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Karl-Otto Sattler
Jeden Tag zur Arbeit ins Ausland fahren
Grenzgänger in Europa
Der lothringische Kollege im saarländischen
Stahlwerk, der Finanzfachmann aus Trier in der luxemburgischen
Bank: In der Saar-Lor-Lux-Region sind Grenzgänger aus dem
wirtschaftlichen Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Auch wenn die
Verständigung klappt, bereitet eine unterschiedliche
Sozialgesetzgebung vielen Probleme. Der Verband der lothringischen
"frontaliers" kämpft nicht nur vor Ort, sondern auch in
Brüssel und Paris für mehr soziale Rechte der
Grenzgänger.
Richtig ins Staunen kommt Eugen Roth, wenn er
hinüber ins Lothringische fährt. Dann redet der
saarländische DGB-Vorsitzende schon mal im französischen
Saargemünd als Gast vor 800 Leuten, die Stimmung im Saal ist
kämpferisch, Transparente wettern gegen ein unsoziales Europa
und die Demontage von Arbeitnehmerrechten. "Wie schaffst du
bloß diese enorme Mobilisierung?", möchte Roth dann vom
Präsidenten der lothringischen Grenzgängervereinigung,
Arsène Schmitt, wissen.
In Saargemünd erzählt Schmitt im
kleinen Büro von den Aktivitäten der 8.000 Mitglieder
zählenden Organisation: Demos am Saarbrücker
Grenzübergang Goldene Bremm, Flugblattaktionen, Appelle zum
Steuerboykott oder Petitionen an französische und deutsche
Politiker - "Comité de Défense des Travailleurs
Frontaliers de la Moselle" nennt sich der Verband, Komitee zur
Verteidigung der Grenzgänger aus dem Mosel-Departement, und
sorgt in der Region für eine ganze Menge Wirbel. Daneben
richtet die Vereinigung Sprechstunden aus, um Arbeitnehmer in
arbeitsrechtlichen, sozialen und fiskalischen Fragen zu beraten,
die die Jobs an der Saar oder in der Pfalz so mit sich bringen.
"Wir kämpfen auch politisch für die Interessen der
Berufspendler", betont Schmitt.
Empörend sei es, so Schmitt, dass
lothringische Grenzgänger bei Erwerbsunfähigkeit,
längerer Krankheit oder im Alter bei Pflegebedürftigkeit
wegen des unterschiedlichen Sozialrechts in Deutschland und
Frankreich durch den Rost fallen können. Wird zum Beispiel die
Invalidität eines Grenzgängers nur in Frankreich
anerkannt, kann es sein, dass der Betroffene nur von dort eine sehr
geringe Invalidenrente erhält, weil die Rentenberechnung auf
der Basis weniger Berufsjahre des Nachbarlandes erfolgt. Auch bei
der Pflegeversicherung können unterschiedliche Berechnungen in
beiden Ländern zu finanziellen Einbüßen führen
- nur zwei von vielen Beispielen. Diese Probleme müssen
zwischenstaatlich geregelt werden, so Schmitt, doch "auch in
Brüssel kennt man diese Misere, aber man tut nichts. "Einmal
sollten in Frankreich wie alle Arbeitnehmer auch die "frontaliers"
einen Zusatzbeitrag zur Sozialversicherung leisten, obwohl sie in
Deutschland in die Kranken- und Rentenkasse einzahlen: Schmitts
Verband veranstaltete Demonstrationen, rief zum Steuerboykott auf,
führte Prozesse - und zuletzt siegte man vor dem
Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
Arsène Schmitt kennt sich aus: Drei
Jahrzehnte arbeitete der jetzige Vorruheständler als Schrift-
und Photosetzer bei der "Saarbrücker Zeitung", wo er 30 Jahre
im Betriebsrat saß. Längst ist seine Vereinigung zu einem
Machtfaktor geworden, an dem beiderseits der Grenze
Regionalregierungen, Abgeordnete und Bürgermeister nicht
vorbeikommen. Europa wächst auch im Konflikt von
unten.
Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet in
Saar-Lor-Lux die Grenzgänger zu einer politischen Kraft
werden. Diese Gegend nimmt mit 160.000 Berufspendlern in Westeuropa
einen Spitzenplatz ein. Nach Schätzungen der Brüsseler
Kommission machen sich in den 15 alten Mitgliedsländern plus
Schweiz und Monaco rund 600.000 Berufspendler jeden Morgen auf den
Weg zur Arbeit, allein ein Viertel im Saar-Lor-Lux
Gebiet.
Heinz Bierbaum spricht von "erfahrbarer
Interregionalität". Er leitet die in Saarbrücken
ansässige Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (IBA),
die von den fünf Regierungen der Grenzregion ins Leben gerufen
wurde. Die IBA-Statistiken über Saar-Lor-Lux liefern die
EU-weit gründlichsten Daten aus der Welt der
"frontaliers".
Am sichtbarsten wird das in Luxemburg, wenn
die Blechkolonnen auf den Autobahnen die Richtung der
Pendlerströme anzeigen. Wegen des üppigen Jobangebots und
der höheren Einkommen zieht es täglich 55.000 Lothringer,
28.000 Wallonen, 17.000 Rheinland-Pfälzer und 4.000
Saarländer ins Großherzogtum. Grenzgänger besetzen
rund 40 Prozent aller Arbeitsplätze in Luxemburg und entlasten
damit die heimischen Arbeitsmärkte. Einheimische stellen in
Luxemburg nur noch ein Drittel der Beschäftigten, 27 Prozent
sind Ausländer mit Wohnsitz in Luxemburg.
Im Gegensatz dazu hat das lothringische
Mosel-Departement mit über 80.000 die meisten "Auspendler":
Neben den 55.000, die in Luxemburg ihr Geld verdienen, pilgern
21.000 ins Saarland und 5.000 in die Pfalz.
Erleichtert wird die Mobilität, weil es
kaum Verständigungsprobleme gibt. Luxemburg ist mit der
Nationalsprache "Letzeburgerisch" sowie mit Französisch und
Deutsch im Prinzip trilingual. An der Saar kommen die Lothringer
leicht zurecht, da ihr "Platt" mit dem saarländischen Dialekt
weitgehend identisch ist.
Die Franzosen aus anderen Regionen jobben
meist im Dienstleistungsgewerbe, aber auch als Arbeiter in der
Industrie. Indes bekleiden die Lothringer in der Regel einfachere
Tätigkeiten: Je ranghöher eine Aufgabe ist, desto mehr
ist Hochdeutsch gefordert - und das beherrschen nur
wenige.
Aber ist auch nach Feierabend etwas von dem
zu spüren, was IBA-Chef Bierbaum als "erfahrbare
Interregionalität" beschreibt? Eher nicht. Für die
meisten Grenzgänger, hat Charles Margue vom Luxemburger
Meinungsforschungsinstitut Ilres beobachtet, bleibe der
Arbeitsplatz selbst nach vielen Jahren "eine Enklave in einem
fremden Land". Wohnung, Familie, Schulbesuch der Kinder, Vereine:
Die persönliche Lebenswelt der Pendler sei überwiegend
"lokal verwurzelt", sagt Margue. Arsène Schmitt formuliert es
so: Natürlich gewinne man am Arbeitsplatz Freunde, man lade
sich auch mal zur Grillparty ein, "aber in der Regel fährt man
morgens über die Grenze und kehrt abends wieder
zurück".
Es wird immer schwieriger, den "frontalier"
überhaupt zu definieren. Denn da sind noch jene, die von der
IBA als "atypische Grenzgänger" klassifiziert werden: Deutsche
besonders aus dem Großraum Saarbrücken, die wegen
günstigerer Immobilienpreise nebenan in Frankreich ihren
Wohnsitz genommen haben und in die Heimat zum Jobben pendeln. Unter
den 21.000 aus Lothringen stammenden Beschäftigten an der Saar
stellt diese Gruppe mit knapp 7.000 fast ein Drittel der
Pendler.
Bei Schmitts Assoziation machen inzwischen
200 der "atypischen frontaliers" mit. Umgekehrt hat die Hälfte
der 8.000 lothringischen Angehörigen der Vereinigung an der
Saar und in der Pfalz das Mitgliedsbuch einer DGB-Gewerkschaft in
der Tasche.
Das "Comitée des Frontaliers" klinkt
sich auch in die "große" Politik ein. 2002 lancierte die
Organisation im französischen Präsidentschaftswahlkampf
einen flammenden Appell gegen den Rechtsextremisten Jean Marie Le
Pen und dessen nationalistische Abschottungspolitik. Und zum
Schrecken der Parteizentralen in Paris landete Schmitts Truppe im
Mai beim Abstimmungskampf um die EU-Verfassung mit einem
spektakulären Aufruf zum Non einen Paukenschlag.
Wie das, müssen Grenzgänger nicht
von Natur für eine solche Konvention sein? "Wir sind nicht
antieuropäisch, wir sind geradezu Pioniere von Europa",
erläutert Schmitt in seinem Saargemünder Büro
kämpferisch seine Position, "aber wir wollen ein soziales
Europa, wir lehnen eine EU ab, die das soziale Netz zerstört".
Gerade die "frontaliers", fügt er an, "wissen aus Erfahrung,
was das bedeutet".
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