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Daniela Weingärtner
Verhandlungspoker um Europas zukünftige
Grenzen
Beitrittsverhandlungen der EU mit der
Türkei
Wenn alles nach Fahrplan läuft, beginnen
die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der
Türkei diese Woche. Dieser Beitrittsprozess ist in vielerlei
Hinsicht eine Premiere. Zum ersten Mal verhandelt die EU mit einem
Land, dessen Bevölkerung überwiegend muslimisch ist und
dessen Staatsgebiet überwiegend in Asien liegt. Zum ersten Mal
soll Europa über seine ursprüngliche Grenze erweitert
werden - und erstmals ist eine Mehrheit der EU-Bevölkerung
laut Umfragen gegen den Beitritt dieses Landes.
In der vergangenen Woche kamen bei einer
Generaldebatte im Straßburger Europaparlament noch einmal alle
Argumente auf den Tisch. Die Konservativen warfen Ankara Ver
tragsbruch vor. Sie spielten dabei auf die ungelösten
Streitigkeiten in der Zypernfrage an. Zwar hatte Ankara Ende Juli
endlich erklärt, das so genannte Ankara-Protokoll auf die zehn
neuen Mitgliedsstaaten inklusive Zypern ausweiten zu wollen. Dabei
geht es um Handelserleichterungen zwischen der Türkei und der
EU. In einer Zusatzerklärung hatte die türkische
Regierung aber deutlich gemacht, damit sei keine Anerkennung
Zyperns verbunden. Zypriotische Schiffe würden auch
künftig in türkischen Häfen abgewiesen und
zypriotische Flugzeuge erhielten weiterhin keine
Überflugrechte. Als Reaktion hatten die Botschafter der
Mitgliedsstaaten Mitte September in Brüssel eine
Erklärung formuliert, in der Ankara aufgefordert wird,
zypriotische Waren nicht zu diskriminieren. Während des
Verhandlungsprozesses müsse die Türkei die
griechisch-zypriotische Republik anerkennen.
Von einem "Eiertanz der Erklärungen"
sprach der Vorsitzende der konservativen Fraktion, der deutsche
Abgeordnete Hans-Gert Pöttering, während der Debatte in
Straßburg. "Wir sollten deutlich machen, dass die Türkei
der EU beitreten möchte, nicht anders herum", forderte sein
Parteifreund Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses. Brok sagte, es sei nicht nachvollziehbar, dass
über erwiesene Folterungen in der Türkei nicht diskutiert
werde. Der nicht bewiesene Vorwurf, Kroatien decke einen
Kriegsverbrecher, habe aber dazu geführt, dass der
Beitrittsprozess mit diesem Land gestoppt worden sei.
Der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion,
der deutsche Abgeordnete Martin Schulz, konterte: "Die Türkei
wollen wir nicht, sie ist weit weg und islamisch. Kroatien aber ist
nah bei uns und katholisch." Der liberale britische Abgeordnete
Andrew Duff ergänzte: "Es ist erstaunlich, dass die Deutschen,
die politisch und wirtschaftlich so viel von der europäischen
Integration profitiert haben, der Türkei ein Gleiches
verweigern wollen." An die britische Ratspräsidentschaft
gerichtet fragte Duff, was sie dafür tue, damit die
Handelsbeziehungen zu Nordzypern endlich normalisiert und die
Versprechen eingehalten werden könnten.
Der grüne Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit
nannte die Türkeiverhandlungen die erste echte Erweiterung der
EU. Bei den voran gegangenen Beitrittsrunden habe es sich um die
Wiedervereinigung des Kontinents gehandelt. Auf der
Anti-Türkei-Welle surften viele, die damit nur ihre
rassistische Ablehnung des Islam transportieren wollten. "Wir haben
in der EU bereits mehr Muslime, als es Belgier in Europa gibt - ob
es mir als Atheist nun gefällt oder nicht!", rief der
grüne Fraktionssprecher den anderen Abgeordneten
zu.
Laut einer Umfrage des jüngsten
"Eurobarometers" sprechen sich gegenwärtig nur 35 Prozent der
Europäer für eine Aufnahme der Türkei aus,
während 52 Prozent gegen eine Europäische Union bis an
die Grenzen des Irans sind.
Das politische Gezerre trägt zu dieser
Unsicherheit sicher seinen Teil bei. Bis zum Wochenende hatten sich
die EU-Botschafter nicht auf einen Verhandlungsrahmen einigen
können. Dahinter steckten aber nicht nur die bekannten
Vorbehalte Frankreichs, Griechenlands und Zyperns. Plötzlich
meldete sich die österreichische Regierung mit neuen Bedenken.
Sie forderte, einen Satz zu streichen, wonach "gemeinsames Ziel"
der Beitritt sei und will stattdessen ein "alternatives Ziel" in
den Verhandlungsrahmen aufgenommen haben. Diplomaten vermuten einen
Zusammenhang mit den am Sonntag anstehenden Wahlen in der
Steiermark und dem weiterhin auf Eis gelegten Beitrittsprozess mit
Kroatien. Auch das Europaparlament in Straßburg sendete
untererschiedliche Signale aus. Während die Abgeordneten in
einer Resolution das Verhandlungsdatum 3. Oktober billigten,
forderten sie gleichzeitig, dass die Türkei während der
Verhandlungen den Völkermord an den Armeniern anerkennen
müsse. Kenner der innenpolitischen Situation fürchten,
dass dadurch die europafeindlichen Kräfte in der Türkei
gestärkt werden könnten. Eine Mehrheit legte
außerdem das Zollabkommen auf Eis - also genau das Instrument,
mit dem die Türkei zur Anerkennung Zyperns genötigt
werden soll.
Erweiterungsrunden gingen in der
Europäischen Union selten ohne Gezerre vor sich. Längst
vergessen ist, dass Irland, Großbritannien und Dänemark
bereits 1961, drei Jahre nach Gründung der Union, einen Antrag
stellten, in den Club aufgenommen zu werden. Nach vielem Hin und
Her begannen drei Jahre später die Verhandlungen, 1973 war die
erste EU-Erweiterung abgeschlossen.
Griechenland klopfte 1975 an die Tür und
erhielt sechs Jahre später Einlass. Portugal blickt auf eine
ähnlich unendliche Geschichte zurück, wie sie derzeit die
Türkei durchlebt. Schon 1962 stellte das westlichste Land
Europas einen Aufnahmeantrag, erst 16 Jahre später begannen
die Verhandlungen. Und es dauerte weitere acht Jahre, bis das
einstige Weltreich gemeinsam mit Spanien in die Gemeinschaft
aufgenommen wurde. Dass es schnell gehen kann, wenn die
Europäer wirklich wollen, zeigte die letzte Erweiterungsrunde.
1990 bewarben sich Zypern und Malta, in den Jahren darauf zehn
weitere Länder in Osteuropa. Bis auf Bulgarien und
Rumänien traten alle zum 1. Mai 2004 der Union bei.
Es ist diese Hypothek ständig
erneuerter, nie eingelöster Versprechen, die auf den
europäisch-türkischen Beziehungen lastet.
Befürworter eines Beitritts führen sie zu allererst ins
Feld. Erst dann werden geostrategi-sche Gründe genannt: Europa
müsse ein Bollwerk in Richtung der asiatischen Krisenregionen
errichten. Es sei zudem ein deutliches Signal an fanatische
Islamisten, wenn es gelinge, ein islamisches Land unter das Dach
europäischer abendländischer Werte zu holen.
Die Gegner eines Türkeibeitritts
führen an, das Land gehöre weder kulturell noch
geographisch zu Europa. Sie wollen das große Nachbarland im
Südosten mit einer "privilegierten Partnerschaft"
entschädigen - wenn auch nicht so recht klar ist, welche
Vorteile die gegenüber der bestehenden Zollunion haben
könnte. Ankara hat deutlich gemacht, dass es sich mit einer
Mitgliedschaft zweiter Klasse nicht abspeisen lassen wird. Die
türkische Regierung will alles oder nichts - und
verschließt dabei die Augen vor der Tatsache, dass der
abgesteckte Verhandlungsrahmen ohnehin einen Beitrittsprozess
zweiter Klasse einleiten wird.
In der Vergangenheit bestanden die
Verhandlungen im Wesentlichen darin, in allen Politikbereichen
festzustellen, wie sich das Bewerberland umstrukturieren muss, um
europäische Standards zu erreichen. Der Verhandlungsrahmen
für die Türkei geht darüber weit hinaus. Im Fall
einer ernsten und andauernden Verletzung der europäischen
Grundwerte werden die Gespräche ausgesetzt. Die
Funktionstüchtigkeit der Marktwirtschaft und die Fortschritte
im rechtlichen Besitzstand werden ständig von der
EU-Kommission kontrolliert und ebenso an zuvor festgelegten
Grenzwerten, sogenannten benchmarks, gemessen wie die Umsetzung der
Zollunion. Einige Mitgliedsrechte wie Personenfreizügigkeit
sollen dauerhaft ausgesetzt werden können. Zum ersten Mal wird
der Beitritt nicht als selbstverständliches Ziel
vorausgesetzt. Die Verhandlungen werden als ergebnisoffen
beschrieben.
Der Text spiegelt die widersprüchlichen
Ziele und Interessen wider, die die 25 EU-Staaten gegenüber
der Türkei verfolgen. Einige wollen lediglich zu ihren
Versprechen stehen. Andere wollen ein muslimisches Land aus
strategischen Gründen in die Union einbinden. Wieder andere
wollen die Hürden so hoch hängen, dass es nie zu einem
Beitritt kommen wird. Ob ein so zerrissener Verhandlungspartner
dazu beitragen kann, den Reformgeist und die westliche Ausrichtung
in der Türkei zu stärken, ist fraglich. Doch alle
Beteiligten sind offensichtlich überzeugt, dass es zu
spät ist, den Verhandlungsprozess zu stoppen.
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