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Thomas Gesterkamp
Vertrauen auf das schlechte Gewissen
Arbeitsverhältnisse ohne feste
Zeitregelung
Am Arbeitsplatz von Walter Hartmann* regiert
nicht die Stechuhr. Das Zeiterfassungssystem ist hier schon vor
Jahren verschwunden - damals gegen den Willen des Betriebsrates.
Von kurzen Kernzeiten abgesehen, können die EDV-Experten
seither kommen und gehen, wann sie wollen. Chefs und Vorgesetzte
tauchen kaum noch auf, seit sie die sogenannte
"Vertrauensarbeitszeit" eingeführt haben. Keiner kümmert
sich darum, ob die Computerfachleute hinter ihren Rechnern sitzen
oder nicht - nur sie selbst.
Hartmann und seine Kollegen werden weder
gegängelt noch bevormundet. Doch wenn jemand einen schlechten
Tag hat, wenn er sich erschöpft fühlt oder endlich mal
früher gehen will, bleibt Wichtiges liegen. Dann bekommt der
Softwareentwickler ein schlechtes Gewissen. Genießt er nicht
enorme Privilegien? Wer kann sich schon die Zeit einteilen, wie er
möchte? Spät aufstehen, morgens einkaufen, lange
Mittagspause? Alles kein Problem, nur das Projekt muss unbedingt
bis Freitag abend fertig sein - perfekt ausgefeilt, versteht
sich.
Die regelmäßige Dokumentation ihrer
Anwesenheit gehört für die meisten Beschäftigten in
deutschen Unternehmen nach wie vor zum Alltag.
Führungskräfte waren schon immer eine Ausnahme von dieser
Regel; jetzt haben auch Angestellte in mittleren Positionen
verstärkt die Möglichkeit, die "Vertrauensarbeitszeit" zu
nutzen. Das Wort klingt nach persönlichem Spielraum, in der
Praxis aber entpuppt sich das Angebot als zwiespältig. Das
Ende der Kontrolle hat seinen Preis. Mitarbeiter wie Walter
Hartmann fühlen sich getrieben, obwohl sie keiner mehr
antreibt. Sie haben ihre professionelle Leistungsorientierung tief
verinnerlicht, sie tun alles scheinbar aus freien Stücken. Die
neue Managementstrategie entfaltet ihr Regiment durch das
Verpflichtungsgefühl im Kopf jedes Einzelnen. Von "indirekter
Steuerung" spricht der Unternehmensberater und Philosoph Klaus
Peters. Für ihn geht es darum, "die Menschen vor sich selbst
zu schützen".
Irgendwas kommt immer dazwischen
Familienvater Hartmann hat schon viele
angefangene Abende, manchmal auch Teile des Wochenendes im
Unternehmen verbracht. Die Mitgliedschaft im Sportverein musste er
kündigen, weil er die festen Trainingsstunden kaum wahrnehmen
konnte. "Irgendwas Dringendes" komme immer dazwischen. "Die
Terminvorstellungen unserer Kunden sind meist illusorisch", sagt
er. Für Hobbys oder längere Auszeiten fehlt ihm einfach
die Zeit. Kaum ist die eine Sache vom Tisch, wartet schon die
nächste; oft muss er mehrere große Aufgaben "gleichzeitig
stemmen". Als Folge reicht der "lange Arm der Arbeit" weit hinein
in sein Privatleben. Der überquellende Schreibtisch spukt ihm
noch im Kopf herum, wenn er mit der Familie (was selten genug
vorkommt) zu Abend isst. Die Erzählungen seines Sohnes aus der
Schule kommentiert er mürrisch und knapp, unkonzentriert liest
er seiner Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Das Umschalten
fällt ihm schwer. Seine Gedanken schweifen ab zu einem
vergessenen Telefonat, zu jener Datei, die er vorhin nicht mehr
vollständig bearbeiten konnte. Ob er sich vielleicht gleich
noch mal eben in den Firmenrechner einloggen soll, der Computer zu
Hause ist schließlich online?
Die Zweifel, ob er die hoch gesteckten
Erwartungen seiner Vorgesetzten erfüllen kann, verfolgen ihn
manchmal bis in den Schlaf. Da schreckt er um drei Uhr nachts auf
und stellt fest, dass er berufliche Erlebnisse "abträumt".
Seine Frau schildert beim Frühstück irritiert, wie er im
Bett an einer imaginären Tastatur getippt hat. Von der
Geschäftsführung bekam Hartmann einen edlen Stift mit
eingebauter Taschenlampe geschenkt. Das praktische Utensil, so will
es der Personalleiter, soll er sich auf den Nachttisch legen -
damit sich "betriebliche" Einfälle auch zu ungewöhnlichen
Zeiten gleich schriftlich festhalten lassen.
Arbeit und Privates sind aus dem
Lot
Warum arbeiten Softwareexperten bis spät
in die Nacht - obwohl sie dazu nicht vom Chef gezwungen werden?
Warum gehen Angestellte am Wochenende in die Firma, um sich den
Dingen zu widmen, die über das Alltagsgeschäft
hinausgehen? Solche Fragen untersucht Nick Kratzer am Münchner
Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung. Kratzer
betrachtet solche Verhaltensweisen äußerst kritisch; er
analysiert sie als das Ergebnis einer betrieblichen Methode, noch
mehr aus den Mitarbeitern herauszuholen: "Die neuen Freiheiten der
Selbstorganisation von Arbeit beschränken sich oft auf das
Selbstmanagement von Überlastung." Für
"Vertrauensarbeiter" wie Walter Hartmann ist das Gleichgewicht von
Arbeit und Privatleben, die vielzitierte "Work-Life-Balance",
längst aus dem Lot geraten. Weil er gedanklich fast
ausschließlich um seine bezahlte Tätigkeit kreist,
definiert sich alles andere als eine Art Rest. Die wachsenden
betrieblichen Anforderungen kann er kaum mit seinen sonstigen
Interessen in Einklang bringen. Der Beruf verlangt ein hohes
Maß an Flexibilität, das auf familiäre Bindungen und
Freundschaften geradezu zerstörerisch wirkt. Die atemlose
Projektarbeit, wie sie in immer mehr Unternehmen üblich ist,
lässt für Hobbies oder Verpflichtungen jenseits des Jobs
kaum noch Raum. Trotz aller Selbstbestimmung ist der Dienst an der
Firma eigentlich nie zu Ende. Die gut gemeinte Rhetorik von
Arbeitsberatern oder Experten für Zeitmanagement verdeckt,
dass Beruf und Privates in zentralen Punkten weiterhin unvereinbare
Gegensätze sind. Wer sich etwa an der Versorgung von Kindern
ernsthaft beteiligen will, muss am Arbeitsplatz Kompromisse machen,
ist nicht mehr beliebig einsetzbar.
Eine beeindruckende Schilderung hat dazu die
US-Autorin Arlie Hochschild vorgelegt. In ihrem Buch "Keine Zeit"
beschreibt sie das größte Unternehmen in einer Kleinstadt
im amerikanischen Mittleren Westen. Die Firma legt großen Wert
auf die Selbstverantwortung der Beschäftigten, vermittelt
berufliche Anerkennung und offeriert Freizeit - und
Sportaktivitäten im Betrieb. Der Arbeitsplatz ist so für
beide Geschlechter, Männer wie Frauen, zum attraktiveren
Zuhause geworden. Den eigenen Nachwuchs haben die Mitarbeiter von
morgens bis abends wegorganisiert, Kinder werden zur
Verschiebemasse eines von Erwerbsarbeit dominierten Lebens. Sind
diese Verhältnisse auf Deutschland
übertragbar?
Michael Mostert von der Abteilung Tarifrecht
und Humanisierung der IG Bergbau-Chemie-Energie glaubt das nicht.
Er hält die Debatte um die Vertrauensarbeitszeit ohnehin
für "ideologisch aufgeladen". In den von seiner Gewerkschaft
vertretenen Branchen werde von diesem Instrument bisher "wenig
Gebrauch gemacht". Bedeutsam sei dieses Arbeitszeitmodell nur "bei
AT-Angestellten", also außertariflich bezahlten Mitarbeitern.
"In der Produktion", also in den Montagehallen oder an den
Fließbändern, aber auch in vielen Bürojobs
könne von einer Abschaffung der Zeitkontrollen keine Rede
sein. Immerhin existieren in einigen Unternehmen, etwa bei der
Deutschen Shell oder im Chemiekonzern Novartis, inzwischen erste
Betriebsvereinbarungen zur Vertrauensarbeitszeit. Rainer Trinczek,
der dazu an der Technischen Universität München forscht,
hält eine solche "betriebliche Regulierung" für sinnvoll.
Die "individuelle Arbeitszeitfreiheit" müsse als Teil der
Unternehmenskultur anerkannt sein - und sich in den Köpfen der
betroffenen Mitarbeiter als "normative Orientierung"
festsetzen.
Maßlose Erwartungen
"Maßlose Profiterwartungen, maßlose
Zielvorgaben, maßlose Anforderungen": So beschreibt Wilfried
Glißmann das Rädchen, in dem sich seine Kollegen drehen.
Der Betriebsrat regte in der Düsseldorfer Niederlassung von
IBM intensive Debatten über die "Arbeit ohne Ende" an - und
stieß auf unerwartet große Resonanz. Zusammen mit der IG
Metall startete er daraufhin die Initiative "Meine Zeit ist mein
Leben", die weit über gewerkschaftliche Kreise hinaus Anklang
fand. Die Aktivisten verteilten "Zeitkarten" im Unternehmen, auf
denen Fragen wie diese beantwortet werden sollten: "Wie viele
Stunden des heutigen Tages habe ich mit Arbeit verbracht? Wie viele
Stunden hatte ich für mich selbst?" Nach und nach wurde den
Mitarbeitern klar, dass die Ursache ihrer Erschöpfung
keineswegs in ihrer persönlicher Unfähigkeit liegt. Sie
brachten den nur scheinbar privaten "Terror der Seele" an die
Öffentlichkeit - und versuchten, zusammen mit ihren Kollegen
gegen überzogene Arbeitsanforderungen anzugehen.
Auch Walter Hartmann versucht, sein Leben zu
ändern. Nach einigen Ehekrächen hat er sich vorgenommen,
seinen Heim-PC nur noch in ganz dringenden Fällen für
berufliche Zwecke zu nutzen. Sein Mobiltelefon bleibt abends und am
Wochenende grundsätzlich stumm. "Ich habe gemerkt, dass ich zu
Hause bisweilen nur noch körperlich anwesend war", berichtet
er selbstkritisch. Jetzt will er klare Grenzen ziehen und sich von
der tückischen Vertrauensarbeitszeit nicht weiter in die Enge
treiben lassen: "Ich möchte einfach wieder mehr Raum für
meine Familie und für persönliche Interessen
haben."
* Name geändert
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