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Bernd Schüler
"Von einem Satz auf den andern ist der Holocaust
da"
60. Jahrestag der Befreiung: Jugendliche trafen
Überlebende
"Im Moment denke ich gar nicht daran, wo ich
hier bin", sagt Sebastian. Wie auch? So viel ist zu erledigen. Eben
noch hat der 27-Jährige einen Rollstuhl besorgt. Hier
begrüßt er jemanden auf Englisch, dort hilft er bei der
Suche nach jemandem, der Russisch spricht. Bis inmitten des
großen Andrangs ein alter Mann auf ihn zukommt und unversehens
von früher erzählt. Von einer Begebenheit unweit auf dem
Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Vom
stundenlangem Ausharren auf dem Appellplatz gleich hinter dem
Eingangstor. Von den Demütigungen, die den insgesamt über
200.000 Häftlingen zufügt wurden. Dann kommt wieder eine
organisatorische Frage dazwischen. "Was für ein krasser
Wechsel zwischen ständigem Hin- und Herrennen und Mord und
Totschlag", wundert sich Sebastian später.
Die Bedeutung der Vergangenheit für die
Gegenwart - für den Politik-Studenten und die anderen etwa 80
ehrenamtlichen Helfer ist das an diesem Sonntag kein bloßer
Gedanke. Kein Thema, wie es so eingängig und doch schwer
greifbar in den Reden auf der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der
Befreiung des KZs Sachsenhausen angestimmt wird. Sie haben einen
ganz konkreten Auftrag: Heute für das Wohlbefinden derer
sorgen, die hier gestern Schreckliches erlebt haben. Während
Außenminister Joschka Fischer davon spricht, was es für
die Überlebenden bedeuten muss, an diesen Ort
zurückzukehren, schleppen die Helferinnen weitere Bänke
und Wasser an den in der prallen Sonne liegenden
Gedenkort.
380 ehemalige Häftlinge aus aller Welt
sind der Einladung nach Sachsenhausen nördlich von Berlin
gefolgt. Über fünf Tage werden Ausstellungen
eröffnet, Gedenktafeln eingeweiht und Außenlager des KZ
besucht. Ein dicht gedrängtes Programm für die meist
über 80-Jährigen und ihre Angehörigen, die aus
Dänemark und Israel, aus Kanada und Russland angereist sind.
Damit sie vor Ort betreut werden, greift der Gastgeber, die
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, auf Freiwillige
zurück. Bei ihrer Vorbereitung machte der Leiter Günter
Morsch klar: "Sie bestimmen das Bild von Deutschland, das unsere
Gäste mit nach Hause nehmen!"
Anna werden viele in guter Erinnerung
behalten. "So eine schöne Frau", sagt Petro Mischuk, ein
Überlebender aus der Ukraine, mithin der auffälligste
Gast, weil er in der Häftlingskleidung unterwegs ist. Es
bleibt nicht das einzige Kompliment für die 21-jährige
Jura-Studentin. Sonst nie ehrenamtlich engagiert, ist sie jetzt
froh, mit anpacken zu können: "Endlich mal nicht nur passiv
dastehen und betroffen zuschauen." Sie tut, was sie kann. Sie
leitet weiter, wer wann wo abgeholt werden muss. Oder verteilt die
übersetzten Texte der Reden, die gleich im großen "Zelt
der Begegnung" gehalten werden. Nein, Wowereit gibt es nicht auf
Deutsch, muss sie einige vertrösten. Und leider auch nicht auf
Norwegisch, sagt sie einem großen alten Mann. Der bedankt sich
trotzdem, mit einer Verbeugung. "Wie sich die alten Leute über
kleine Aufmerksamkeiten freuen können", staunt Anna.
Später wird ihr eine alte Dame um den Hals fallen - weil sie
nochmals losgegangen war, um eine Kaffeesahne zu
bringen.
Die heitere Dankbarkeit vieler Gäste
macht es den Helfern leicht. Sebastian ist gerührt, dass sich
die Israelis, die er betreut, so sehr über das Interesse der
jungen Deutschen freuen. Und dass sie auf so offene, herzliche
Weise den Kontakt suchen. Hier eine Hand auf der Schulter, dort ein
inniger Händedruck - "das hilft, um unbefangener und sicherer
zu werden", sagt Sebastian. Besonders fasziniere ihn der Humor und
die Lockerheit der ehemaligen Häftlinge, "nach alldem, was sie
hier erlebt haben".
Die jungen Betreuer müssen allerdings
etwas lernen: Über manchen Scherz ist kein gemeinsames Lachen
möglich. Ein Überlebender aus Polen mokiert sich
über das System der Wertmarken, für die die Gäste im
Zelt Essen und Trinken erhalten. "Das ist doch wie im Dritten
Reich", sagt er und lacht. Als die Helferin zurückschmunzelt,
mahnt er: "Lachen Sie nicht!" So nah die gemeinsame Gegenwart, so
plötzlich reißt die Vergangenheit auf. "Man kommt ins
Schäkern", beschreibt Sebastian diese Situation, "und von
einem Satz auf den andern ist der Holocaust da." Als er einem Gast
erzählt, dass er hier als Freiwilliger arbeitet, erwidert der:
"Ich habe hier früher nicht freiwillig gearbeitet."
Aber die Helfer kämpfen auch mit anderen
Problemen. Da wird der Wunsch nach einem Stück Kuchen zu einem
komplizierten Austausch internationaler Gesten. Zu wenige der
Helfer sprechen Polnisch, Russisch oder gar Ukrainisch. Dennoch
"unglaublich", findet Anna, "wie die wenigen Hauptamtlichen mit so
knappen Mitteln so eine große Feier auf die Beine gestellt
haben". Während die Stiftung bei den Feiern zum 50. Jahrestag
noch auf weitaus mehr Ressourcen zurückgreifen konnte, mussten
die Mitarbeiter nun alles allein vorbereiten. Die Engpässe
offenbaren sich nicht zuletzt beim Mittagessen. Nachdem sich tags
zuvor dabei chaotische Szenen abspielten und böse Worte
fielen, organisieren sich die Helfer heute rechtzeitig selbst. Alle
Überlebenden sollen bedient werden, damit sie nicht in der
Schlange anstehen müssen. Anna trägt mit hochrotem Kopf
Tabletts zu den Tischen und findet immer noch für jeden ein
Lächeln.
Die letzte Chance, Überlebenden zu
begegnen - das ist ein Grund, den viele der jungen Ehrenamtlichen
für ihr Engagement angeben, und genau das, hatte auch
Gedenstättenleiter Morsch den jungen Menschen in Aussicht
gestellt.
Für Wolfram hat sich diese Hoffnung
zunächst nicht so erfüllt. Er hatte vergeblich auf die
ihm zugeordnete Gruppe aus der Schweiz gewartet. Doch dann
berichtet er ergriffen, wie Petro Mischuk im Rollstuhl auf einen
anderen Überlebenden trifft, der ebenfalls über das
Gelände gefahren wird. Minutenlang schütteln sie sich
lachend die Hände und erzählen einander, der eine auf
Französisch, der andere auf Ukrainisch.
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