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Ulrike Schuler
Verschwunden in der argentinischen Diktatur, aber
längst nicht vergessen
Deutschstämmige Mütter setzen auf die
deutsche Justiz, um Gerechtigkeit für ihre ermordeten Kinder
zu erreichen
Die Bilder sind auch heute noch eindrucksvoll: Frauen mit
weißen Kopftüchern und entschlossenem Gesichtsausdruck
drehen seit 28 Jahren unverdrossen ihre Runden auf der Plaza de
Mayo in Buenos Aires, halten Fotos ihrer verschwundenen Kinder in
die Höhe und fordern Auskunft über deren Verbleib. Einige
dieser Mütter sind vor den Nationalsozialisten geflohene
Jüdinnen deutscher Abstammung und haben ihre Hoffnungen auf
die deutsche Justiz gesetzt, um die am Tod ihrer Söhne und
Töchter schuldigen Mitglieder der argentinischen
Militärdiktatur zur Verantwortung zu ziehen. Im Sommer
vergangenen Jahres bekamen diese Hoffnungen einen Dämpfer, die
Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellte die Verfahren
wegen Nichtzuständigkeit der deutschen Justiz ein.
"Traurig und unangemessen und juristisch nicht
überzeugend", findet der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck
die Argumentation der Staatsanwaltschaft und legte Beschwerde
dagegen ein, die Verfahren einzustellen. Kaleck ist Sprecher der
"Koalition gegen Straflosigkeit", einer Organisation von
Menschenrechtlern und Anwälten, die sich um die Ahndung der
Verbrechen der argentinischen Junta bemüht. Er vertritt in
fünf Fällen Angehörige deutsch-jüdischer
Abstammung von Opfern der Diktatur (1976 - 1983).
Die Kläger hätten durch die nationalsozialistische
Gesetzgebung ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren und
sich auch nach Ende des "Dritten Reichs" nicht um eine
Wiedereinbürgerung bemüht, begründet die
Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre
Nichtzuständigkeit. "Den Juden wurde zu Unrecht aufgrund
nichtiger Gesetze die Staatsbürgerschaft entzogen", hält
Kaleck dagegen. Nicht nur aus moralischen, sondern auch aus
juristischen Gründen müsse der Nazigesetzgebung die
Geltung als Recht abgesprochen werden, so dass man davon ausgehen
könne, dass eine Ausbürgerung nicht stattgefunden habe.
Zudem würde die Behandlung anderer Gruppen - wie
beispielsweise die der Vertriebenen - zeigen, wie sehr die
Staatsangehörigkeit Auslegungssache sei.
Anders argumentiert der Leiter der Justizpressestelle am
Oberlandesgericht Nürnberg, Bernhard Wankel: Da viele Juden,
die das nationalsozialistische Deutschland verlassen hätten,
die deutsche Staatsbürgerschaft gar nicht hätten behalten
wollen, habe der Gesetzgeber in diesen Fällen eine Beantragung
als Voraussetzung für den deutschen Pass festgeschrieben. In
den abgewiesenen Fällen sei bis auf einen Fall ein Antrag auf
deutsche Staatsbürgerschaft nie gestellt worden. "Es gibt
allerdings einen Konflikt zwischen einem formellen und einem
materiellen Begriff der Staatsangehörigkeit", gesteht auch
Wankel ein. Bisher sei die formelle Interpretation üblich
gewesen. "Aber das heißt nicht, dass sich das nicht auch um
180 Grad wenden kann. Da gibt es zwei verschiedene
Rechtsauffassungen und für beide gute Argumente", sagt Wankel
und hält die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg
über die eingereichte Beschwerde für "offen". Bis zu
einem Urteil könnten jedoch noch Monate vergehen. Ein zu
großer Zeitrahmen für die betagten Mütter der
Junta-Opfer.
Eine von ihnen ist Ellen Marx. Bei einem Besuch vor zwei Jahren
in Berlin konnte sie noch ausführlich über ihre Tochter
Nora erzählen. Inzwischen ist die 84-Jährige
gesundheitlich schwer angeschlagen, auch ein Telefongespräch
ist nicht mehr möglich. Ellen Marx flüchtete 1939 als
18-Jährige vor dem NS-Regime nach Argentinien, die Zeit der
Militärdiktatur war für sie ein schlimmes
"Déjà-vu-Erlebnis". "Dass eine Regierung eine bestimmte
Anzahl von Personen tötet, denen sie das Recht abspricht zu
leben, habe ich schon zwei Mal erlebt", sagte die Jüdin.
Ihre Tochter Nora war eine junge Frau, die sich berühren
ließ von Ungerechtigkeiten. Dann wurde sie unbequem. Für
Lehrer, die Klassenkameraden unkorrekt behandelten, für den
Arbeitgeber, der bei den Lohnabrechnungen mauschelte, für die,
die sie von ihrem sozialen Engagement in den Elendsvierteln von
Buenos Aires abhalten wollten. Die damals 28-jährige
Meteorologin gehörte einer Gruppe an, die sich "Justicia
Social" nannte. Sie verteilten Zeitschriften und Flugblätter,
in denen sie mehr soziale Gerechtigkeit forderten. Engagierte junge
Leute wie sie waren der argentinischen Militärjunta ein Dorn
im Auge. "Sie hat nicht nur geholfen, sondern auch protestiert",
beschrieb Ellen Marx die Tochter. Kurz nach der Machtübernahme
der Militärs, am 21. August 1976, "verschwand" Nora Marx. Ihre
Mutter machte sich auf die Suche. Sie stellte Anträge, machte
Anzeigen, klapperte Polizeistationen, Krankenhäuser und das
Innenministerium ab - ohne Erfolg. Schließlich ging Ellen Marx
zu verschiedenen Anwälten und Menschenrechtsorganisationen,
suchte den Kontakt zu anderen Müttern von "Verschwundenen" und
setzte auf engagierte Menschen in Deutschland, damit das Unrecht,
das ihrer Tochter angetan wurde, nicht ungesühnt bliebe. Die
Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter gab auf. 1983
meldete sich ein Zeuge, der der jungen Frau auf einem Polizeirevier
begegnet war. Sie seien gefoltert worden, erzählt er. Er
überlebte.
Genauso wie Nora Marx "verschwanden" in Argentinien während
der Diktatur nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen
bis zu 30.000 Menschen. Tausende wurden gefoltert, umgebracht, bei
lebendigem Leib über dem Meer abgeworfen. Das Schicksal der
meisten "Verschwundenen" konnte nie rekonstruiert werden. Da
zahlreiche Amnestiegesetze die Junta-Chefs vor der Justiz
schützten, setzten Menschenrechtler auf europäische
Länder, die im Namen ihrer Staatsangehörigen Anzeige
erstatten können.
Inzwischen haben sich in Argentinien die Zeiten geändert:
Unter dem derzeitigen Präsidenten Néstor Kirchner wurden
die wichtigsten Amnestiegesetze aufgehoben. Wolfgang Kaleck bleibt
skeptisch: "Noch ist nicht klar, ob Kirchner sich durchsetzen
kann." Der Oberste Gerichtshof in Argentinien müsse über
die rückwirkenden Gesetze entscheiden, und die Justiz sei voll
von Leuten, die mit der Diktatur paktiert hätten, sagt Kaleck.
So lange die Haftbarmachung der Ex-Militärs nicht sicher sei,
sei der Druck aus dem Ausland weiterhin nötig. Besonders
wichtig sei das für die Angehörigen der Opfer. "Die
Mütter wollen wissen, was mit ihren Kindern passiert ist, und
sie wollen die Militärs verurteilt und inhaftiert sehen", sagt
Kaleck.
Um eine wirklich demokratische Gesellschaft in Argentinien
entstehen zu lassen, sei die Aufarbeitung der Vergangenheit
unabdingbar, meint Kaleck. "Wenn ein Polizeiapparat einmal
begriffen hat, dass er morden und foltern kann, ohne belangt zu
werden, wird er so lange damit weiter machen, bis der Staat zeigt,
dass das nicht geht." Die Straflosigkeit sei größtes
Hindernis auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft."
Einen Grundstein zu einer besseren Gesellschaft nach der
Diktatur haben die Frauen der Plaza de Mayo gelegt: "Die
Mütter von der Plaza de Mayo haben erreicht, dass die ganze
Welt weiß, was die Junta gemacht hat, und dass das Unrecht
war", so der Berliner Anwalt. "Sie sind historisch etwas
Einmaliges." Am meisten beeindruckt hat den Anwalt der Fall von
Ellen Marx. "Ihre Geschichte, die Tatsache, dass ein Mensch so viel
Unrecht ertragen musste und trotzdem weiterkämpft, ist
für mich von großer Bedeutung", sagt Kaleck. Für die
Angehörigen hofft er weiter auf eine weniger formelle
Auslegung der deutschen Gesetze und weiß dennoch:
"Gerechtigkeit wird immer eine Zielvorstellung bleiben, der man
sich nur annähern kann." Deshalb werden die Mütter der
Plaza de Mayo weiter ihre Runden drehen müssen. Kaleck baut
darauf, dass sich die nächste Generation, die Brüder und
Schwestern der Opfer, wie die Mütter dafür einsetzen,
dass die Täter vor Gericht stehen.
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