Martin Teschke
Droht die Erosion der
Flächentarifverträge?
Flexible Lohnmodelle sollen die
Produktivität erhöhen
Eines ist schon mal klar: Die Entwicklung hin zu völlig
neuen Formen der Entlohnung von Arbeitnehmern ist nicht mehr
aufzuhalten. Unklar ist hingegen, wer maßgeblich über die
Ausgestaltung dieser neuen Art der Bezahlung entscheiden wird - die
Arbeitgeber oder die Gewerkschaften. Und welche Rolle spielt die
Politik? Auf jeden Fall hat die Entwicklung einen Namen:
Flexibilität.
Am deutlichsten bringt FDP-Chef Guido Westerwelle auf den Punkt,
wohin die Reise gehen soll. "Die Funktionärskaste der
Gewerkschaft ist der Hemm-schuh für den Aufschwung in
Deutschland - und des-halb gehört sie entmachtet." Will sagen:
Es kann auf betrieblicher Ebene gar nicht genügend
Flexibilität geben. "Die Arbeitnehmer selbst wissen am besten,
was gut für ihre Arbeitsplätze ist", so Westerwelles
Argumentation. "Wenn 75 Prozent einer Belegschaft sich mit der
Firmenführung auf etwas in geheimer Abstimmung einigt, soll
das gelten dürfen, ohne dass es von wirklichkeitsfremden
Funktionären verhindert wird."
Solche Angriffe auf den Flächentarifvertrag, der auf dem
Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" beruht, lässt
die gescholtene "Funktionärskaste" nicht auf sich sitzen.
Jürgen Peters, Chef der IG Metall, sagte unlängst:
"Sollten immer mehr Unternehmen versuchen, die Beschäftigten
durch unnötige Abweichungen vom Tarifvertrag unter Druck zu
setzen, dann wird die IG Metall den Tarifkonflikt unmittelbar vor
Ort in dem betreffenden Betrieb führen." Eine Kampfansage an
die Friedenspflicht, die nach Abschluss eines Tarifvertrages in
einer Branche gilt und von der natürlich auch die Arbeitgeber
profitieren. Peters: "Die IG Metall hat keine Angst, wenn die
Arbeitgeber mit der Erosion der Flächentarifverträge
drohen!"
Nichts weiter als zwei verbale Rauhbeine? Nein. Worum es hier
vordergründig geht, sind so genannte Öffnungsklauseln.
Sie erlauben es dem Arbeitgeber - übrigens auch unter
Mitsprache der jeweiligen Ge-werkschaft und des Betriebsrates - zur
Rettung des Unternehmens, also auch von Arbeitsplätzen, vom
Tarifvertrag abzuweichen und unbezahlte Mehrarbeit und
Kürzungen bei Weihnachts- und Urlaubsgeld durchzusetzen. Doch
mit den besonders im Osten Deutschlands immer beliebter werdenden
Öffnungs-klauseln sind die Möglichkeiten einer
flexibleren Ent-lohnung noch lange nicht erschöpft.
"Deutschland steht bei der Entwicklung variabler
Vergütungen noch ganz am Anfang", sagt Robert Reichling,
Leiter der Abteilung Lohn- und Tarifpolitik bei der
Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Die
BDA schlägt vor, sich abzuwenden von einer Vergütung nach
Lebensalter und Betriebszugehörigkeit und befürwortet
stattdessen das so genannte Drei-Säulen-Modell. Das Gehalt
sollte sich demnach zusammensetzen aus erstens einem zwischen den
Tarifparteien ausgehandelten Grundentgelt, zweitens einem
leistungsorientierten Entgelt, das mittels einer Zielvereinbarung
zwischen Arbeitgeber und -nehmer sowie einer Leistungsbeurteilung
durch den Vorgesetzten ermittelt wird, und drittens einem
ertragsabhängigen Bestandteil, der sich nach den Gewinnen des
jeweiligen Unternehmens richtet. Nach den Überlegungen
könnte der variable Bestandteil des Gehalts (Säulen zwei
und drei) mittelfristig bei etwa 20 Prozent liegen.
Die Arbeitgeberseite verspricht sich von solch einer leistungs-
und ertragsabhängigen Entlohnung gleich mehrere Vorteile. Da
der Beschäftigte seinen Lohn durch einen intensiveren
Arbeitseinsatz erhöhen könne, dürfte sich eine
variable Vergütung positiv auf die Produktivität und
Arbeitsleistung des einzelnen Arbeitnehmers auswirken. Neben dieser
höheren Motivation und Leistungsbereitschaft könnten auch
weniger Fehlzeiten, weniger Fluktuation, eine stärkere
Identifikation mit dem Unternehmen sowie weniger betriebsinterne
Konflikte zwischen Betriebsleitung und Belegschaft die Folge sein.
Zudem könnte eine Erfolgsbeteiligung dazu führen, dass
sich die Arbeitnehmer wechselseitig stärker kontrollieren.
Wissenschaftler, wie Hagen Lesch vom Institut der deutschen
Wirtschaft (IW), schätzen die Produktivitätssteigerung
allein durch erfolgsabhängige Bezahlung auf drei bis acht
Prozent. Besonders wichtig ist für die Unternehmer, dass sie
mit einem leistungs- und erfolgsorientierten System schneller auf
Veränderungen am Markt reagieren können. Das heißt,
sie könnten sich trotz eines bestehenden
Flächentarifvertrags relativ flexibel an regionale oder
konjunkturelle Veränderungen anpassen, also in Krisenzeiten
ohne großen Aufwand weniger zahlen.
Das Drei-Säulen-Modell der variablen Vergütung hat
allerdings einen entscheidenden Haken. "Dieses Modell im Betrieb zu
installieren und zu organisieren, ist sehr arbeitsaufwändig",
gesteht BDA-Mann Reichling ein. Besonders mittelständische
Unternehmen seien nicht gerade "wild darauf, die variable
Vergütung eins zu eins umzusetzen". Ihnen reichten häufig
schon Öffnungs- und Härtefallklauseln. Für den
Tarifexperten immerhin "ein Schritt in die richtige Richtung".
Dabei sind flexible Entgeltregelungen schon wesentlich weiter
fortgeschritten, als es die Worte des Arbeitgebervertreters
suggerieren. Längst nicht mehr nur in der beinahe
gewerkschaftsfreien IT-Branche wird mit variablen
Vergütungssystemen gearbeitet. Drei Beispiele: In
Abhängigkeit vom Unternehmenserfolg können im privaten
Bankgewerbe auf Unternehmensebene Sonderzahlungen innerhalb einer
Bandbreite von 91 bis 118 Prozent eines Monatsgehalts vereinbart
werden. Zusätzlich können ebenfalls aufgrund freiwilliger
Vereinbarungen ab September dieses Jahres 7,5 Prozent der
Jahres-Tarifgehälter nach individuellen oder teambezogenen
Leistungskriterien ausgezahlt werden.
Bei der Deutschen Telekom AG richtet sich das ergebnisbezogene
Entgelt der Arbeitnehmer nach einer Zielvereinbarung zwischen
Aufsichtsrat und Vorstand. Bei der individuellen,
leistungsbezogenen Komponente beurteilt der Vorgesetzte unter
anderem Kundenorientierung, Verhalten im sozialen Kontext,
persönlichen Einsatz, Effizienz und unter Umständen die
Mitarbeiterführung. Bewertet wird nach einer Punkteskala von
Null bis Vier.
Im öffentlichen Dienst Nordrhein-Westfalens erhalten
Arbeitnehmer für besondere Leistungen wie etwa die
Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, der
Dienstleistungsqualität, der Kundenorientierung und der
Kostendeckung, einen einmaligen Betrag von maximal zehn Prozent des
Jahreseinkommens. Das zur Verfügung stehende Volumen bemisst
sich nach der Höhe der Einnahmesteigerung oder der
Ausgabenreduzierung. Die Entscheidung trifft eine jeweils zur
Hälfte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern
zusammengesetzte Kommission.
Obwohl die Tarifparteien an all diesen Modellen aktiv mitgewirkt
haben, stößt Flexibilisierung auf Seiten der
Arbeitnehmervertreter nicht auf ungeteilte Begeis-terung. Bei einer
Befragung von Betriebsräten großer Unternehmen vor
wenigen Jahren überwog die Angst, dass sich die Arbeitnehmer
bei zunehmender variabler Vergütung mit ihren Einkommen eher
nach unten bewegen. Die neuesten Zahlen des Bundesministeriums
für Gesundheit und Soziale Sicherung scheinen dies zu belegen:
Im Vergleich zu 1991 ist das reale Bruttoinlandsprodukt
(preisbereinigt) um 18 Prozentpunkte gestiegen, während die
realen Nettolöhne und -gehälter um 1,5 Prozentpunkte
gesunken sind.
Mehr Flexibilität wird von den befragten Betriebsräten
oftmals auch mit zunehmendem Leistungsdruck gleichgesetzt.
Außerdem fällt es den Arbeitnehmern offenbar schwer
einzusehen, warum die Beschäftigten neben ihrem Risiko
entlassen zu werden, bei einer ertragsabhängigen Bezahlung nun
auch noch das Risiko falscher Management-Entscheidungen tragen
müssen. Letztlich, so zeigt sich, geht es offensichtlich eben
nicht um die eigene Motivation und mehr Spaß an der Arbeit,
sondern um Verteilungsspielräume.
Das ist bei unseren europäischen Nachbarn nicht anders.
Wohl aber der Stand der Flexibilisierung. Wie eine vergleichende
Studie des "European Industrial Relations Observatory" (EIRO) offen
gelegt hat, liegt Deutschland bei der Höhe der variablen
Lohnbestandteile am Gesamtentgelt im guten Mittelfeld. Der Anteil
beträgt hier zu Lande fünf bis 27 Prozent. Zum Vergleich:
In Österreich sind fünf bis 15 Prozent des Gehalts in der
Industrie variabel, 30 Prozent in der "New Economy"; in Finnland
beträgt dieser Satz durchschnittlich fünf Prozent; in
Frankreich, obwohl dort die Gewinnbeteiligung gesetzlich
vorgeschrieben ist, 8,2 Prozent; in den Niederlanden zehn bis 15
Prozent; in Norwegen knapp zehn Prozent; in Spanien zehn bis 20
Prozent. In Großbritannien sind es drei bis fünf Prozent
bei leistungsbezogener Vergütung und fünf bis neun
Prozent bei erfolgsorientierter Vergütung; Schweden kommt auf
einen Durchschnitt von 25 Prozent.
Wohin nun also tatsächlich die Reise in Europa und damit
letztlich auch in Deutschland führt, ist noch offen. Dass die
"Funktionärskaste" komplett entmachtet wird oder
Tarifauseinandersetzungen - begleitet von unkalkulierbaren Streiks
bei "widerspenstigen" Unternehmern - ausschließlich in den
jeweils betroffenen Betrieben ausgefochten werden, darf als
unwahrscheinlich gelten. Dafür haben Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertreter einfach zu lange positive Erfahrungen mit der
Tarifautonomie gesammelt.
Bundeskanzler Gerhard Schröder will nun eine Kommission mit
der Ausarbeitung von Reformvorschlägen zur Mitbestimmung
beauftragen. Den Vorsitz dieser Kommission soll der CDU-Politiker
Kurt Biedenkopf übernehmen. Ein Mann, der eher für
Ausgleich als für eine bedingungslos neoliberale Politik
steht.
Die Gewerkschaften müssen dennoch aufpassen, dass ihnen die
Themen Tarifautonomie und Mitbestimmung nicht aus der Hand genommen
werden. Denn die Forderung nach mehr Flexibilisierung - und nach
grundlegenden Reformen - ist bislang noch immer von der
Arbeitgeberseite ausgegangen.
Martin Teschke arbeitet als freier Journalist in Berlin.
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