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Roland Löffler
Fremde in der neuen Heimat
In der DDR wurde das Schicksal der Vertriebenen
von der Partei und den Kirchen tabuisiert
Im Herbst 1945 erreicht eine Arbeiterin aus dem
ostbrandenburgischen Städtchen Sonnenburg an der Warthe nach
wochenlangem Marsch endlich Mecklenburg. Sie will ihre noch
ziellose Wanderung unterbrechen, pausieren, sich neu orientieren.
Auf einem Gut findet die mittellose Frau zunächst freundliche
Aufnahme. Dann erkrankt sie - geschwächt durch die Strapazen
und schlechten hygienischen Bedingungen der Flucht - an Typhus. Als
sie nach ihrer Genesung weiterziehen will, ist sie schockiert, dass
die Gutsherren von ihr plötzlich und ohne vorherige
Ankündigung eine horrende Summe für Pflege und Unterkunft
verlangen. Sie sieht sich doppelt heimatlos. Die alte Heimat, ab
1945 polnisch, hat sie verloren, und in der neuen fühlt sie
sich wie "geduldetes Lumpenpack". So hatte sie sich die Aufnahme in
der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht vorgestellt.
Die Erfahrungen der ostbrandenburgischen
Vertriebenen waren kein Einzelfall. Zwölf bis 15 Millionen
Deutsche mussten während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre
osteuropäische Heimat verlassen. Sie zogen in langen Trecks
einer ungewissen Zukunft entgegen. Etwa acht Millionen kamen in die
spätere Bundesrepublik, 4,1 Millionen in die SBZ. Die
nachhaltige Veränderung der Bevölkerung in der DDR, die
Neuankömmlinge machten einen Bevölkerungsanteil von 24
Prozent aus, provozierte erhebliche soziale Spannungen. Sie wurden
bisher in der Öffentlichkeit und den Geschichtswissenschaften
kaum thematisiert. Die Flüchtlinge wurden zunächst in
ländlichen Gebieten angesiedelt, in denen ihnen die
Bevölkerung eher ablehnend gegenüberstand. Die fehlende
nationale Solidarität enttäuschte die Vertriebenen. Viele
wanderten in die Städte ab. Entgegen dem offiziellen
DDR-Mythos der schnellen Eingliederung sprach deshalb Michael
Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte Berlin/München
bei der Tagung "Flucht, Vertreibung und Integration in
konfessioneller Perspektive" des Arbeitskreises
Protestantismusforschung in der Evangelischen Akademie
Neudietendorf von einer "Integration durch heftige
Konflikte".
Dafür sorgte auch die
Vertriebenenpolitik der DDR, die Entgegenkommen mit
Assimilationszwang verband. Der Arbeiter- und Bauernstaat beschloss
einerseits schon 1950 ein Gesetz zur Verbesserung der Situation der
"Umsiedler" und verteilte 400 Millionen Ostmark Wohnungsbeihilfen
an 700.000 Flüchtlinge. Andererseits anerkannte die DDR -
anders als die Bundesrepublik - schon früh mit
Rücksichtnahme auf die sozialistischen Bruderstaaten die
Oder-Neiße-Grenze an. Die Betroffenen wurden dabei nicht
gefragt. Die DDR-Vertriebenenpolitik wurde letztlich, wie Schwartz
darlegte, vom Ost-West-Konflikt überlagert. Ein "Recht auf
Heimat" - wie von der Bundesrepublik gefordert - lehnte die DDR als
Ausdruck "revanchistischen Denkens" ab. Heimat war für die DDR
keine geographische Größe, sondern ein politisches
Projekt, so Schwartz. In der DDR-Diktion gab es deshalb auch keine
"Vertriebenen", sondern nur "Umsiedler".
Für die Neuankömmlinge in der DDR
gab es folglich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie
assimilierten sich oder sie zogen - auch schockiert von der
Klassenkampfpolitik - weiter in die Bundesrepublik. Allein bis 1949
verließ etwa eine Million Vertriebene die DDR .
Die Zwangsassimilation hatte zur Folge, dass
das Schicksal der Vertriebenen in der DDR tabuisiert wurde. Die
traumatisierenden Erfahrungen des Heimatverlustes, der
Gewaltexzesse der Roten Armee, die massenhaften Vergewaltigungen
der flüchtenden Frauen - über das alles, so Clemens
Vollnhals vom Hannah-Arendt-Institut für
Totalitarismusforschung in Dresden, konnten und durften die
Betroffenen nie öffentlich sprechen. Nur im privaten Umfeld
und auch in den Kirchen gab es begrenzte Möglichkeiten, eine
Kultur der Erinnerung zu entwickeln. Diese Erfahrung führte zu
Abgrenzungserscheinungen, weshalb es der SED als "Partei der
Russenfreunde" bis zum Mauerbau 1961 nie breitere
Bevölkerungskreise für sich gewinnen konnte. Für
viele Menschen passte das humanitäre Pathos der SED und das
gleichzeitige Verbot von Vertriebenenorganisationen nicht
zusammen.
Der Wunsch nach Erinnerung suchte andere
Wege. Die katholischen "Umsiedler", die im fast ausschließlich
protestantisch geprägten Mitteldeutschland nach 1945 ein
Drittel der Bevölkerung stellten, trafen sich etwa zu
Wallfahrten, um ihre heimatlichen religiösen Traditionen
weiterzuführen. Die SED-Regierung stand den katholischen
Pilgern recht hilflos gegenüber. Selbst Massenverhaftungen bei
Vertriebenentreffen zeigten wenig Wirkung. Die SED setzte deshalb
auf die langfristige Umerziehung der Jugend.
Auch die evangelischen Landeskirchen nahmen
sich zwar karitativ und seelsorgerlich der Vertriebenen an. Mit der
Integration taten sich die protestantischen Gemeinden aber schwer.
Auf der Insel Rügen, so der Historiker und Pfarrer Martin Holz
(Schaprode), waren die dort angesiedelten, pietistisch
geprägten Ostpreußen von der in ihren Augen "toten"
Volkskirchlichkeit der Einheimischen enttäuscht. Die Pfarrer
freuten sich zunächst über die rege Beteiligung der
Flüchtlinge am Gemeindeleben. Allerdings entstand nach kurzer
Zeit ein erhebliches Problem: Mit ihrem starken Engagement
prägten die Ostpreußen manche Gemeinden derart um, dass
sich in ihnen fast nur noch Vertriebene, aber kaum mehr Insulaner
einfanden - ein großes Hindernis für eine reibungslose
Integration.
Das lutherische Sachsen sah sich seit 1945
mit der Ankunft katholischer Sudetendeutscher und evangelischer
Schlesier konfrontiert. Als Geste ökumenischer
Solidarität stellten evangelische Gemeinden - wie im gesamten
Gebiet der DDR - den Katholiken ihre Kirchen für Gottesdienste
zur Verfügung. Doch die aus Schlesien geflüchteten
evangelischen Theologen wurden trotz erheblichen Pfarrermangels
zunächst nicht übernommen. Die Kirchenleitung wollte
offene Pfarrstellen für die aus der Kriegsgefangenschaft
zurückkehrenden sächsischen Geistlichen frei halten.
Zudem meinte die Kirchenleitung, dass die schlesischen Pfarrer mit
ihren anderen theologischen Traditionen, die Calvinismus und
Luthertum miteinander verbanden, nicht in die rein lutherische
Landeskirche passten.
Unmissverständlich lehnte die
sächsische Landeskirche auch eigene Vertriebenengemeinden und
die seit 1945 abgehaltenen Heimatgottesdienste ab, so Markus
Wurstmann, Doktorand an der Universität Leipzig.
Parallelstrukturen waren unerwünscht, entstanden aber doch
hier und da, weil den "Umsiedlern" die strenge lutherische Liturgie
fremd blieb. Die Landeskirche erwartete jedoch, dass sich ihre
neuen Mitglieder vollständig in die sächsischen
Gemeinden, ihre Liturgie und ihr Kirchenrecht
einpassten.
Das empfanden viele Flüchtlinge als
Korsett und kehrten ihr wieder den Rücken zu. Zu der von den
Kirchen erhofften Intensivierung des kirchlichen Lebens durch die
Vertrieben kam es in der DDR also nicht.
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