Karl Doemens
Viel Zeit ist mit Beschwichtigungen vertan
worden
Bei den Sozialversicherungssystemen legt die
Große Koalition einen höchst ambivalenten Start
hin
Die Rentenkassen benötigen erstmals einen
Kredit, der gesetzlichen Pflegeversicherung droht die Pleite, und
die Krankenkassen lassen die Versicherten auf die versprochenen
Beitragssenkungen warten: Trotz mancher Reformen und zahlreicher
Notoperationen in der Vergangenheit steuern die sozialen
Sicherungssysteme in Deutschland in höchst unruhigem
Fahrwasser. Während auf der einen Seite der medizinische
Fortschritt und die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung
die Kosten nach oben treibt, untergräbt auf der anderen Seite
die schrumpfende Geburtenrate und der Schwund der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung die
Einnahmebasis. Gleich im zweiten Satz macht der druckfrische
Koalitionsvertrag der Großen Koalition den "demographischen
Wandel" und "den Veränderungsdruck der Globalisierung" als
zentrale politische Herausforderungen aus. Doch die Antworten
für die Sozialsysteme fallen noch dürftig aus.
In der Analyse sind sich die meisten Experten
einig: Der auf Reichskanzler Bismarck zurückgehende deutsche
Sozialversicherungsstaat, der sich im konjunkturellen Zwischenhoch
der Weimarer Republik und in den jungen Jahren der Bundesrepublik
weiterentwickelt hat, ist dringend modernisierungsbedürftig.
Man muss nicht gleich in die Kassandrarufe des ehemaligen
sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU)
einstimmen, der erklärt, die gesetzliche Rentenversicherung
habe schlichtweg "keine Zukunft" mehr und werde "in wenigen Jahren
an der demografischen Entwicklung zerbrechen". Aber an der von dem
langjährigen Regierungsberater Professor Bert Rürup
formulierten Einsicht, dass die deutschen Sozialversicherungen mit
ihrer Fiktion des Industriearbeiters, der Zeit seines Lebens
vollzeitbeschäftigt ist und mit seinen an den Lohn gekoppelten
Beiträgen das Umlagesystem finanziert, im Zeitalter der
Mini-Jobs und Patchwork-Biografien nicht mehr der
gesellschaftlichen Realität entsprechen, führt kein Weg
vorbei.
Fast eine Million
sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse ist
hierzulande seit 2003 verloren gegangen. Nun gibt es noch rund 26
Millionen, Tendenz weiter fallend. Gleichzeitig nimmt der
internationale Wettbewerb rasant zu. Steigende Sozialabgaben
würden die ohnehin hohen deutschen Arbeitskosten weiter
verteuern. Der Sachverständigenrat spricht in seinem
jüngsten Gutachten deshalb von einem "beschäftigungs- und
wachstumsfeindlichen Abgabenkeil", der sich in Deutschland zwischen
Produzenten- und Konsumentenlöhne schiebt.
Das Dilemma war auch Union und SPD bewusst.
So konträr ihre im Wahlkampf propagierten Reformoptionen einer
pauschalen Gesundheitsprämie und einer Bürgerversicherung
erscheinen, verfolgten sie doch ein gemeinsames Ziel: Die
Finanzierung der rund 140 Milliarden Euro teuren gesetzlichen
Krankenversicherung auf eine breitere Basis zu stellen. Die Union
wollte den gesamten Sozialausgleich aus dem Beitragssystem
herausoperieren und von den Steuerzahlern bezahlen lassen. Die SPD
forderte die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in
die gesetzliche Versicherung sowie die Erhebung von Beiträgen
auch auf Kapitalerträge. Bei allen Unterschieden und
praktischen Problemen: Zumindest in der Theorie hätten beide
Vorschläge dazu geführt, die Löhne von der
Sozialabgabenlast zu erleichtern.
Doch in der politischen Auseinandersetzung
der vergangenen Monate standen sich die Schlagworte
"Gesundheitsprämie" und "Bürgerversicherung" so
unversöhnlich gegenüber, dass Union und SPD bei ihren
Koalitionsverhandlungen den Konflikt nicht lösen konnten. "Da
kann man keinen Mittelweg machen", sagte scheidende SPD-Chef Franz
Müntefering. Auf "Formelkompromisse" habe man sich nicht
einlassen wollen, erklärte die künftige Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU). So bleibt die langfristige Finanzierung der
Kranken- und Pflegeversicherung durch die schwarz-rote Koalition
bei ihrem Start völlig offen. "Wir wollen für diese Frage
im Laufe des Jahres 2006 gemeinsam eine Lösung entwickeln",
heißt es nebulös im Koalitionsvertrag.
Eine kurzfristige Entlastung der Lohnkosten
erhofft sich Schwarz-Rot derweil durch die Senkung des
Arbeitslosenbeitrags von 6,5 auf 4,5 Prozent. Die hälftige
Finanzierung dieses Vorhabens durch eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer lässt sich durchaus begründen:
Jüngste Studien der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lassen eine Verlagerung der
Lasten durchaus angemessen erscheinen. Während nämlich im
OECD-Durchschnitt die Sozialbeiträge am Gesamtaufkommen von
Steuern und Abgaben nur 26 Prozent ausmachen, sind es in der
Bundesrepublik 40,5 Prozent. Anders ausgedrückt: Deutschland
finanziert seine Soziallasten zu stark über die
Löhne.
Wenige Tage vor dem Abschluss der
Koalitionsgespräche zwischen den großen Volksparteien
hatte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten daher ein
massives Plädoyer für eine stärkere
Steuerfinanzierung der Sozialversicherungen vorgelegt. In der
Rentenversicherung sei eine Erhöhung des Bundeszuschusses um 6
Milliarden Euro "ordnungspolitisch vertretbar, ja angezeigt",
argumentierten die Professoren. Doch ihr 600-Seiten-Wälzer kam
nicht nur zu spät, um die Unterhändler von Union und SPD
noch zu beeindrucken. Er unterzeichne auch sträflich den
Konsolidierungsbedarf und damit die Finanznot des Staates, der
keine neuen Subventionen ausgeben könne, konterten die
Finanzpolitiker.
So legt die Koalition in der Rentenpolitik
einen höchst ambivalenten Start hin. Einerseits
verschärft sie die kurzfristigen Liquiditätsprobleme der
Alterskassen noch, indem sie die Rentenbeiträge für die
Langzeitarbeitslosen kürzt. Dadurch dürfte der
Rentenbeitrag 2007 nicht nur auf 19,7 Prozent klettern, wie es die
offiziellen Schätzer erwartet hatten, sondern sogar auf 19,9
Prozent. Das trübt nicht nur den positiven Eindruck der
sinkenden Arbeitslosenbeiträge mächtig, sondern liegt
auch bedrohlich nahe an der 20-Prozent-Grenze, die eigentlich erst
2020 erreicht werden sollte. Andererseits traut sich Schwarz-Rot
mit der Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre
einen zwar unvermeidlichen, aber höchst unpopulären
Schritt zu tun.
Anders als in der Krankenversicherung kommt
ein kompletter Systemwechsel in der Rentenversicherung
realistischer Weise nicht in Betracht. Erstens sind die in Chile
und Großbritannien gesammelten Erfahrungen mit ganz oder
überwiegend kapitalgede-ckten Systemen keineswegs ermutigend.
Zweitens und vor allem ist es dafür in Deutschland schlichtweg
zu spät: Die Babyboom-Generation geht schon in 15 Jahren in
Rente. Sie kann nicht mehr genügend Rücklagen bilden, um
ihren Ruhestand selbst zu finanzieren.
Die Herausforderung der nächsten Jahre
in der Rentenversicherung besteht daher vor allem darin, die von
Globalisierung und Demografie verursachten Lasten einigermaßen
gerecht zwischen den Generationen zu verteilen. Allzu viel Zeit ist
mit Beschwichtigungen vertan worden. Mit der Einführung einer
zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorgesäule und der
faktischen Kürzung des Rentenniveaus um rund ein Sechstel hat
die bisherige rot-grüne Regierung seit 2001 eine Wende
eingeleitet. Die von der neuen Koalition verabredete
Einführung eines "Nachholfaktors", der in der Praxis
Rentensteigerungen bis ins nächste Jahrzehnt verhindern
dürfte, und die stufenweise Anhebung der Altersgrenzen ab 2012
wären weitere Schritte zu mehr Ehrlichkeit und
Generationengerechtigkeit.
Massive Proteste von weiten Teilen der
Bevölkerung sind Schwarz-Rot gewiss. Doch mutige
Zukunftsreformen der Sozialsysteme über die Parteigrenzen
hinweg könnten dem Zufallsprodukt der großen Koalition
auch eine politische Legitimierung verschaffen und echte Chancen
bieten. Dafür aber dürften sich die Ambitionen nicht auf
die Rentenversicherung beschränken. Die einstweilen vertagte
Finanzierungsreform der Kranken- und Pflegeversicherung ist
mindestens genauso dringlich.
Karl Doemens arbeitet als Korrespondent beim "Handelsblatt" in
Berlin.
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