Frank Stier
Sozial-liberale Koalition unter Erfolgsdruck
Bulgariens neue Regierung will EU-Anforderungen
rasch umsetzen
Es gehört zu den angenehmen Aufgaben eines frisch
gewählten Ministerpräsidenten, eine große
internationale Investitionsgüterschau zu eröffnen. Dem
neuen bulgarischen Regierungschef Sergej Stanischev stand bei
seiner Eröffnungsansprache der Plovdiver Herbstmesse am 26.
September das Vergnügen am Regieren ins Gesicht geschrieben.
Sein Kabinett, so versicherte er den bulgarischen und
ausländischen Wirtschaftsvertretern, werde die
volkswirtschaftliche Stabilität Bulgariens wahren und alle von
der Europäischen Kommission geforderten Reformen zügig
und umfassend umsetzen, um den für 1. Januar 2007 avisierten
Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union zu
gewährleisten. Die mit fast 3.200 Ausstellern aus 47
Ländern neuerliche Rekordbeteiligung bei der größten
Industriemesse Südosteuropas wertete Stanischev als klares
Zeichen für das weiterhin bestehende Vertrauen der
internationalen Wirtschaft in die ökonomische Entwicklung des
Balkanlandes.
Erst vor knapp sechs Wochen war dem 39-jährigen
Vorsitzenden der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) nach 50
Tagen zäher Koalitionsverhandlungen die Bildung eines
Regierungsbündnisses mit der Nationalen Bewegung Simeon II
(NDSW) und der die türkische Minderheit vertretenden Bewegung
für Rechte und Freiheit (DPS) gelungen. Noch im Juli schien er
als tragischer Held in die bulgarischen Geschichtsbücher
einzugehen, als Premier für einen Tag und ohne Kabinett. Mit
einer Stimme Mehrheit wählte ihn damals die Bulgarische
Nationalversammlung zum Ministerpräsidenten und ließ bei
der folgenden Abstimmung die von ihm vorgeschlagene
Regierungsmannschaft durchfallen.
Nun steht Stanischevs sehr große sozial-liberale Koalition
von Beginn ihrer Legislaturperiode an unter enormem Erfolgsdruck
und kann kaum auf die übliche Schonfrist von 100 Tagen
rechnen. Die Regierungsführung der Sozialisten wird besonders
kritisch verfolgt werden, müssen sie sich doch vom schweren
Erbe der letzten sozialistischen Regierung unter Jean Videnov
emanzipieren. Diese verantwortete Mitte der 1990er-Jahre die
katastrophale Wirtschaftskrise, die zur Verarmung weiter Teile der
Bevölkerung führte, und wurde im Winter 1997 vom
Volkszorn vorzeitig aus dem Amt gejagt.
Während der seitdem vergangenen acht Jahre hat Bulgarien
einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Gesundungsprozess vollzogen,
den die Vorgängerregierungen der rechten Union demokratischer
Kräfte (SDS) unter Ivan Kostov und der NDSW von Ex-Zar Simeon
Sakskoburggotski für sich reklamieren können. Das
Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag konstant zwischen vier
und fünf Prozent und hat in den ersten sechs Monaten dieses
Jahres gar die Rekordmarge von 6,7 Prozent erreicht. Die Inflation
ist moderat, die Arbeitslosigkeit befindet sich mit 10,77 Prozent
auf dem niedrigsten Stand seit neun Jahren.
Trotz ihrer traumatischen Erfahrungen mit der Regierung der BSP
Mitte der 1990er-Jahre und der zumindest wirtschaftlich
erfolgreichen Politik ihrer Konkurrenten SDS und NDSW, haben gut 30
Prozent der bulgarischen Wähler die Sozialisten zur
stärksten Partei im Parlament gemacht. Sie versprechen sich
von der BSP eine sozialere Politik als sie die Zarenpartei
verfolgte, deren Primat in den vergangenen vier Jahren in der
Konsolidierung des Staatshaushalts lag. Der Zar hat mit seinem
letztlich nicht eingehaltenen Versprechen von 2001 ("Wählt
mich und in achthundert Tagen wird es Euch spürbar besser
gehen") viel Vertrauen verspielt. Bei einem monatlichen
Durchschnittslohn von 150 Euro beklagen viele Bulgaren noch immer
einen niedrigen Lebensstandard, profitieren ihrer Ansicht nach zu
wenig von der in den großen Städten wie Sofia, Plovdiv
und Varna unübersehbaren wirtschaftlichen Dynamik.
Angesichts der im Vergleich zum westlichen Europa
äußerst geringen Kaufkraft fällt es
ausländischen Beobachtern zuweilen schwer zu verstehen, dass
die Cafés und Restaurants in den bulgarischen Städten gut
besucht und die Geschäfte voll konsumbereiter Kunden sind.
Dieses Paradoxon ist wohl auch im Zusammenhang mit der vor kurzem
auf seiner Jahrestagung in Washington verlautbarten Warnung des
Internationalen Währungsfonds (IWF) zu sehen. Die stark
expansive Kreditvergabe in Bulgarien, Rumänien und den
baltischen Ländern, hieß es da, sei ein nicht zu
unterschätzendes Risiko für die wirtschaftliche
Stabilität dieser postkommunistischen Reformstaaten.
Zeitgleich zum erhobenen Zeigefinger aus Washington verlautete
aus europäischen Kreisen in Brüssel, der für den 25.
Oktober erwartete Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission zur Integrationsfähigkeit Bulgariens werde
über die Maßen kritisch ausfallen und Bulgarien sei
inzwischen als hinter Rumänien zurückliegend anzusehen.
Offensichtlich haben sich die europäischen Beamten von dem
wenig konstruktiven Verhandlungsmarathon zur Regierungsbildung in
diesem Sommer negativ beeindrucken lassen. Ob die Europäische
Union die Schutzklausel zur Verschiebung von Bulgariens EU-Beitritt
auf 2008 anwenden wird, soll sich aber erst Mitte des nächsten
Jahres entscheiden. So bleibt Sergej Stanischev noch etwas Zeit, um
mit seiner "Regierung der europäischen Integration" die von
der EU eingeforderten Reformen in Justiz und Verwaltung, im Kampf
gegen Korruption und organisierte Kriminalität umzusetzen. Als
Zeichen der Kontinuität hat er die bereits in der
Vorgängerregierung des Zaren amtierende Europa-Ministerin
Meglena Kuneva als einzige auf ihrem Posten belassen.
In den gut 40 Tagen ihrer Amtszeit hat sich die neue bulgarische
Regierung weder im Guten noch im Schlechten profilieren
können, doch fehlt es naturgemäß nicht an Kritik
seitens der Opposition. Besonders unter Beschuss steht
gegenwärtig Innenminister Rumen Petkov, der ein
Beratungsgremium mit einer illustren Reihe von Personen besetzen
möchte, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Nomenklatura
der Vorwendezeit oder ihrer politischen Verantwortung während
der Amtszeit von Jean Videnov höchst umstritten sind. Zudem
hat er mit der Umstrukturierung seiner Behörde in
überraschender Weise für den spektakulären Auftakt
des Wahlkampfs der für den 29. Oktober angesetzten
Bürgermeisterwahl in Sofia gesorgt. Indem er dem bisherigen,
aufgrund seiner harten Hand im Kampf gegen Kriminelle sehr
populären Staatssekretär im Innenministerium Boiko
Borissov die Verantwortung für die Verbrechensbekämpfung
entzog, hat er diesen dazu veranlasst, für das
Bürgermeisteramt in der Hauptstadt zu kandidieren. Damit hat
General Borissov den großen Regierungsparteien einen Strich
durch die Rechnung gemacht, deren Kandidaten es schwer fallen wird,
gegen ihn zu bestehen.
Eine zweite wichtige Wahl in diesem Jahr ist eigentlich nicht
das, was die Regierungsparteien im Moment gebrauchen können.
Anstatt erneut gegeneinander Wahlkampf zu führen, sollten sie
ihre gemeinsame Konzentration auf die Lösung der sozialen
Probleme des Landes richten und auf die Erfüllung der von der
EU gestellten Beitrittsbedingungen. Sergej Stanischev indes
signalisiert Optimismus, dass beides gelingen wird.
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