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Robert Luchs
Vor der Parlamentswahl - Haiti im Strudel der
Gewalt
Amnesty International beurteilt kritisch die
Menschenrechtslage
Vier Polizeiwagen und ein Krankenwagen fahren am Nachmittag des
26. Oktober 2004 im Fort National in der Umgebung von
Port-au-Prince vor. Die Insassen tragen schwarze Uniformen mit dem
Wort "Polizei" auf dem Rücken, ihre Gesichter sind maskiert.
Einige gehen in Schießstellung auf die Straße, die
anderen betreten das Haus von Ti Richard, der nicht zu Hause ist.
Aber 13 Jugendliche befinden sich dort. Die Männer befehlen
ihnen, sich auf den Boden zu legen, dann eröffnen sie das
Feuer.
Die Körper von vier der Jugendlichen werden später im
Leichenschauhaus der haitianischen Hauptstadt gefunden, die anderen
bleiben verschwunden. Der Menschenrechtsorganisation amnesty
international, die von einer dramatischen Zunahme der
Menschenrechtsverletzungen auf Haiti berichtet, sind die Namen von
neun Opfern bekannt, die im Fort National kaltblütig
umgebracht wurden. Wer die Mörder, deren Hintermänner und
die Motive der Tat sind, ist bis heute nicht bekannt. Der
Abteilungsleiter der Nationalpolizei, Renan Etienne, sagt
später, er habe nie einen Einsatz am 26. Oktober angeordnet.
Und die Polizei-Sprecherin bestätigt, einen Einsatz in dieser
Gegend habe es an diesem Tag nicht gegeben.
Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass die Morde jemals
aufgeklärt werden. Sie können politisch motiviert sein,
von ehemaligen Rebellen verübt, von demobilisierten
Mitgliedern der ehemaligen Haitianischen Armee oder von einer der
vielen bewaffneten Banden, die Haiti unsicher machen. Im Vorfeld
der für Ende 2005 angesetzten Wahlen sind politisch motivierte
Festnahmen, Misshandlungen, außergerichtliche Hinrichtungen,
Morde an Zivilisten, Vergewaltigungen und massive
Einschüchterungen an der Tagesordnung. "Die universellen
Menschenrechte werden auf Haiti immer wieder von allen Beteiligten
schwerwiegend missachtet", schreibt amnesty international in seiner
jüngsten Dokumentation mit dem Titel "Entwaffnung
verzögert, Gerechtigkeit verweigert"
Die Krise hat ihre Ursachen in der bewaffneten Rebellion, die
den früheren Präsidenten Aristide im Februar 2004 zum
Rücktritt zwang, sowie in dem Streit innerhalb des Landes um
die Legitimität der von Gérard Latortue geführten
Übergangsregierung. Seit dem 30. September vergangenen Jahres
sind hunderte von Menschen in einer Welle politischer Gewalt
getötet worden, die auf eine Reihe von Demonstrationen -
organisiert von Jean-Bertrand Aristides "Fanmi Lavalas"-Partei -
folgte.
Die politische Gewalt geht einher mit einer schweren
humanitären Krise. Haiti ist das ärmste Land des
amerikanischen Kontinents und belegt weltweit Platz 153 des Human
Development Index (HDI, Index der menschlichen Entwicklung). Die
Kindersterblichkeit liegt bei 79 von 1000 Geburten, der
Analphabetismus ist weit verbreitet und fast zwei Drittel der
Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Außerdem hat
Haiti mit schweren Gesundheitsproblemen zu kämpfen; mit 5,6
Prozent ist HIV/Aids in Haiti jenseits des subsaharischen Afrikas
am meisten verbreitet.
Massenhafte Verbreitung von Waffen
Vor gut einem Jahr entschloss sich die internationale
Gemeinschaft zum Eingreifen. Die auf der Geberkonferenz in
Washington zugesagten finanziellen Hilfen wurden bislang allerdings
nur in begrenztem Umfang geliefert. Aus der Sicht von
UN-Generalsekretär Kofi Annan sind langfristige Anstrengungen
und internationaler Einsatz nötig, um die ökonomischen
und sozialen Strukturen wieder aufzubauen. Aber auch die
Präsenz der UN-Friedensmission (MINUSTAH), die das Mandat
einer US-geführten Truppe übernommen hatte, hat das Land
nicht auch nur ansatzweise aus der Krise führen
können.
Amnesty international stellt in ihrem Bericht zudem fest, dass
die massenhafte Verbreitung von Waffen die politische Krise noch
verschlimmert hat. Daher sei Entwaffnung vorrangig, wenn die im
November (Parlament) und Dezember (Kommunen) geplanten Wahlen zu
demokratischen Spielregeln führen sollen. Untersuchungen der
Genfer Kleinwaffenstudie aus 2004 weisen darauf hin, dass sich in
Haiti fast 170.000 Kleinwaffen im Besitz verschiedener Gruppen und
krimineller Banden sowie von Sicherheitsagenturen,
Gesetzeshütern und Einzelpersonen befinden. Das Problem wird
durch die Tatsache verschärft, dass laut Verfassung alle
Haitianer ein Recht haben, Feuerwaffen zu besitzen. Offizielle
Zahlen besagen, dass die Nationalpolizei seit 2001 etwa 20.300
legale Waffen im Besitz von Zivilisten registriert hat.
Die zahlreichen Waffen, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit
(nahezu 60 Prozent) und tiefem Misstrauen der gesellschaftlichen
Schichten untereinander, haben zu einem explosiven Gemisch
geführt. Die von der Menschenrechtsorganisation als
unberechenbar bezeichnete Lage kann nur teilweise von der
UN-Friedenstruppe ausgeglichen werden. Zwar gab es im vergangenen
Jahr Versuche, die Haitianer zu ermutigen, ihre Waffen freiwillig
abzugeben. Doch es fehlte sowohl am nötigen Nachdruck als auch
an einem abgestimmten Plan - von den haitianischen Verantwortlichen
wie auch von der MINUSTAH.
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