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Jörg Kürschner
Neuwahlen nur nach Vertrauensfrage
Das Grundgesetz sieht nur zwei
Möglichkeiten zur Auflösung des Deutschen Bundestages
vor
Der frühere Vorsitzende der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rainer Barzel, war voll des Lobes
über Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Mit der
Entscheidung, Neuwahlen herbeizuführen, habe der
Regierungschef ehrenwert und zum Wohle des Landes gehandelt, befand
Barzel. Schröder wolle nicht der Bundeskanzler sein, der die
Rückkehr zu Weimarer Verhältnissen begünstigt habe.
"Jetzt kommt nach dem Gewürge in Berlin endlich wieder die
Demokratie zum Zuge", sagte der einstige
Bundestagspräsident.
Barzel weiß wovon er spricht. Der
langjährige Parlamentarier war mehrfach unmittelbarer Zeuge
als im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt wurde. Das
Grundgesetz (GG) sieht zwei Möglichkeiten vor, um eine
Wahlperiode vorzeitig zu beenden: eine als "misslungen" anzusehende
Wahl eines Kanzlers erst im dritten Wahlgang und die
Vertrauensfrage. Die Kanzlerwahl regelt die Verfassung in Artikel
63. Erhält ein Kanzlerkandidat auch im dritten Wahlgang nicht
die absolute Mehrheit des Parlaments, kann der Bundespräsident
den Bundestag auflösen.
In den kommenden Wochen - spätestens am
1. Juli 2005 - wird es aber zum zweiten Fall kommen - der
Vertrauensfrage. Diese ist in Artikel 68 geregelt: "Findet ein
Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht
die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann
der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen
einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur
Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit
seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. Zwischen
dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden
liegen." Danach muss der Bundestag gemäß Artikel 39
Grundgesetz innerhalb von 60 Tagen neu gewählt
werden.
In der 56-jährigen Geschichte der
Bundesrepublik haben bisher vier Kanzler die Vertrauensfrage
gestellt. Als erster Regierungschef machte Bundeskanzler Willy
Brandt am 20. September 1972 von dieser Möglichkeit in der
erklärten Absicht Gebrauch, der Bundestag möge ihm das
Misstrauen aussprechen. Der SPD-Politiker hatte kurz zuvor ein
konstruktives Misstrauensvotum der Union mit dem Kanzlerkandidaten
Barzel überstanden, aber nach einigen Partei- und
Fraktionsübertritten im Parlament keine Mehrheit mehr. Brandt
verlor mit 233 zu 248 Stimmen. SPD und FDP gewannen aber die
nachfolgende Bundestagswahl am 19. November 1972 mit 45,8
beziehungsweise 8,4 Prozent der Zweitstimmen.
Zehn Jahre später, am 5. Februar 1982,
stellte Brandts Amtsnachfolger Helmut Schmidt (SPD) die
Vertrauensfrage, nachdem in der sozialliberalen Koalition
erhebliche wirtschafts- und beschäftigungspolitische
Differenzen aufgetreten waren. Schmidt erhielt mit 269 zu 224
Stimmen einen Vertrauensbeweis und wurde damit zunächst
bestätigt. Noch im selben Jahr allerdings brach dieses
Regierungsbündnis. Zur Ablösung Schmidts durch Helmut
Kohl führte aber nicht die Vertrauensfrage. CDU/CSU und FDP
machten stattdessen von dem Instrument des konstruktiven
Misstrauensvotums Gebrauch (Artikel 67 GG): Sie schlugen den
CDU-Politiker dem Parlament als Kanzlerkandidaten vor, den dieses
am 1. Oktober 1982 denn auch mit 265 zu 235 Stimmen
wählte.
Aber Kohl stellte am 17. Dezember die
Vertrauensfrage in der erklärten Absicht, der Bundestag
möge ihm das Misstrauen aussprechen. Kohl "verlor" mit 8 zu
218 Stimmen, weil 248 Unions- und FDP-Abgeordnete sich enthielten.
Auf diese Weise wurden Neuwahlen herbeigeführt. Die neue
Koalition aus CDU/CSU und FDP war sich sicher, dass sie die
Bundestagswahl gewinnen würde und wollte sich so vom Volk
legitimieren lassen. Das geschah bei der Wahl am 6. März 1983
auch. CDU/CSU und FDP erhielten 48,8 und 7,0 Prozent der
Wählerstimmen.
Das Instrument der Vertrauensfrage hat
Gerhard Schröder bereits am 16. November 2001 genutzt, um den
Bundeswehreinsatz im Anti-Terror-Kampf durchzusetzen. Der Kanzler
erhielt für die verknüpften Anträge 336 Stimmen und
damit nur zwei mehr als die erforderliche Kanzlermehrheit. Der
Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen legte damals erst
unmittelbar vor der Plenarsitzung das Abstimmungsverhalten fest.
Vier der ursprünglich acht Gegner des Bundeswehreinsatzes
schwenkten um und entschieden sich für ein positives Votum.
Die 293 SPD-Abgeordneten unterstützten den Kanzler
geschlossen.
In der Politik und Rechtswissenschaft
höchst umstritten war die Vertrauensfrage des Kanzlers Kohl
Ende 1982. Bei der Wende von der sozialliberalen Koalition hin zu
einem schwarz-gelben Bündnis war von "Manipulation" und einer
"Überdehnung der Verfassung" die Rede. Vier Abgeordnete
klagten damals gegen die Parlamentsauflösung vor dem
Bundesverfassungsgericht.
Auch dieses Mal könnte es wieder soweit
kommen. Der Vize-Fraktionschef der Grünen, Christian
Ströbele, sagte: "Ich gehe davon aus, dass einige
Parlamentarier nach Karlsruhe gehen. Schließlich sind wir
für vier Jahre gewählt und nicht für drei." Es gebe
zu viele verfassungsrechtliche Komponenten, die in
fragwürdiger Form von Kanzler Schröder übergangen
würden. Der arbeits- und wirtschaftspolitische Sprecher der
SPD-Fraktion, Klaus Brandner, äußerte: "Ich kann mir
vorstellen, dass einzelne Abgeordnete diesen Weg wählen. Ich
gehe aber davon aus, dass er nicht erfolgreich sein
wird."
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar
1983 mit Blick auf die Vertrauensfrage Kohls entschieden: "Der
Bundeskanzler (…) soll dieses Verfahren nur anstrengen
dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr
gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden
Kräfteverhältnissen weiter zu regieren." Eine
Auflösung des Bundestags mit Hilfe eines nicht echten
Misstrauensvotums sei nur mit einer politischen Ausnahmesituation
zu begründen. Die habe 1982/83 vorgelegen. Die Auflösung
des Parlaments mit einer vom Kanzler gestellten Vertrauensfrage
setze "eine politische Lage der Instabilität" voraus. Das
höchste deutsche Gericht stellte aber auch klar: Besondere
Schwierigkeiten der Aufgaben in einer laufenden Legislaturperiode
oder die Forderung des Kanzlers nach Bestätigung seiner
Legitimität rechtfertigten die Auflösung des Bundestags
nicht. Es sei unzulässig, die Vertrauensfrage bei
ausreichenden Mehrheiten zu stellen, nur um Neuwahlen einzuleiten.
Die Entscheidung des Gerichts fiel sehr knapp aus. Drei Richter
gaben Sondervoten ab.
Der damalige Bundespräsident Karl
Carstens, selbst ein anerkannter Staatsrechtler, hatte sich
seinerzeit schwer getan mit dem Votum des Bundestages und erst drei
Wochen nach der Abstimmung den Bundestag aufgelöst und eine
Neuwahl angesetzt. Es seien "die schwierigsten Wochen" seiner
Amtszeit gewesen, bekannte er später. Eine ähnlich
komplizierte Entscheidungsfindung kommt nun, 22 Jahre später,
auf Bundespräsident Horst Köhler zu. Einstweilen gibt er
sich noch bedeckt. Präsidialsprecher Martin Kothé
erklärte auf Anfrage, Köhler habe sich noch keine Meinung
gebildet, wie er auf den zu erwartenden Antrag auf Auflösung
des Bundestages reagieren wird. "Der Bundespräsident wird eine
sorgfältige Prüfung der Lage vornehmen, sobald dies nach
den Umständen erforderlich wird."
Inzwischen hat sich aber eine Reihe von
Verfassungsrechtlern zu Wort gemeldet, die die Zulässigkeit
der angestrebten Vertrauensfrage unterschiedlich bewerteten.
Skeptisch äußerte sich der Berliner Staatsrechtler
Christian Pestalozza. "Ich sehe nicht, wie das vor dem
Bundesverfassungsgericht durchkommen sollte." 1983 habe das
Verfassungsgericht klargestellt, dass eine Auflösung des
Bundestages nicht in Betracht komme, nur weil es gewissermaßen
Schwierigkeiten im Land gebe. Im Bundesrat habe sich zudem nach der
Wahl in Nordrhein-Westfalen qualitativ nichts verändert. Die
Regierung wolle sich nach den Einbrüchen bei den
Landtagswahlen eine Legitimation auf Bundesebene holen. Das sei
aber nicht der Fall, für den der Artikel 68 vorgesehen sei,
betonte Pestalozza.
Der Münchner Verfassungsexperte Peter
Huber hat dagegen weniger Bedenken. "Die Entscheidung ist zwar hart
an der verfassungsrechtlichen Grenze, ist aber noch legal". Zwar
dürfte der Bundeskanzler nach dem Grundgesetz die für
eine vorgezogene Neuwahl erforderliche Vertrauensfrage nur stellen,
wenn er die Mehrheit im Bundestag verliere. Das sei nach der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall. "Es besteht
jetzt jedoch ohne Zweifel eine politische Krise", sagte Huber. Denn
es sei sehr zweifelhaft, ob die Regierung angesichts der Mehrheiten
im Bundesrat bis zur turnusmäßigen Bundestagswahl 2006
weiter arbeiten könne. Aus Hubers Sicht gleicht die jetzige
Lage der im Jahr 1983.
Für den früheren Verfassungsrichter
Hans Hugo Klein stellt die Neuwahl verfassungsrechtlich kein
großes Problem dar. Heikel wäre nur, wenn die
SPD-Fraktion Schröder erst ihr Vertrauen verweigern und ihn
die Partei dann sofort als Spitzenkandidaten küren würde.
Andere Möglichkeiten, etwa eine Stimmenthaltung der
Grünen, seien dagegen verfassungsrechtlich sauber - ebenso wie
die Freigabe des Votums.
Eine Hand voll SPD-Abgeordneter sei mit
diesem Bundeskanzler unzufrieden. "Wenn man es denen
überlässt, reinen Herzens abzustimmen, wird kein
Verfassungsgericht daran Anstoß nehmen", meinte
Klein.
Verfassungsrechtliche Vorgaben
Längst haben bei SPD und Grünen
Überlegungen eingesetzt, wie die Vertrauensfrage rechtlich
glaubwürdig und ohne politische Beschädigung des Kanzlers
gestellt werden kann. "Wie und in welcher Form er die
Vertrauensfrage stellen wird, wird der Bundeskanzler zu gegebener
Zeit selbst darstellen", betonte Regierungssprecher Béla Anda.
Denn es wird spekuliert, dass Schröder die Vertrauensfrage
wegen verfassungsrechtlicher Bedenken in Zusammenhang mit einem
konkreten Antrag wie der Unternehmenssteuerreform entscheiden will.
Gleichzeitig wies der Regierungssprecher darauf hin, dass
Schröder bei den Reformen 25 Mal die Kanzlermehrheit im
Bundestag erreicht habe. Dies sei "ein Zeichen für den
Rückhalt, den der Bundeskanzler in der Fraktion
genießt".
Erneut wird also die Schwierigkeit deutlich,
verfassungsrechtliche Vorgaben und politische Erwägungen in
Einklang zu bringen. Deshalb haben Staatsrechtler eine
Grundgesetzänderung ins Gespräch gebracht, die dem
Bundestag das Recht zur Selbstauflösung gäbe. Der Bonner
Staatsrechtler Josef Isensee warnt vor einem "schmierigen Umweg"
über die Vertrauensfrage und argumentiert, "wenn alle Parteien
die Selbstauflösung des Bundestages wollen, wäre es
gerader und ehrlicher, ein solches Recht zu schaffen". Zum Schutz
kleinerer Parteien sei dafür eine hohe Hürde nötig,
"wenigstens eine Dreiviertel-, eher noch eine
Vierfünftelmehrheit" des Parlaments.
Ähnlicher Ansicht ist Isensees Kollege
Hans-Peter Schneider aus Hannover: "Das ganze Verfahren hat den
Geruch der Manipulation und schadet der Demokratie." Der Weg zu
einer Neuwahl über die Vertrauensfrage sei nicht risikofrei.
Stattdessen sollten sich die Parteien sehr schnell auf eine
Verfassungsänderung verständigen und dem Bundestag das
Recht einräumen, sich mit Zweidrittelmehrheit selbst
aufzulösen. Der Bundespräsident würde dann auch
nicht mehr in Verlegenheit gebracht wie seinerzeit
Carstens.
Dieser hatte 1983 darauf hingewiesen, dass
die Fraktionen eine Änderung des Grundgesetzes erwogen,
letztlich aber verworfen hätten. Bis in die Gegenwart wird an
die Weimarer Reichsverfassung erinnert, die dem
Reichspräsidenten ein nahezu unbegrenztes Recht zur
Auflösung des Parlaments eingeräumt hatte. Einer
Vertrauensfrage oder einem entsprechenden Antrag des Kanzlers
bedurfte es nicht. Die Folge war, dass zwischen 1919 und 1933 kein
Reichstag über die volle Wahlperiode amtiert hat. Der
Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948/49 beraten hat,
wollte deshalb die Auflösung des Bundestages auf ganz wenige
Fälle beschränken. Nach Schneiders Auffassung hat sich
die Bundesrepublik seitdem als stabiler und demokratischer
Rechtsstaat bewährt; ein Selbstauflösungsrecht des
Bundestages sei damit vertretbar.
Die Möglichkeit einer
Verfassungsänderung wird von Koalitions- und
Oppositionspolitikern kaum thematisiert. Bundesjustizministerin
Brigitte Zypries (SPD) erklärte, der Kanzler könne
"deutlich besser" begründen, dass er für seine Politik
keine Mehrheit mehr hat, als Kohl 1982/83. Dieser habe damals
über eine "satte Mehrheit" verfügt, gleichwohl habe das
Bundesverfassungsgericht seinen Schritt gebilligt.
SPD-Partei- und Fraktionschef Franz
Müntefering gab sich zurückhaltend. "Das ist nicht meine
Sache, darauf eine Antwort zu geben." Politiker von CDU/CSU und FDP
halten sich ebenfalls bedeckt, verweisen darauf, dass die
Vertrauensfrage Sache des Kanzlers und der Koalition insgesamt sei.
Der ehemalige Bundespräsident Scheel vertrat die Ansicht, dass
Staatsoberhaupt Horst Köhler der vorgezogenen Neuwahl trotz
verfassungsrechtlicher Bedenken zustimmen werde. Im Vergleich zu
der 1982 von Helmut Kohl durchgesetzten Vertrauensfrage sei die
Situation heute nicht so schwierig. Denn alle Seiten seien
gegenwärtig der Meinung, dass Neuwahlen die richtige
Lösung seien.
Bundespräsident Köhler rückt
somit schon bald ins Zentrum der Politik. Der Kandidat, der vor
einem Jahr von Union und FDP gewählt wurde und sich bereits
dem Vorwurf fehlender parteipolitischer Neutralität ausgesetzt
sah, muss entscheiden, ob der Bundestag neu gewählt werden
soll oder nicht. Stellt Gerhard Schröder, wie allgemein
erwartet wird, die Vertrauensfrage am 1. Juli, hat Köhler 21
Tage Zeit für seine Entscheidung, also bis zum 22. Juli.
Spätestens nach 60 Tagen müsste dann neu gewählt
werden. Damit würde der 18. September als Wahltermin immer
wahrscheinlicher, da dann die Sommerferien in allen 16
Bundesländern beendet sind. Bis zum Zusammentritt eines neuen
Bundestages bliebe die Regierung Schröder/Fischer
geschäftsführend im Amt.
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