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Nico Fickinger
Sesam, öffne dich
Der Streit zwischen BDI und BDA
Breite Straße 29, 10178 Berlin: Diese Adresse teilen sich
die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA),
der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Einträchtig residieren
die drei Spitzenverbände im Haus der Deutschen Wirtschaft
nebeneinander. Doch wenn es um die Tarifautonomie geht, ist es mit
der friedlichen Koexistenz rasch vorbei.
Immer wieder überziehen die "Falken" des BDI die "Tauben"
der BDA mit harschester Kritik: Die Tarifparteien seien ihrer
arbeitsmarktpolitischen Verantwortung "in den letzten Jahrzehnten
nicht im notwendigen Maß gerecht geworden", urteilt der
Industrie- über den Arbeitgeberverband. Die
Tarifabschlüsse seien erstens zu hoch und gäben zweitens
den Betriebsparteien nicht genug Flexibilität, um bestehende
Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen, rügt der
BDI, der selbst nicht am Verhandlungstisch sitzt und daher klare
Worte bis hin zur gezielten Provokation nicht zu scheuen braucht.
Die bisher polemischs-te Schmähung nahm sich Ex-Präsident
Michael Rogowski heraus, als er im Oktober 2003 vor der
amerikanischen Handelskammer in Stuttgart verkündete: "Ich
wünsche mir manchmal ein großes Lagerfeuer, um das
Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge
hineinzuwerfen. Danach könnte man einfach wieder von vorn
anfangen." Als Verfechter einer radikalen Tariföffnung nimmt
der BDI weder Rücksicht auf die Reaktion der Gewerkschaften
noch auf die Befindlichkeiten des Schwesterverbandes BDA. Er ist
sogar bereit, die vom Grundgesetz garantierte Tarifautonomie
insgesamt zur Disposition zu stellen, falls diese ihren Zweck,
für Vollbeschäftigung zu sorgen, nicht mehr erfüllt.
Zwar seien zunächst die Tarifvertragsparteien "in der Pflicht,
durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln den betrieblichen
Gestaltungsspielraum zu erweitern". Doch sollte dies "nicht im
notwendigen Umfang zum Erfolg führen, ist der Gesetzgeber
gefordert".
"Kontrollierte Dezentralisierung"
Die BDA teilt diese Position ausdrücklich nicht, und dass
die Verfechter einer unkonditionierten Tariföffnung so viel
öffentliche Aufmerksamkeit finden, schmerzt die Arbeitgeber -
nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil sie von der Richtigkeit ihres
Kurses überzeugt sind. Zwar plädieren auch sie für
eine stärkere Dezentralisierung, auch sie wollen den
Geschäftsführungen, Betriebsräten und Belegschaften
mehr Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten
einräumen, doch möchten sie gerne die Zügel in der
Hand behalten und sich ihr Vetorecht nicht nehmen lassen.
"Kontrollierte Dezentralisierung" lautet daher das Stichwort: Vom
Flächentarifvertrag abweichende betriebliche Vereinbarungen
über Löhne und Arbeitszeiten sollen zulässig sein,
aber nicht durch eine generelle Ermächtigung des Gesetzgebers,
sondern nur innerhalb des Rahmens, den die Verbände den
Betriebsparteien vorgeben.
Die Arbeitgeber fürchten nämlich, dass die Lohnfindung
außer Kontrolle geraten könnte, wenn sie zu stark
dezentralisiert würde. Zuviel Macht in den Händen der
Betriebsräte weckt bei ihnen ungute Erinnerungen an die
Warnstreiks der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Eisenbahner.
Nach dem gleichen Muster könnten auch die Mitarbeiter anderer
sensibler Einrichtungen - von Rechenzentren bis zur
Flughafenfeuerwehr - für sich Sonderkonditionen erstreiken,
fürchten die Arbeitgeber. Eine "Balkanisierung der
Tarifpolitik" und höhere Lohnsteigerungen wären die
Folge. Diese Entwicklung könnte noch durch den Umstand
verschärft werden, dass im Jahr 2006 wieder Betriebsratswahlen
anstehen, was die Begehrlichkeit und die Kampfeslust der
Belegschaftsvertreter zusätzlich in die Höhe treiben
dürfte. Daher wollen die Arbeitgeber die Betriebsparteien
lieber an der langen Leine führen.
Das ist auch im Interesse der Gewerkschaften, die am liebsten
alle Unternehmen unter den Flächentarif zwingen und nur ungern
Einfluss an die Betriebsräte abgeben möchten. Zudem
wären die vielen "Häuserkämpfe" nur mit hohem
Verwaltungs- und Personalaufwand zu koordinieren. Sogar den
Betriebsräten selbst kommt das Mitspracherecht der
Gewerkschaft bisweilen gelegen; in Notlagen können sie dann
die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen den
hauptamtlichen Funktionären in die Schuhe schieben. Es
überrascht daher nicht, dass das Kartell der Sozialpartner im
Vermittlungsverfahren im Dezember 2003 erfolgreich die von der
Opposition geforderte gesetzliche Öffnung der
Flächentarifverträge verhindert hat.
Auch tarifliche Öffnungsklauseln lassen sich die
Gewerkschaften nur widerstrebend abhandeln. Ohne Druck von
außen geht meist gar nichts. Doch mittlerweile weisen die
Tarifverträge eine Vielzahl von
Öffnungsmöglichkeiten auf. Das größte Spektrum
bietet die chemische Industrie. Hier hat die IG
Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE) unter anderem einer
ergebnisabhängigen Schwankung des Weihnachtsgeldes zwischen 80
und 125 Prozent eines Monatsgehalts zugestimmt, Lohnkürzungen
von zehn Prozent zum Erhalt von Arbeitsplätzen und
Wettbewerbsfähigkeit gestattet sowie Berufsanfängern und
Langzeitarbeitslosen abgesenkte Einstiegstarife von 95 und 90
Prozent zugestanden. Die IG Metall geht zögerlicher ans Werk.
Wurden in früheren Jahren Abweichungen vom Flächentarif
nur in Sanierungsfällen zur Beschäftigungssicherung
zugelassen, so ist seit dem Abschluss von Pforzheim in der Metall-
und Elektroindustrie eine Tariföffnung immerhin auch zum
Erhalt und zur Verbesserung "der Innovationsfähigkeit und der
Investitionsbedingungen" möglich. Durch eine besondere
Tariföffnung hat auch die Bauwirtschaft schon von sich reden
gemacht. Zwar betrifft diese nur das Weihnachtsgeld, das auf einen
Mindestbetrag gesenkt werden kann. Doch stellt die IG
Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) hierfür keine Bedingungen, sondern
lässt den Betriebsparteien freie Hand.
Nico Fickinger ist Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"
in Berlin.
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