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Hans-Adolf Jacobsen
Von Größenwahn und Untergang
Der "neue Gebhardt": Ein Standardwerk über
den Zweiten Weltkrieg
Sechzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges vergangen, dessen Folgen bis in die Gegenwart
hineinreichen und die stets von neuem Anlass geben, über
Ursachen, Verlauf und Ende desselben nachzudenken. Die
Erinnerungskultur daran ist allerdings sehr unterschiedlich
geprägt. Für die einen ist es das Gedenken an die
selbstverschuldete totale militärische Niederlage des
Deutschen Reiches, für die anderen an die Erlösung vom
täglichen Alpdruck des gnadenlosen Bombenkrieges, von
unwürdiger Knechtschaft oder an den Beginn eines neuen
Leidensweges.
Nach allem, was wir heute wissen, kann es
jedoch keinen Zweifel mehr an der Erkenntnis geben, dass wir
Deutschen das Kriegsende als Befreiung von der Schreckensherrschaft
des NS-Regimes zu begreifen haben. Freilich sind hierfür die
zahllosen Berichte und Veröffentlichungen nicht immer
hilfreich, weil sie dem Leser und Hörer nicht die ganze
Spannbreite und den Gesamtzusammenhang des Kriegsgeschehens zu
verdeutlichen vermögen und meist mehr Fragen als Klarheit
produzieren.
Hinzu kommt, dass es bis heute zwar eine
überaus umfangreiche Literatur zum Krieg gibt, die ein
einzelner kaum noch hinreichend aufzuarbeiten vermag, aber eine
moderne Forschungsergebnissen entsprechende Gesamtwürdigung
der Jahre 1939 bis 1945 in ihren innen- und außenpolitischen
Interaktionen aus deutscher Sicht fehlt. Auch die letzten
großen Darstellungen aus der Feder von Weinberg (USA) und
Keegan (Großbritannien) können über dieses Defizit
nicht hinwegtäuschen.
Vor kurzem hat jedoch der Historiker R.-D.
Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in
Potsdam (MGFA) ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht, das
als ein großer Wurf und als hervorragendes Mittel
sachgerechter und im Urteil abgewogener Informationen über die
historischen Zusammenhänge zu bezeichnen ist. Wer künftig
über die Kriegsjahre angemessen urteilt und seine eigene Rolle
dabei zu bewerten gedenkt, sollte erst dieses Handbuch gelesen
haben, bevor er sich zu diesem Komplex äußert.
Der Autor zählt zu den profundesten
Kennern der Materie. Schon die Gliederung des Werkes lässt
erkennen, dass es sich hierbei nicht um eine der üblichen
Darstellungen handelt, in denen in erster Linie siegreiche oder
verlorene Schlachten analysiert werden. Vielmehr versucht der
Verfasser, das Gesamtphänomen des totalen Krieges unter
Berücksichtigung der Wechselwirkung von Politik, Militär,
Sozial, Technik- und Wirtschaftsgeschichte zu erfassen, soweit es
im Rahmen eines solchen überblicksartigen Werkes
überhaupt möglich ist. Noch bestehende Kontroversen
werden dabei aufgelistet, zugleich auch Forschungslücken, die
es in Zukunft zu schließen gilt.
Am bemerkenswertesten dürfte sein, dass
der Autor sich bemüht hat, dort, wo es notwendig und
angebracht ist, richtige Akzente zu setzen, dass er ferner Aussagen
nicht scheut, die vor allem für ehemaligedeutsche
Kriegsteilnehmer auch heute noch oft schmerzlich sind. Gilt es doch
endlich ohne Wenn und Aber zu begreifen, dass das Urverbrechen der
NS-Führung bereits 1939 begangen wurde, von dem sich alles
weitere ableiten lässt und dem alle Deutschen, wo immer sie
auch eingesetzt waren - an der Front oder in der Heimat, jeder auf
seine Weise direkt oder indirekt, ohne es vielleicht damals zu
ahnen -, Vorschub geleistet haben: Die Entfesselungen eines
Krieges, dessen wahnwitzigen Ziele die Eroberung fremder
Länder, die Ausbeutung der unterdrückten Völker und
die erbarmungslose Vernichtung von so genannten Rassenfeinden
gewesen sind und eben nicht, wie es leider in mancher Todesanzeige
bis in die jüngste Zeit formuliert worden ist, die
Verteidigung des eigenen Vaterlandes.
Nach einem gelungenen Kapitel über
Forschung und Geschichtspolitik erörtert der Verfasser
eingangs die Leitlinien zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges.
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wann und wie dazu Adolf
Hitler die Weichen gestellt hat, - einrastlos besessener Politiker,
für den Krieg das eigentliche Instrument zur Durchsetzung
seiner radikalen ideologischen europäischen
"Neuordnungspläne" gewesen ist. Erste Stufe dazu war der Kampf
um die Vorherrschaft in Europa, die nach siegreichen Feldzügen
im Sommer 1940 schon in greifbare Nähe gerückt zu sein
schien. Jedoch zwang die feste und unnachgiebige Haltung Englands
den Diktator, seine Prioritäten zu ändern und zu seinem
"eigentlichen" Krieg zurückzukehren: zur Eroberung von
"Lebensraum" im Osten und zur Errichtung eines
"Großgermanischen Reiches" in Europa.
Die schicksalsschweren Entscheidungen der
deutschen Führung, die zum Unternehmen "Barbarossa"
geführt haben, können nicht als
Präventivmaßnahme interpretiert werden. Der Autor hat
dabei schonungslos den besonderen verbrecherischen Charakter dieses
Feldzuges gegen die Sowjetunion offen gelegt und die nicht mehr zu
leugnende Tatsache, dass die Wehrmacht - ganz zu schweigen von den
Sonderkommandos der SS - hierbei als Institution tief in den
Massenmord und Holocaust verstrickt worden ist, was die Rote Armee
zu grausamen Gegenmaßnahmen - häufig unter Missachtung
des Völkerrechts - veranlasst hat. Dies ist
unbestreitbar.
Spätestens nach der deutschen Niederlage
in Stalingrad zeichnete sich das Scheitern des "Blitzkrieges" im
Osten ab, zumal seit dem Kriegseintritt der USA 1941 75 Prozent
aller personellen und materiellen Reserven auf der Seite der
Antihitlerkoalition zusammengefasst werden konnten, gegen die
Deutschland und seine Verbündeten keinerlei Chancen
besaßen. Themen wie die Instrumente des Krieges, die
Ausweitung zum globalen Krieg, die Verteidigung der "Festung
Europa", der totale Krieg und der Untergang des Dritten Reiches
werden abschließend knapp erörtert.
Ein aus heutiger Sicht wesentliches Kapitel
dürfte das der "deutschen Kriegsgesellschaft" sein. Oder auch
anders formuliert: "Die Geschichte von unten". Hier hätte sich
der Leser gern noch Erzählungen gewünscht, weil
inzwischen viele bewegende Zeugnisse vom Alltagsleben der Menschen,
von Not und Leid, von selbstquälerischen Zweifeln am Sinn des
Krieges und vom wahren Gesicht des NS Terrorsystems im Reich
bekannter geworden und zum Teil publiziert worden sind. Zu bedauern
bleibt überdies, dass der Verfasser den deutschen Widerstand
in seinen Verästelungen und verschiedenen Entwicklungsphasen
bis zum bitteren Ende nicht in einem eigenen Kapitel belegt
hat.
Jedoch ist die Gesamtheit hoch anzuerkennen.
Mit dem neuen "Gebhardt" verfügen wir nunmehr über einen
lesbaren Überblick über den Zweiten Weltkrieg, der in
weiten Teilen dem Anspruch moderner Geschichtswissenschaft gerecht
wird und der als ein vorzüglicher Beitrag zur politischen
Bildung betrachtet werden kann.
Rolf-Dieter Müller
Der Zweite Weltkrieg.
Gebhardt. Handbuch der deutschen
Geschichte, Band 21.
Klett-Cotta, Stuttgart 2004; 461S., 42,-
Euro
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