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Jonas Viering
Schlechter Ruf, aber gute Noten
Auch innerhalb der Tarifautonomie ist Raum
für Flexibilität
Das Tarifsystem ist umstritten wie nie. Die
Gewerkschaften ruinieren mit Lohndiktaten den Wirtschaftsstandort,
so empören sich viele Unternehmer und Ökonomen. Die
Aushandlungsverfahren funktionieren sehr gut, kontern
Arbeitsrichter und Gewerkschaften. Beide Seiten rüsten zur
Entscheidungsschlacht: Die CDU/CSU hat für den Fall eines
Wahlsiegs 2006 Konzepte in der Schublade, die die so genannte
Tarifautonomie der Gewerkschaften einschränken würde -
Betriebsrat und Arbeitgeber sollen vom Tarifvertrag abweichen
können, also die Entgelte senken oder die Arbeitszeit
verlängern, um Entlassungen oder die Verlagerung ins Ausland
zu verhindern. "Betriebliche Bündnisse für Arbeit", so
wird das genannt. IG Metall und Verdi sprechen von Erpressung.
Einst galt der Flächentarif als
Friedensformel. Als "Verrat am Klassenkampf" geißelten dies
manche Gewerkschafter, so ist es in Schriften von 1893 noch zu
lesen. Zwanzig Jahre zuvor war von den Buchdruckern der erste echte
Flächentarifvertrag in Deutschland abgeschlossen worden.
Damals hatten nach erbitterten Streiks auch die Arbeitgeber
Interesse an Ruhe im Betrieb; zudem schätzten sie es, dass
einheitliche Löhne den Preiskampf mäßigten. Heute
wird dies als "Tarifkartell" beschimpft: Gewerkschaften und auch
manche Arbeitgeber wollten den allein heilsamen Wettbewerb
einschränken, so die Grundsatzkritik. Zu starr, zu teuer, ein
Zwangssystem sei der Flächentarif - das blockiere
Jobs.
Dabei ist die Tarifautonomie besser als ihr
Ruf. Sie hat die nötige Zunahme von Flexibilität nicht
verhindert: In dem Schlüsselsektor Metallindustrie
vereinbarten im vergangenen Jahr Arbeitgeber und Gewerkschaft im
nun schon berühmten Vertrag von Pforzheim, dass Betriebe zur
Beschäftigungssicherung vom Flächentarif abweichen
dürfen, wenn auf beiden Seiten die Dachverbände
zustimmen. Heute wird diese Regelung bereits von ungefähr
jedem zehnten Unternehmen der Branche genutzt. Seit 1990 haben
sogar mehr als 30 Prozent aller Betriebe einmal oder mehrfach
Abweichungen vom Tarif vereinbart - nicht selten werden die
Gewerkschaften hier mit der Ankündigung, gegebenenfalls die
Fertigung ins billigere Ausland zu verlagern, im Betrieb heftig
unter Druck gesetzt - davor bewahrt sie der nach Meinung seiner
Gegner so mächtige Flächentarif längst nicht
mehr.
Sogar ohne Einschnitte in die
Tarifverträge gibt es Flexibilität: Mehr als zwei Drittel
der Großkonzerne bezahlen ihre Mitarbeiter teilweise variabel,
abhängig von Unternehmenserfolg oder persönlicher
Leistung. Auch in den großen Krisenfällen, von Opel bis
Karstadt, haben sich die Gewerkschaften letztlich nicht
Einschnitten in die Besitzstände der Beschäftigten
entgegen gestellt. Es gibt Ausnahmen, am meisten Aufsehen hat der
Fall des Heiztechnik-Herstellers Viessmann erregt. Hier hatten
Belegschaft und Chefs eine Ausweitung der Arbeitszeit von 35 auf 38
Wochenstunden verabredet. Im Gegenzug sollte statt eines
Werkneubaus in Tschechien die Fertigung im heimischen Allendorf
angesiedelt werden. Die Gewerkschaft stellte sich quer. Aber, das
räumen hinter vorgehaltener Hand auch Arbeitgebervertreter
ein, derlei zählt zu den nicht eben zahlreichen
Einzelfällen.
Dennoch hält der Druck an, die
Arbeitsbedingungen verstärkt im Betrieb statt auf
Branchenebene zu bestimmen. Auslöser sind einerseits der
gestiegene Wettbewerbsdruck, unter dem die Unternehmen stehen,
andererseits die politische Überzeugung, Deregulierung bedeute
Fortschritt. Die Gewerkschaften beginnen, auch wegen des unsicheren
Wahlausgangs voraussichtlich im Herbst 2005, sich hierauf
einzustellen. Die IG Metall in Nordrhein-Westfalen und im Bezirk
Küste macht es vor. Statt immer nur zu reagieren, wollen hier
die Arbeitnehmervertreter betriebsnahe Tarifpolitik offensiv
nutzen. Ein Ziel ist dabei, Mitgliedern und potenziellen
Mitgliedern konkret vor Augen zu führen, was ihnen die
Gewerkschaft bringt. So soll an Rhein und Ruhr in jedem Betrieb,
der aus dem Flächentarif ausschert, ein Gewerkschaftsbonus
erzwungen werden: Die Mitglieder bekommen mehr Urlaubstage oder
einen Aufschlag beim Weihnachtsgeld.
Diese Ungleichbehandlung soll den
Schrumpfprozess der Gewerkschaften stoppen, der schon in wenigen
Jahren ihre Existenz als Massenorganisationen in Frage stellen
könnte. An der Küste sollen die Belegschaften über
Abweichungen vom Tarif selbst entscheiden, damit sie bei
Einschnitten nicht der Gewerkschaft die Schuld zuschieben; und
damit sie, wenn sie die Abweichung zurückweisen, auch
tatsächlich in den Arbeitskampf ziehen. Die alte
Stellvertreterfunktion der Gewerkschaften, Ergebnis vor allem des
Flächentarifs, löst sich hier und da auf.
Interessanterweise reagieren die Arbeitgeber nicht unbedingt
erfreut - deren Verband Gesamtmetall warnte bereits vor
Spaltungstendenzen.
Aber sind die Flächentarife nicht
einfach zu teuer? Tatsächlich ist das deutsche Lohnniveau im
internationalen Vergleich hoch, auch wenn manche
Arbeitnehmervertreter das gerne herunterspielen. Die Entgelte sind
fünffach so hoch wie beispielsweise in Tschechien und auch
spürbar höher als in Frankreich. Einen nennenswerten
Anteil haben allerdings die Lohnnebenkosten; in anderen
Ländern werden die Sozialsysteme stärker über
Steuern finanziert, worüber nun auch hierzulande kontrovers
diskutiert wird. Entscheidend für die Bewertung der
Tarifautonomie aber ist: Der Anstieg der Entgelte ist in
jüngster Zeit deutlich abgebremst worden, nachdem er bis Mitte
der 90er aus Sicht der Ökonomen zu hoch war.
Die Löhne und Gehälter wuchsen im
vergangenen Jahr im Durchschnitt nur um 1,3 Prozent. Ein
Großteil hiervon wurde mit dem Abbau von übertariflichen
Zulagen und dergleichen verrechnet, sodass bei den
Beschäftigten noch weit weniger ankam. Die
Lohnstückkosten sanken. Derzeit finanzieren großenteils
die Arbeitnehmer die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des
Standorts Deutschland - nicht konfliktfrei, aber ohne Explosion des
Tarifsystems. Hierfür haben, ungewöhnlich genug, selbst
die Arbeitgeber öffentlich ihre Anerkennung ausgesprochen.
Tarifautonomie trägt zur sozialen Stabilität bei - das
ist ein Standortfaktor. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass
die Zahl der Streiktage in Deutschland niedrig ist. Ein Ergebnis
der viel geschmähten Konsenskultur: Hierzulande gingen seit
1990 jährlich im Schnitt zwölf Arbeitstage je 1.000
Beschäftigte verloren, im vermeintlichen Unternehmerparadies
USA waren es 41, in Griechenland 300. Zwar liegt dies zum Teil auch
an Gewerkschaftsstrategien, die mit wenig Streikenden viel
Produktion lahm legen. Zum größeren Teil liegt die
geringe Zahl der Streiktage aber daran, dass Flächentarife den
Firmen kostenträchtige und das Betriebsklima übel
belastende Häuserkämpfe ersparen.
Auch ein Zwangssystem kann der
Flächentarif bislang nicht genannt werden. Es ist konstitutiv
für die Tarifautonomie, dass Arbeitnehmer wie auch
Unternehmens-Chefs selbst entscheiden können, ob sie der
Gewerkschaft beziehungsweise dem Arbeitgeberverband beitreten. Nur
dann delegieren sie ihre Verhandlungsmacht. So ist das Tarifsystem
Marktmechanismen unterworfen: Überzeugt das Angebot nicht
mehr, das die Tarifparteien ihrer Klientel jeweils machen, so kann
diese - mit Verzögerung - aus dem System aussteigen. Eine
Ausnahme bilden Verträge, die auf Antrag der Tarifparteien von
der Regierung im Namen des öffentlichen Interesses für
allgemeinverbindlich erklärt werden, wie es etwa im Baugewerbe
der Fall ist - und wie es Rot-Grün mit dem neuen
Entsendegesetz nun auch auf andere Branchen ausweiten will, um
tarifliche Mindestlöhne einzuführen. Dieses neue
Zwangselement ist überaus umstritten.
Auch in der Praxis, nicht nur in der Theorie,
erweist sich die Tarifautonomie als System der Freiwilligkeit. Die
Zahl der Mitglieder von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung
wächst. Sogar der fatale Metallerstreik in Ostdeutschland um
die Ausdehnung der 35-Stunden-Woche 2003 hat nicht gezeigt, was
schlecht ist am Tarifsystem, sondern dass es funktioniert. Die
Beschäftigten standen nicht hinter den von der Spitze
verordneten Zielen, der Streik scheiterte spektakulär. Die
Bosse in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale konnten nichts
erzwingen. Das Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden" und auch
Arbeitskämpfe zu führen, garantiert das Grundgesetz in
Artikel 9. Diese Garantie aber laufe leer, wenn die Ergebnisse von
Tarifverträgen betrieblich einfach unterlaufen werden
können, so argumentiert etwa die seit diesem Frühjahr
amtierende Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts.
Wörtlich: Sonst seien sie das Papier nicht wert, auf dem sie
stehen. Zwar teilen keineswegs alle Juristen diese Auffassung, aber
sie ist im Arbeitsrecht seit langer Zeit die herrschende Meinung.
Tatsächlich haben Betriebsräte im Gegensatz zu den
Gewerkschaften eine eingeschränkte Regelungskompetenz, sie
werden von den Arbeitgebern finanziert, und sie haben im
Konfliktfall auch kein Streikrecht.
Der Streit um das Tarifsystem hat ungewollt
einen interessanten Effekt. Er stärkt das System, weil es
unter Reformdruck gerät - und sich verändert. Die
Flächentarife müssen heute unterschiedliche Lösungen
für gut gehende und für kriselnde Unternehmen bereit
stellen. Denn nicht nur innerhalb einzelner Branchen wie Metall und
Elektro, sondern sogar innerhalb einer klar abgegrenzten Industrie
wie etwa der Automobilfertigung ist inzwischen die Lage von Betrieb
zu Betrieb einfach zu verschieden. Und: Während mancher
Mittelständler jeden Cent umdrehen muss, machen
Dax-Unternehmen wie die Deutsche Bank Rekordgewinne. Deshalb tobt
in Gewerkschaften wie der IG Metall die Debatte über
differenzierte Lohnabschlüsse, die in einer zweiten
Verhandlungsrunde oder nach festen betrieblichen Kennziffern in
verschiedenen Unternehmen für die Beschäftigten
unterschiedlich viel Geld bringen würde. Und deshalb wird viel
nachgedacht über noch mehr Flexibilität durch
Lebens-Arbeitszeit-Konten. Die Anpassung der Arbeitsbedingungen
innerhalb des Systems der Tarifautonomie geschieht also. Das aber
ist ein nie abgeschlossener Prozess.
Jonas Viering ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" in
München.
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