Bernd Jürgen Wendt
Realpolitiker und Politikverächter
Bismarcks gesammelte Werke in der "Neuen
Friedrichsruher Ausgabe"
Die zwischen 1924 und 1935 herausgegebenen "Gesammelten Werke"
Otto von Bismarcks, die inzwischen klassische "Friedrichsruher
Ausgabe", waren gedacht als "ein Denkmal, das Deutschland in seiner
tiefsten Erniedrigung dem Reichsgründer errichtet". Dabei
hielten es die "Denkmals-Gründer" damals für angebracht,
mit den Quellen in einer teilweise willkürlichen,
fragmentierten und das Bild der Bismarckschen Politik verzerrenden
Weise umzugehen.
Ein grundlegender Neuansatz war überfällig. Er ist
jetzt mit den ersten beiden Bänden der "Neuen Fried-richsruher
Ausgabe" (NFA) auf Initiative der wissenschaftlich ungemein
produktiven Otto-von-Bismarck-Stiftung und auch mit Hilfe ihres
Archivs in Friedrichsruh überzeugend gelungen. Mit fachlicher
und editorischer Kompetenz legen Andrea Hopp und Rainer Bendick,
wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung, als Bearbeiter die
Schriften (unter Einschluss der Briefe) und Dokumente zur
Außenpolitik von 1871 bis 1876 vor.
Sie haben eine Fülle neuer, bisher ungedruckter Materialien
einbezogen und auch neue Themenfelder und Fragestellungen zur
Innen- und Außenpolitik nach der Reichsgründung
dokumentiert, die früher noch nicht im Blickfeld der Forschung
lagen. Beide Bände sind mit informativen thematischen
Einführungen, knappen Inhaltsangaben sowohl vorn im
Dokumentenverzeichnis als auch im Vorspann der Dokumente selbst,
durch die chronologische Anordnung der Dokumente, die
Präsentation inhaltlich relevanter Marginalien und Begriffs-
sowie Sacherläuterungen in den Anmerkungen, durch den in der
Regel vollständigen Abdruck der Dokumente und ein
Personenregister mit den Funktionen im Bearbeitungszeitraum nicht
nur für den Fachhistoriker, sondern auch für einen
breiteren Kreis historisch Interessierter außerordentlich
leserfreundlich gestaltet.
Das Ziel der getroffenen Auswahl, in der Innen- und
Außenpolitik das politische Denken und Handeln Bismarcks,
seine taktischen und strategischen Schachzüge, seine
Pläne und Ziele und die politischen Entscheidungsprozesse an
Hand der Quellen nachvollziehen zu können, ist anschaulich
erreicht. Zentrales Thema des ersten Bandes (1871 - 1873) sind der
Auf- und Ausbau des jungen Nationalstaates und seine innere wie
äußere Befestigung, der Friedensvertrag mit Frankreich
und der ständige Versuch einer internationalen Isolierung der
Republik gegenüber den europäischen Monarchien, der
Kulturkampf mit seinen inneren und äußeren Dimensionen
sowie Gegenaktionen gegen die befürchtete "sozialistische
Gefahr".
Im zweiten Band steht stärker die Außenpolitik im
Vordergrund. Es ging Bismarck um die Sicherung des Reiches und
seiner internationalen Handlungsfähigkeit im europäischen
Mächtesystem. Dabei geriet Bismarcks Außenpolitik mit dem
von ihm provozierten massiven Druck gegen Frankreich in der
"Krieg-in-Sicht-Krise" 1875 erheblich "aus dem Tritt", als sich
Großbritannien und das Zarenreich wider Erwarten demonstrativ
auf die Seite Frankreichs schlugen und die Berliner Politik in ihre
Schranken verwiesen.
Interessant dokumentiert sind auch Bismarcks Personalpolitik,
sein oft rüder Umgang mit Untergebenen und sein nicht
spannungsfreies Verhältnis zum Kaiser mit mehrfachen
Rücktrittsdrohungen. Deutlich wird seine entschlossene
Verteidigung des Primats der Politik und seiner persönlichen
Machtstellung als Reichskanzler und preußischer
Ministerpräsident gegen Ansinnen der Militärs etwa mit
der Forderung nach einem von ihm stets entschieden abgelehnten
Präventivkrieg gegen Frankreich.
Geradezu hymnisch beschwört Bendick Bismarcks
"Virtuosität" in der europäischen Machtpolitik und seine
"ultimative Form der Staatskunst des 19. Jahrhunderts" mit der
realpolitischen Lernfähigkeit als "transhistorisches Vorbild
erfolgreicher Politik". Was für die 1870er-Jahre noch gelten
mag, sollte sich freilich im folgenden Jahrzehnt, etwa in der
Russlandpolitik, doch ganz anders ausnehmen. Bismarck
hinterließ seinen Nachfolgern nicht nur innen-, sondern auch
außenpolitisch erhebliche Hypotheken.
Bei dem sorgfältigen editorischen Standard der ersten
beiden Bände ist abzusehen, dass die NFA, die zügig
fortschreiten möge, auch wieder ein "Klassiker" werden
wird.
Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb
(Hrsg.)
Otto von Bismarck: Gesammelte Werke.
Neue Friedrichsruher Ausgabe,
Abteilung III: 1871 - 1898. Band 1: 1871 - 1873, Band 2: 1874
- 1876.
VerlagFerdinandSchöningh,Paderborn/München/Wien/Zürich
2005;
LXXXII / 637 S., 60,- Euro (Subskription 52,- Euro); LXXX /
710 S., 66,- Euro (Subskription 57,- Euro)
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