Karl Otto Sattler
Bisweilen ein echter Kulturschock
Europäische Gewerkschaftspolitik
Das Transparent hinter Heiko Glawes Schreibtisch verheißt
den Aufbruch in europäische Zeiten: Auf weißem Tuch
prangen rot die Symbole des DGB Berlin-Brandenburg und der
Solidarnosc aus den polnischen Bezirken Zielona Góra und
Gorzów, vereint im Interregionalen Gewerkschaftsrat (IGR)
namens Viadrina. Das bisherige "Highlight" dieser Kooperation: Als
eine hiesige Metallfirma jenseits der Oder eine Niederlassung
gründen und den dortigen Arbeitern Niedriglöhne
aufdrücken wollte, mobilisierten Solidarnosc-Aktivisten
über IGR-Kanäle die IG Metall. Die setzte im deutschen
Mutterbetrieb dann Verbesserungen für die Kollegen in Polen
durch. Glawe: "Diese erfolgreiche Aktion lief völlig
ungeplant". Nur über kleine pragmatische Schritte dieser Art
könne sich eine europäische Gewerkschaftsarbeit
entwickeln, sagt er.
Zu diesem Lernprozess gehören auch Überraschungen und
Hindernisse. Zum Beispiel Sprachhürden: Ohne
Übersetzungen geht es nicht, deshalb sorgen drei bilinguale
Polinnen von der gewerkschaftlichen Kontaktstelle der Uni
Frankfurt/Oder bei IGR-Sitzungen für die
Verständigung.
Die Globalisierung, die europaweite Standortkonkurrenz, der
Druck auf Löhne und Sozialstandards, all das macht eine
gemeinsame Politik der Arbeitnehmerorganisationen dringender denn
je. Die vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), einem
Dachverband mit 77 Assoziationen aus 35 Ländern, in
Brüssel ausgerichtete Manifestation mit 80.000 Teilnehmern
gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie kann durchaus als Beleg
für Kampfkraft gelten.
Gleichwohl sieht Wolfgang Lutterbach, beim DGB-Bundesvorstand
für Internationales zuständig, trotz aller Fortschritte
das Fernziel einer europäischen Tarifpolitik "jenseits des
Horizonts". Im Alltag sind nicht nur unterschiedliche politische
Richtungen auf einen Nenner zu bringen, auch Sprachhindernisse und
kulturelle Gräben spielen eine Rolle - differierende
Traditionen und Kampfstile, auseinanderklaffende
Unternehmensverfassungen und Mitbestimmungsmodelle.
In Polen beispielsweise, das macht Deutsche perplex, existieren
an die 5.000 meist kleine Gewerkschaften, manchmal 20 bis 30 allein
in einem Betrieb.
Als institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit haben sich
der EGB, die 49 IGR an den EU-Binnengrenzen und die 750
Euro-Betriebsräte (EBR) bei multinationalen Firmen
herausgebildet. Der EBR von General Motors (GM) steht im Ruf,
besonders schlagkräftig zu sein. Das erwähnt dessen
Vorsitzender Klaus Franz, Betriebsratschef von Opel in
Rüsselsheim, gern: "Ohne den EBR läuft bei GM nichts."
Doch Franz weiß auch, dass es "bis zu acht Jahre mit
persönlicher Vertrauensbildung und interkultureller Arbeit
dauern kann, bis ein Euro-Betriebsrat rund läuft".
Bei General Motors sitzen Belegschaftsvertreter aus 17 Staaten
im EBR, die Meetings samt Übersetzungen in acht Sprachen
werden von einem speziellen Team gemanagt. Der Opelaner spricht von
der Notwendigkeit "authentischer Kommunikation", von "Ehrlichkeit
und Offenheit": So müssten die Deutschen, die konzerninterne
Geschäftsinformationen aufgrund der in vielen anderen
Ländern unbekannten Mitbestimmung erhalten, die Kollegen an
ihrem Kenntnisstand teilhaben lassen.
Werner Altmeyer von der Trainings- und Beratungseinrichtung
"euro-betriebsrat.de" in Hamburg hat beobachtet, dass nicht nur
Übersetzungsprozeduren die Arbeit in den EBR hemmen. So
würden deutsche Gewerkschafter, an Mitbestimmung und an
Tarifverhandlungen mit Streik als letztem Mittel gewohnt, die
Konfrontation mit dem französischen Wirtschaftsmodell oft als
"Kulturschock" erleben. Links des Rheins hat in Unternehmen der
"patron" das Sagen. Kontrahenten in den Firmen sind nicht die
zahnlosen Betriebsräte, sondern die Gewerkschaften - und die
werden als Verhandlungspartner erst über ihre Streikpower
ernstgenommen.
Altmeyer berichtet von einem Stahlkonzern, der in Deutschland
wie Frankreich Standorte schließt: Während im EBR die
Deutschen sofort über Sozialpläne und
Beschäftigungsgesellschaften verhandeln wollen, suchen die
französischen Kollegen erst einmal den offenen Machtkampf.
Altmeyer: "Solche Differenzen erfordern komplizierte
Strategiedebatten."
Als "Profis", die internationalen Interessenvertretern der
Arbeitgeber "auf gleicher Augenhöhe entgegentreten", lobt
DGB-Experte Lutterbach die EGB-Truppe. Und
Vize-Generalsekretär Reiner Hoffmann meint, dass die
Organisation internationaler Demons-trationen "inzwischen als
Routine eingespielt" sei. Schon mischten in Brüssel
sprachgewandte und wissenschaftlich versierte Gewerkschafter im
Dschungel der EU-Politik kräftig mit.
Der EGB-Vize meint: Unter dem Druck von Globalisierung und
EU-Integration werden sich die nationalen Gewerkschaften trotz
aller Reibungsverluste politisch und kulturell annähern. "Da
findet eine Entideologisierung statt, und auch die Kampfformen
gleichen sich an." Allerdings meint Hoffmann, dass es "noch ein bis
zwei Generationen" dauern werde, bis von der Gewerkschaftsbasis her
eine echte gemeinsame Erfahrungs- und Kampfwelt entsteht. Der EGB
will nachhelfen und hat in Brüssel schon mal eine
internationale Gewerkschaftsakademie für Funktionäre,
Betriebsräte und "einfache" Mitglieder aufgebaut.
Karl Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.
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