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Thomas Gesterkamp
Kurze Vollzeit für alle
Die 40-Stunden-Woche ist
unrealistisch
Die steigende weibliche Erwerbsbeteiligung ist der wichtigste
gesellschaftliche Wandel seit der Industrialisierung. Vor dem
Hintergrund gleicher oder sogar besserer Bildungsabschlüsse
betrachten Frauen ihre bezahlte Tätigkeit nicht mehr als
kurzes Intermezzo vor Heirat und Familiengründung. Doch
Vollzeit-Erwerbsarbeit für beide Geschlechter hat es zumindest
in Westdeutschland nie gegeben. In der politischen Debatte ist
dieser "Gender"-Konflikt erstaunlicherweise fast nie ein Thema.
Zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme fallen den
Meinungsführern stets die gleichen Rezepte ein. In der Krise
des einst Bewährten propagieren sie schlicht das Bewährte
als Antwort auf die Krise. Jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt, wir steigern das Bruttosozialpodukt! Der ehemalige
NRW-Ministerpräsident Steinbrück hat seinen Beamten
unbezahlte Überstunden verordnet, sein bayerischer Kollege
Stoiber will alle Deutschen künftig zwei bis drei
Wochenstunden länger arbeiten lassen. Die CDU-Vorsitzende
Merkel möchte die kürzeren West-Arbeitszeiten den
längeren Ost-Standards anpassen - bei gleichem Lohn, versteht
sich. Wirtschaftsminister Clement denkt laut, und von seinen
PR-Strategen gezielt vor "Brückentagen-Wochenenden" platziert,
über die Streichung von Feiertagen nach. Kanzler Schröder
schimpft im Stil seines Vorgängers Kohl ("Freizeitpark
Deutschland") über "glückliche Arbeitslose". Am Kern des
Problems gehen alle diese Äußerungen vorbei.
Keine Entlastung
Die Strukturen am Arbeitsmarkt lassen, überspitzt
formuliert, nur die Wahl zwischen Alles oder Nichts. Millionen
Erwerbslose finden nichts schlimmer als die ihnen unbegrenzt zur
Verfügung stehende freie Zeit; parallel klagen viele
Arbeitnehmer über Zeitnot und Stress ohne Ende. Das
Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte drückt sich in
überflüssigen Arbeitskräften aus, nicht in
Zeitwohlstand. Aber haben die Gewerkschaften nicht
flächendeckende Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt?
Gehört Papi nicht samstags längst seinen Kindern - wenn
er nicht gerade das Auto wäscht oder die Bundesliga
verfolgt?
Betrachtet man statt der individuellen Arbeitszeit die von
Paaren und Familien, kann von Entlastung keine Rede sein. Der
Bremer Hochschullehrer Helmut Spitzley hat das auf einfache Weise
vorgerechnet. Wenn 1960 "der Mann beispielsweise 44 Stunden pro
Woche erwerbstätig war und die Frau ihre Leistungen auf
Haushalt und Kinder konzentrierte, betrug die Erwerbstätigkeit
von Mann und Frau zusammengenommen: 44 Wochenstunden". Eine
Generation später sind die fürsorglichen Gattinen von
einst ebenfalls berufstätig, überwiegend in Teilzeit. Die
Arbeitszeit eines durchschnittlichen Paares betrage nun "38 + 20 =
58 Wochenstunden", addiert Spitzley. Sie liege damit trotz
individueller Verkürzung "deutlich höher als in der
Generation unserer Eltern".
Die in der Rückschau idealisierte "Vollbeschäftigung"
der 60er-Jahre war eine Vollbeschäftigung für
Männer, die darauf beruhte, dass Frauen zu Hause blieben.
Heute muss das politische Ziel anders definiert werden. Appelle an
die gute alte Zeit, die zur Mehrarbeit aufforden, sind dabei wenig
hilfreich. Ein neuer Arbeitszeit-Standard kann nicht bei 38 oder
gar über 40 Stunden liegen, sondern bestenfalls bei 30, eher
bei 25 Wochenstunden. Erst wenn in späteren Jahren wegen des
demografischen Wandels "tatsächlich wieder mehr
Erwerbsarbeitsplätze angeboten würden als nachgefragt
werden, wäre ein gesellschaftlicher Diskurs darüber
sinnvoll, ob die Normalarbeitszeit länger sein könnte
oder müsste", argumentiert Arbeitswissenschaftler
Spitzley.
Keine Lösung mit dem Rasenmäher
Die "kurze Vollzeit für alle" wäre keine starre Norm,
sondern eine Art Durchschnittswert, der je nach persönlichen
Wünschen, biografischer Situation und wirtschaftlichen
Verhältnissen flexibel gewählt werden kann. Ein Umdenken
bedeutet das auch für die Gewerkschaften, die bisher
einförmige "Rasenmäher-Lösungen" bevorzugten. Nur
unter dem Druck drohender Entlassungen stimmten sie in der
Vergangenheit Verkürzungen mit Teillohnausgleich wie der (im
Kern weiterhin gültigen) 28,8-Stunden-Woche bei VW zu. Der
Familienlohn für den männlichen Ernährer spukt
weiter durch die Tarifverhandlungen. Natürlich gibt es
Menschen mit so niedrigem Verdienst, dass Wenigerarbeiten nicht in
Frage kommt. Auch viele Alleinlebende und Alleinerziehende haben
geringe Spielräume, auf Geld zu verzichten, weil sie sich
nicht auf einen zweiten Verdiener stützen können.
Im Kern aber geht es um eine andere Verteilung - zwischen
Arbeitslosen und Beschäftigten, zwischen Wenig- und
Vielarbeitern, zwischen Männern und Frauen. Dass Väter
sich mehr um ihre Kinder kümmern, Mütter genauso
selbstverständlich einer bezahlten Tätigkeit nachgehen
können - von diesem Ziel ist die deutsche Gesellschaft weit
entfernt. Der Alleinverdiener, der den Haushalt samt
Kindererziehung an seine nicht oder nur geringfügig
erwerbstätige Partnerin delegiert hat, ist immer noch ein weit
verbreitetes Arrangement. Wünsche, wie sie in Umfragen oder
Untersuchungen geäußert werden, und faktisches Verhalten
liegen weit auseinander.
Ein Schritt zur Gleichstellung der Geschlechter in diesem Sinne
wären kürzere Arbeitszeiten für alle. Viele (vor
allem männliche) Arbeitnehmer arbeiten deutlich länger
als die tariflich vereinbarten 35, 37 oder 40 Stunden pro Woche.
Solche Mehrarbeit muss nicht auch noch mit Zuschlägen belohnt
werden. Man könnte sie auch stärker besteuern oder auf
andere Weise unattraktiv machen: etwa, indem Überstunden
verbindlich nur noch in Form von Freizeitausgleich verrechnet
werden dürfen. Eine Aufgabe der Gewerkschaften würde
sein, auch in den eigenen Reihen Solidarität sowohl im
Geschlechterverhältnis als auch gegenüber Menschen ohne
Erwerbsarbeit einzufordern.
Als die IG Metall vor 20 Jahren ihre Kampagne zur
35-Stunden-Woche startete, brachten vom Feminismus beeinflusste
Gewerkschafterinnen die Idee des "Sechs-Stunden-Tages" ein. Sich
durch geringere Arbeitszeiten spürbar vom beruflichen Druck zu
entlasten, ist keine altmodische Forderung, wie Politiker und
Verbandsfunktionäre immer wieder behaupten. Die Arbeitnehmer
brauchen garantierte private Freiräume, und das jeden Tag -
und keine Zeitmodelle, die auf "Schuften ohne Pause", jahrelangen
60-Stunden-Wochen und dann der verfrühten Rente mit 55
basieren. Die Arbeitsschützer sind sich darüber einig,
dass Menschen maximal drei bis vier Stunden pro Tag
Spitzenleistungen erbringen können. Was Unternehmensberater
mit ihren "Lebensarbeitszeit-Konten" propagieren, führt in die
falsche Richtung: Zeitwohlstand lässt sich nicht biografisch
vertagen.
Alexandra Wagner vom Institut Arbeit und Technik in
Gelsenkirchen schlägt ein "neues Normalarbeitsverhältnis"
vor, das beiden Geschlechtern einen gleichberechtigten Zugang zum
Erwerbsleben ermöglichen soll. Die wichtigsten Bestandteile
eines solchen Pakets sind für die Wissenschaftlerin
kürzere Arbeitszeiten, eine eigenständige soziale
Sicherung für Frauen und die Ausdehnung der
Versicherungspflicht auf Selbstständige und Beamte. Die neue
Norm, so Wagner, bedeute "nicht Konformität, sondern muss
vielmehr der Bezugspunkt für sich ausdifferenzierende
Lebensformen sein".
Vor allem jüngere Menschen durchlaufen heute einen
berufsbiografischen Zickzackkurs. Die alten, männlich
geprägten Arbeitskonzepte einer "Vollzeit ohne Unterbrechung
bis zur Rente" sind für sie Vergangenheit. An ihre Stelle
tritt ein buntes Patchwork aus Teilzeitjobs, befristeter
Beschäftigung, unbezahlten Praktika, erzwungenen Pausen durch
Arbeitslosigkeit, aber auch freiwilligen Unterbrechungen der
Berufsbiografie für Weiterbildung, Reisen oder Familienarbeit.
Die Abweichler von der alten Norm benötigen "Flexicurity", wie
das englische Kunstwort lautet: eine Mischung aus Beweglichkeit und
Verlässlichkeit, die Brücken baut zwischen
verschiedenartigen Arbeitsverhältnissen und unstete
Erwerbsverläufe finanziell ausgleicht.
In diesem Sinne hat Sozialpolitik in einer sich wandelnden
Arbeitsgesellschaft die Aufgabe, "Normalität" neu zu
bestimmen: Sie sollte eine Kombination aus Flexibilität und
Sicherheitsversprechen entwickeln, die individuelle Spielräume
und Wahlfreiheiten zulässt, diese aber dennoch sozial
flankiert.
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