersehen.
Erfolgsgeschichte "connexx.av"
Helmut Martens von der Sozialforschungsstelle Dortmund hat den
Stimmungswandel in seinen Befragungen mitverfolgt. "Wir sind
älter geworden", bekam er bei Recherchen in IT-Betrieben immer
wieder zu hören. Die einstigen Pioniere sind in die Jahre
gekommen. Nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen, auch die
Lebenssituation der Protagonisten hat sich verändert. Mehr
berufliche Sicherheit ist deshalb erwünscht, gewerkschaftliche
Organisierung jedoch auch nach dem Ende des Aktienbooms alles
andere als eine Selbstverständlichkeit. Der "Schub von
Betriebsratsgründungen in 2001" ist für Martens nicht
ohne Vorgeschichte denkbar. Der Dortmunder Forscher verweist auf
das von ver.di unterstützte Experiment "connexx.av": Die
Erfolge dieses Beratungsangebotes führt er darauf zurück,
dass die "Projektmanager aus der eigenen Klientel" stammen und
ihnen "jeder gewerkschaftliche Stallgeruch fehlt". Die
hauptamtlichen "connexx"-Aktivisten, die vorher meist in Startups
oder Privatsendern gearbeitet haben, sind selbst Teil eines eher
"gewerkschaftsfernen" kulturellen Milieus. Entsprechend hat
"connexx.av" zwar viel für ein besseres Image des DGB und
seiner Organisationen getan, die Statistik über neue
Mitglieder aber fällt bescheiden aus: Etwa 1.800 Eintritte hat
ver.di in drei Jahren verzeichnet.
Auch im so genannten "Siemensprojekt", wo die IG Metall nach der
Auseinandersetzung um Massenentlassungen im Münchner Stammwerk
rund 900 neue Mitglieder gewann, habe man nicht bei Null begonnen,
betont Martens. Die IT-Sparte des Konzerns sei "aus der Old
Economy" hervorgegangen und war schon während der 90er-Jahre
in Prozesse zur Organisationsentwicklung der IG Metall einbezogen.
Als Gründe, warum sie freiwillig Mitglied in einem
Arbeitgeberverband werden, nennen einzelne Firmenchefs die
"Friedensfunktion des Tarifvertrages", die es ermögliche,
"Konflikte aus dem Betrieb herauszuverlagern". Daneben habe das
Tarifrecht auch eine "Orientierungsfunktion", biete ein "Raster"
für Vergütungsstrukturen und Arbeitszeiten und senke so
die Transaktionskosten der Firmen.
Politikwissenschaftler Menez lässt keinen Zweifel daran,
dass es unter den insgesamt 40.000 Software- und IT-Dienstleistern
in Deutschland große Widerstände gegen jede
Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband gibt. Als
Hauptgründe nennen die Interviewten das "Korsett" der
35-Stunden-Woche; das Thema Entgelt spiele vor allem "eine Rolle in
Ostdeutschland". Die Untersuchung zitiert den
Arbeitgeberfunktionär eines Landesverbands mit vergleichsweise
hohem Organisationsgrad: "Wir haben im Vorstand viele alte Hasen.
Die haben den Boom der so genannten New Economy äußerst
argwöhnisch betrachtet." Als "erfahrene Betriebswirte" seien
sie "sehr skeptisch gewesen": Es habe wenig Interesse gegeben,
"diese Firmen sofort zu integrieren".
Aussterben der Stammkundschaft
"Die Neigung, sich in Verbänden zu organisieren, ist
ungebrochen", glaubt dagegen Peter Klotzki, Sprecher von
Gesamtmetall. Er schränkt aber gleich ein, dies bedeute nicht
zwangsläufig die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband
mit Tarifbindung. In den "neuen Strukturen" der digitalen
Wirtschaft überwiege eine gewisse "verbandliche
Zurückhaltung". Die jungen Unternehmensgründer seien
"nicht damit aufgewachsen" und "Kosten-Argumente" spielten eine
wichtige Rolle. In der Tat bilden finanzielle Aspekte ein nicht zu
unterschätzendes Argument gegen einen Verbandsbeitritt. "Schon
der IHK-Beitrag", also die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie-
und Handelskammer, verursache vielerorts Bauchschmerzen, berichtet
Klotzki.
Die Beiträge sind je nach Verband und Region
unterschiedlich, im Schnitt betragen sie ein Promille der Lohn- und
Gehaltssumme. Vielen Minifirmen erscheint die Belastung aber zu
hoch - auch wenn sie, wie Klotzki betont, "im Vergleich zur
Unternehmensberaterstunde relativ wenig" ausmache und "wichtige
Leistungen etwa im Arbeitsrecht" Teil des angebotenen
Servicepaketes seien. "Die sind vielleicht bereit, für einen
Club, in dem sie Mitglied sind, im Jahr 200 oder 300 Euro zu
zahlen, aber das deckt bei weitem nicht die Kosten eines Verbandes
ab", klagt ein im Tübinger Forschungsprojekt befragter
Arbeitgebervertreter. Raphael Menez kommentiert: Die
"Kostenorientierung" auf Unternehmer- wie auf Belegschaftsseite sei
ein wesentliches "Hindernis zur Etablierung einer verbandlichen
Ordnung".
Das "Aussterben der Stammkundschaft", wie es Wolfgang Streeck
vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
nennt, gilt für beide Tarifparteien. Die IT-Branche
organisiert sich bestenfalls in so genannten "OT-Verbänden" -
lockeren Zusammenschlüssen ohne Tarifbindung wie dem 1999
gegründeten "Bundesverband für Informationswirtschaft,
Telekommunikation und Neue Medien e.V" (Bitkom). Dessen 1.300
Mitglieder erwirtschaften immerhin einen Jahresumsatz von etwa 120
Milliarden Euro und beschäftigen rund 700.000 Mitarbeiter.
Trotzdem organisieren sie nur einen Bruchteil des
unübersichtlichen Marktes. Mindestens 80 Prozent der sich in
der Branche tummelnden Unternehmen, so schätzt "Bitkom",
liegen unter 100.000 Euro Umsatz pro Jahr und sind daher eher der
Kategorie "Kleinstunternehmen" oder "Solo-Selbstständiger"
zuzuordnen.
"In der Ära des Modell Deutschland sind die Tarifparteien
wie siamesische Zwillinge aufgetreten, nun agieren sie zunehmend
getrennt", resümiert Josef Schmid, an dessen Tübinger
Lehrstuhl für Politische Wirtschaftslehre die
Arbeitgeber-Untersuchung durchgeführt wurde. Er spricht von
"zwei einst gleich starken kommunizierenden Röhren, wobei
einer Röhre jetzt immer mehr Druck zugeführt wird". Das
neue Ungleichgewicht liege darin, dass Gewerkschaften "nur als
Tarifpartei operieren können und die Option OT-Verband
für sie entfällt".
Die Unternehmen haben schlicht die größeren
Wahlmöglichkeiten: Indem sie den Beitritt zum
Arbeitgeberverband vermeiden, unterlaufen sie den
Flächentarif. Die Mitgliedschaft in fachorientierten
Wirtschaftsverbänden "ohne Tarif" aber, so analysiert Schmid,
mache für sie trotzdem Sinn - etwa "bei der gemeinsamen
Erkundung von Absatzmärkten, der Errichtung von gemeinsamen
Repräsentanzen im Ausland, bei der politischen Lobbyarbeit
oder der Einflussnahme auf technische Normierungen". Für die
Gewerkschaften ist es so besehen viel bedrohlicher, wenn sich das
frühere "komplementäre Verhältnis" der Verbände
auflöst. Denn Tarifpolitik und kollektiv regulierter Schutz am
Arbeitsplatz bilden heute wie vor 150 Jahren den Kern ihrer
Identität - und das gilt auch für die in dieser Hinsicht
gar nicht so "Neue Ökonomie".
Thomas Gesterkamp arbeitet als Journalist in Köln. In seinem
Buch "gutesleben.de" hat er sich mit der Unternehmskultur der
IT-Branche beschäftigt.
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