Auf dem Weg zur Demokratie
Interview mit dem Europaabgeordneten Cem
Özdemir (Grüne)
Das Parlament: Vergangene Woche hat das EU-Parlament ein
widersprüchliches Signal nach Ankara gesendet. Die
Verhandlungen sollen wie geplant beginnen, doch das
Ankara-Protokoll liegt auf Eis. Wie wird die türkische
Regierung darauf reagieren?
Cem Özdemir: Ich glaube nicht, dass diejenigen, die
diesen Beschluss herbeigeführt haben, die Reformkräfte in
der Türkei stärken wollen. Denen geht es nicht um eine
Demokratisierung oder darum, dass es den Minderheiten besser geht.
Sie wollen vielmehr die Mitgliedschaft einer reformierten
Türkei mit allen Mitteln verhindern.
Das Parlament: Die Türkei hat das Ankara-Protokoll
zwar formal akzeptiert, dann aber mit einer einseitigen
Erklärung den Kern ausgehöhlt. Wird die EU nicht
unglaubwürdig, wenn sie dennoch am Fahrplan festhält?
Cem Özdemir: Die Europäische Union hat
Nordzypern versprochen, dass seine Isolation beendet wird, wenn es
einer Wiedervereinigungslösung zustimmt. Bis heute ist nichts
geschehen. Weder ist das versprochene Hilfspaket in Höhe von
259 Millionen im Norden angekommen, noch sind die
Handelsvergünstigungen eingeführt. Diejenigen, die sich
europäisch verhalten haben, werden bestraft, und die Politiker
im Süden, die sich antieuropäisch verhalten haben, werden
belohnt. Das stellt alles auf den Kopf. Die Türkei muss den
Eindruck gewinnen, dass egal, welche Zugeständnisse sie macht,
von EU-Seite immer wieder draufgesattelt wird.
Das Parlament: Glauben Sie nicht, dass man beide Seiten
zur Ordnung rufen müsste? Zypern verhindert, dass die EU ihre
Versprechen gegenüber Nordzypern einlösen kann. Aber die
Türkei löst ebenfalls ihre Versprechen nicht ein, wenn
sie Zusagen gegenüber Zypern wieder zurücknimmt.
Cem Özdemir: Beides gehört zusammen. Wir warten
bis heute darauf, dass der zypriotische Präsident Tassos
Papadopoulous erklärt, welche Teile des Kofi-Anan-Planes
für ihn ein Problem darstellen, damit man weiter verhandeln
kann.
Das Parlament: Auf Außenstehende wirkt die
türkische Politik oftmals widersprüchlich. Wie
erklärt sich wie zum Beispiel in der Armenier-Frage der
innenpolitische Schlingerkurs?
Cem Özdemir: Ein Land, das totalitäre
Strukturen hatte, hat sich aufgemacht in Richtung Demokratie. Viele
sind noch in einer Denkweise verhaftet, die aus der Zeit des Kalten
Krieges stammt. Im Justizapparat, in der Bürokratie, bis in
die Ministerien hinein gibt es Reformgegner, die glauben, dass sie
die Nation retten müssten vor diesen verrückten
Europaeuphorikern, die da in Ankara gegenwärtig regieren.
Das Parlament: Nun droht dem Regierungschef selber ein
Strafverfahren ...
Cem Özdemir: Erdogan ist ein hohes Risiko
eingegangen, indem er gegen den Gerichtsentscheid die
Armenien-Konferenz mit durchgesetzt hat. Doch was tut das
Europaparlament? Eine merkwürdige Koalition aus
Christdemokraten, Nationalisten und Linken hat vergangene Woche in
Straßburg beschlossen, die Anerkennung des Völkermordes
als Vorbedingung für die Mitgliedschaft zu fordern. Das
stärkt dieje-nigen, die schon immer behauptet haben, die EU
wolle in Wirklichkeit die Türkei ohnehin nie aufnehmen.
Das Parlament: Welchen Fahrplan würden Sie für
die Türkei-Verhandlungen empfehlen? Erst die
Wirtschaftskapitel? Oder müssen erst Fragen von Verwaltung,
Justiz, Minderheitenschutz, Erziehung geklärt sein?
Cem Özdemir: Ich würde Ankara dringend
em-pfehlen, sich mit keinem Kapitel Zeit zu lassen und alles so
schnell wie möglich anzupacken. Wir wiederum sollten darauf
bestehen, dass die demokratischen Reformen rasch umgesetzt
werden.
Das Interview führte Daniela Weingärtner
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