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Daniela Weingärtner
Ein Mammutkompromiss
Umstrittene Chemikalienrichtlinie passiert
EU-Parlament
Zwei Jahre lang hatten sich Gegner und
Befürworter einer strengen Chemikaliengesetzgebung heftige
Argumentationsschlachten geliefert. Es geht um mehr als 100.000
Altstoffe, die in der EU verwendet werden, ohne dass ihre Wirkung
auf Umwelt und menschliche Gesundheit erforscht ist. Sie sollen nun
innerhalb von elf Jahren schrittweise bei der neuen Chemieagentur
in Helsinki registriert werden. Die geforderten Nachweise sind nach
produzierter Menge und vermutetem Risiko abgestuft. Während
die Industrie vor unvertretbar hohen Kosten warnt, gehen vor allem
grünen Politikern und Umweltverbänden die nun
beschlossenen Regeln nicht weit genug.
Mit deutlicher Mehrheit einigten sich
Sozialis-ten, Liberale und Konservative am 17. November in
Straßburg im Europaparlament auf einen Kompromiss für die
geplante Registrierung chemischer Stoffe. Allerdings sind die
Anforderungen im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der
damals verantwortlich zeichnenden EU-Umweltkommissarin Margot
Walström stark abgeschwächt worden. Für die
Zulassung neu entwickelter Chemikalien werden die jetzt geltenden
strengen Regeln abgeschwächt.
Bei der Zulassungsprozedur für Altstoffe
erhielt das von den Grünen eingebrachte Paket eine knappe
Mehrheit. Danach müssen Stoffe, die nach der Registrierung in
die Kategorie gefährlich eingestuft wurden, alle fünf
Jahre bei der Chemieagentur vorgelegt werden. Sind in der
Zwischenzeit Ersatzstoffe gefunden worden, darf der
gefährliche Stoff nicht mehr ver-wendet werden. Diese strenge
Regelung, die den Innovationsdruck erhöhen würde, gilt
aber nicht für Importe. Importeure müssen lediglich sehr
gefährliche Stoffe für den Verbraucher kenntlich machen.
Dadurch entsteht für europäische Hersteller ein
Standortnachteil, den man in dem Gesetzespaket eigentlich vermeiden
wollte.
Bei der Registrierung sind in der
Mengenkategorie von einer bis zehn Tonnen Jahresproduktion die
Anforderungen erheblich reduziert worden. Diese Gruppe umfasst
20.000 der insgesamt 100.000 nicht dokumentierten Substanzen. Es
müssen nur noch jene Stoffe umfassend getestet werden, die auf
der Grundlage vorhandener Daten von vornherein in Verdacht stehen,
problematisch zu sein. Ferner sollen alle Substanzen geprüft
werden, die zur Freisetzung in die Umwelt bestimmt sind. Das aber
betrifft nur ganz wenige Stoffe.
Die neue EU-Richtlinie REACH (Registrierung,
Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien) wurde
ursprünglich entworfen, um die völlige Unkenntnis
über die Eigenschaft von Stoffen zu beenden. Schließt man
eine große Gruppe von Substanzen von vornherein als vermutlich
ungefährlich vom Testprozess aus, ohne viel über sie zu
wissen, bleiben die Risiken weiter unbekannt und unentdeckt,
kritisieren die Umweltverbände.
Auch Stoffe, die sich als Ersatz für
giftige Substanzen eignen würden, werden nicht herausgefunden.
Damit wird eine Grundidee von REACH, schädliche Stoffe
mittelfristig auszumerzen, ausgehebelt. In der Kategorie von mehr
als zehn Tonnen Jahresproduktion, die etwa 10.000 Stoffe umfasst,
sind die Anforderungen ebenfalls stark reduziert worden. Wenn eine
Substanz nur innerhalb der Fabrik freigesetzt und dort "angemessen
kontrolliert" wird, fallen die meisten Tests weg. Auch hier gilt,
dass von "angemessener Kontrolle" eigentlich nur die Rede sein
kann, wenn die Stoffeigenschaften bekannt sind. Welche
Schutzkleidung ist angemessen, wenn über die Eigenschaften
einer chemischen Substanz so gut wie nichts bekannt ist?
Die Bringschuld, die übrigen Stoffe
dieser Kategorie innerhalb von elf Jahren umfassend zu
dokumentieren, lag im ursprünglichen Entwurf beim Hersteller.
Nun soll die neue EU-Chemieagentur sich darum kümmern, dass
sie ausreichend Daten bekommt. Das bürdet der neuen
Einrichtung, die in Helsinki in Finnland angesiedelt werden soll,
eine enorme Arbeitsbelastung auf. Kosten werden so auf
öffentlichen Haushalt verlagert.
Das Prinzip "one substance one registration"
(OSOR), hätte vor allem kleinen Unternehmen und nachgelagerten
Anwendern in der Produktionskette helfen sollen, Kosten zu sparen.
Ursprünglich sollten die Produzenten verpflichtet werden,
ihren Datensatz der Chemieagentur zur Verfügung zu stellen.
Nicht nur die chemische Industrie hatte sich dagegen mit dem
Argument gewehrt, Produktionsgeheimnisse könnten von der
Konkurrenz kopiert werden. Auch kleine und mittlere Betriebe hatten
darauf hingewiesen, dass Rezepturen oft ihr wertvollstes
Betriebskapital darstellen.
Der neue Entwurf stellt es dem Hersteller
unter bestimmten Bedingungen frei, auf Vertraulichkeit von Daten zu
beharren. Die Kehrseite ist, dass Mehrfachtests dadurch
unvermeidlich werden. Allerdings besteht weiterhin die
Möglichkeit, dass mehrere Hersteller die Tests gemeinsam
anteilig finanzieren. Für Daten aus Tierversuchen ist der
Informationsaustausch sogar Pflicht. Tierschützer bewerten das
Abstimmungsergebnis deshalb positiv, da es mittelfristig die
Laborversuche an Tieren reduzieren könnte.
61 Abgeordnete hatten sich am 15. November
bei der Debatte im Straßburger Europaparlament zu Wort
gemeldet. Dass zeigt, wie das Dossier REACH die Politiker umtreibt.
Berichterstatter Guido Sacconi, ein italienischer Sozialist,
berichtete von den aufwühlenden Gesprächen mit
Konservativen, Grünen und Liberalen. Er habe sich die
Entscheidung nicht leicht gemacht. Sacconis konservativer Kollege
Hartmut Nassauer hatte keine vergleichbaren Zweifel durchlebt. Er
hatte von Anfang an den Standpunkt vertreten, REACH sei für
die europäische und vor allem für die deutsche
Chemieindustrie unzumutbar.
Dagegen erinnerte die grüne Abgeordnete
Hiltrud Breyer, die die Stellungnahme des Frauenausschusses
vorstellte, an die gestiegenen Krebsraten in der EU. Brustkrebs
habe sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt, jede neunte Frau in
Europa sei von Krebs betroffen. 15 Prozent der Paare seien
ungewollt kinderlos. Deshalb verlangte der Frauenausschuss
verbindliche umfassende Tests auch für kleinste Produktmengen.
Sämtliche Stoffe, die Hinweise auf Gesundheitsrisiken erkennen
ließen, müssten ersetzt werden. Der Antrag fand keine
Mehrheit.
Der Pariser Onkologe Dominique Belpomme
nannte bei einer Pressekonferenz in Brüssel erschreckende
Zahlen. So steigt die Krebsrate bei Kindern jährlich um ein
Prozent und ist zur zweithäufigsten Todesursache geworden.
Prostatakrebs bei Männern hat sich im gleichen Zeitraum
verdreifacht. Auf vier bis neun Prozent wird der Anteil der
Bevölkerung geschätzt, der unter schwersten
Umwelterkrankungen wie chronischer Ermüdung oder schwerem
Asthma leidet.
Stimmen diese Zahlen, dann müssen die
von der chemischen Indus-trie aufgestellten Kostenrechnungen
völlig neu bewertet werden. Die EU-Kommission geht davon aus,
dass die Registrierung von ungefähr 30.000 chemischen
Substanzen 2,3 Milliarden Euro gekostet hätte - verteilt auf
elf Jahre. Die gesamten Mehrkosten, inklusive der Entwick-lung von
Ersatzstoffen und der gestiegenen Preise für den
Endverbraucher werden auf ungefähr 5,2 Milliarden Euro
geschätzt. Würden dadurch die umweltbedingten Krankheiten
um zehn Prozent reduziert, könnten in den kommenden
dreißig Jahren 50 Milliarden Euro an Gesundheitskosten gespart
werden.
Nach zwei Jahren erbitterter Debatten
zwischen den Kommissionsabteilungen Umwelt und Industrie und
zwischen den Ländern mit starken chemischen Industrien (ein
Viertel des Jahresumsatzes von 440 Milliarden Euro wird in
Deutschland erwirtschaftet) und den ökologisch orientierten
Nordländern, herrscht nun fast Harmonie. Die EU-Kommission hat
den Kompromiss zur Registrierung gelobt. Die Chemieindustrie sagt,
die Belastungen seien vertretbar, bei der Zulassung bestehe aber
Nachbesserungsbedarf. Im Koalitionsvertrag der neuen
Bundesregierung heißt es, REACH müsse "mit dem Ziel
verändert werden, die Chemikaliensicherheit zu verbessern,
ohne dabei die Herstellung von Chemikalien zu verteuern oder ihre
Anwendung zu behindern". Auch von deutscher Seite ist also kaum mit
Widerstand zu rechnen, wenn der Entwurf Ende des Jahres im
Ministerrat verhandelt wird.
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