Stefan von Borstel
Deutsche Unternehmen im Ausland schaffen
Arbeitsplätze zu Hause
Jobverlust: In den Betrieben geht die Angst
um
Stellenabbau ist ein hässliches Wort. Arbeitgeber nehmen es
nicht gern in den Mund, sie reden dann lieber von "Neuausrichtung
der Produktionskapazitäten", "Zukunftssicherung" und
"sozialverträglichen Lösungen". So auch bei Carl Zeiss
Vision, dem zweitgrößten Brillenhersteller der Welt aus
dem süddeutschen Aalen. "Die Produktion von bestimmten
Einfachgläsern und Prozessschritte mit geringer
Wertschöpfung sind angesichts der hohen Arbeitskosten am
hiesigen Standort wirtschaftlich nicht mehr darstellbar", teilte
das Unternehmen Ende September mit. Standardgläser sollen
daher künftig in Ungarn produziert werden.
In Aalen fallen damit 400 Arbeitsplätze weg. "Nur ein
gesundes und ertragreiches Unternehmen kann sich im internationalen
Wettbewerb behaupten und Arbeitsplätze erhalten",
begründete das Unternehmen seinen Schritt. Unter den deutschen
Arbeitnehmern geht eine Angst um: die Angst vor der Globalisierung.
Die Angst, dass der Arbeitsplatz ins günstigere Ausland
verlagert wird oder dass man hierzulande mit Billiglöhnen in
Ungarn oder den Sozialstandards von China mithalten muss. Die
Ängste sind nicht unbegründet. Nach einer Umfrage des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) werden bis Ende
2007 rund 150.000 deutsche Arbeitsplätze ins Ausland
verlagert. Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG)
schätzt, dass die Produktionsverlagerung in
Niedriglohnländer Deutschland in den nächsten zehn Jahren
rund zwei Millionen Arbeitsplätze kosten wird. Im schlimmsten
Falle könnte so fast jeder vierte von rund acht Millionen
Industriearbeitsplätzen verloren gehen.
Dabei kennt die ökonomische Theorie nur Gewinner der
Globalisierung - zumindest langfristig.
Die internationale Arbeitsteilung, so das Kalkül der
Ökonomen, erhöht Wohlstand und Beschäftigung
für alle. Alle müssen nicht alles machen, sondern
spezialisieren sich auf das, was sie am besten können:
Entwicklungs- und Schwellenländer mit niedrigen Löhnen
konzentrieren sich auf arbeitsintensive und einfache Produkte -
hochentwickelte Industrienationen auf technisch anspruchsvolle und
kapitalintensive Güter. "Es kann damit gerechnet werden, dass
Deutschland mittelfristig insgesamt wie auch die meisten anderen
entwickelten Industrieländer zu den Globalisierungsgewinnern
zählt", konstatierte die Enquetekommission des Bundestages zur
Globalisierung der Weltwirtschaft schon vor drei Jahren. Die
internationale Verflechtung führt zu einem deutlich
höherem Wettbewerbs- und Innovationsdruck. Die
Arbeitsmarktchancen gut qualifizierter und hochproduktiver
Beschäftigter steigen dadurch. Doch es gibt auch Verlierer:
"Weniger gut qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
geraten in eine zunehmend schwierige Lage, da sie sich mit ihrer
geringen Qualifikation in den Wettbewerb mit Beschäftigten aus
Niedriglohnländern begeben. Ihre Arbeitsmarktsituation und
wahrscheinlich auch ihre Einkommensposition verschlechtern sich",
stellte die Enquete-Kommission nüchtern fest. Im schlimmsten
Fall kann das für die Betroffenen auch Arbeitslosigkeit
heißen: "Jobverluste in einigen Branchen gehören genauso
wie neue Jobchancen in anderen Branchen zu den unvermeidlichen
Begleiterscheinungen der Globalisierung", schreibt die OECD in
ihrem Beschäftigungsbericht 2005.
Doch während sich der Stellenaufbau in der Regel im Stillen
vollzieht, steht der Stellenabbau im Fokus der Öffentlichkeit.
Fast jeden Tag geht ein neues Beispiel durch die Presse: In
Hannover soll ein Werk des Reifenherstellers Continental
geschlossen werden. Der Konzern produziert dort gerade noch 1,5
Millionen Reifen im Jahr, im rumänischen Temesvar sind es
dagegen mehr als zehn Millionen, im tschechischen Werk sogar rund
18 Millionen. Die Stillegung des deutschen Werkes würde 400
Stellen kosten. In Nürnberg protestieren Beschäftigte des
Haushaltsgeräteherstellers AEG gegen eine Abwanderung ihrer
Arbeit nach Polen. Im sauerländischen Hemer fürchten die
Arbeitnehmer des Badarmaturenherstellers Grohe die Verlegung ihrer
Arbeitsplätze nach China und Thailand.
In Schweinfurt und in Hannover schließt der Computerkonzern
IBM zwei Rechenzentren. Die Arbeitsplätze werden nach
Osteuropa verlagert. Betroffen sind 622 Mitarbeiter.
In Köln kündigt Linde Kältetechnik an, mehr als
die Hälfte der rund 2.500 Stellen in Deutschland abzubauen.
Die Produktion wird nach Tschechien und Frankreich verlagert. Der
europäische Marktführer bei Kältetechnik war erst
ein Jahr zuvor von einem US-Konzern übernommen worden.
Der ostdeutsche Motorradhersteller MZ aus Zschopau verlagert
einen Teil seiner Produktion nach Asien. Der Betrieb trennt sich
von 80 der insgesamt 170 Beschäftigten. "Durch die
Restrukturierungsmaßnahmen wir MZ mit einer schlankeren und
effizienteren Unternehmensstruktur in der Lage sein, seine
Marktstellung auszubauen", kommentierte die
Geschäftsführung den Stellenabbau.
Immer mehr Unternehmen nutzen die Drohkulisse der
Standortverlagerung, um ihre Belegschaften zu Zugeständnissen
bei Lohn und Arbeitszeit zu bewegen - von Siemens über
Volkswagen bis Opel. Dabei ist die Globalisierung kein neues
Phänomen. Einige Branchen, wie die fertigungsintensive
Textilindustrie, sind schon weitgehend aus Deutschland
verschwunden. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der
Ost-Erweiterung der Europäischen Union und dem langen Marsch
Chinas und Indiens in die Weltwirtschaft hat sich das
Globalisierungstempo noch einmal deutlich verschärft. Nach
Schätzungen der OECD gehen in den westlichen
Industrieländern zwischen vier und 17 Prozent aller
Entlassungen auf das Konto des internationalen Wettbewerbs.
Es könnte noch schlimmer kommen. Nach einer Studie der
Unternehmensberatung BCG steht die Auslagerung von
Produktionskapazitäten in die Niedriglohnländer
Osteuropas und Asiens erst am Anfang. Die Importe aus diesen
Ländern machten 2003 erst sechs Prozent dessen aus, was die
deutsche Industrie beschafft. Bis 2015 dürfte sich dieser
Anteil verdoppeln. Aber nicht alle Branchen sind gleich betroffen.
Während Lebensmittel- und Pharmaindustrie kaum abwandern
werden, verabschieden sich die Hersteller von
Unterhaltungselektronik, Elektrogroßgeräten, Halbleitern
und Möbel zu großen Teilen aus Deutschland, sagt die
Studie voraus.
Denkbar sind auch Mittelwege. Die heute noch lokal geprägte
Automobilfertigung könnte zunehmend Bauteile und Systeme aus
Niedriglohnländern beziehen, aber aus Logistikgründen
Montagewerke in Deutschland aufrechterhalten. Mit dem Aufbau von
leistungsfähigen Zulieferern auch in den
Niedriglohnländern steigt aber die Gefahr, dass auch die
Endmontage Deutschland verlassen könnte. Am stärksten von
der Verlagerung betroffen sind weitgehend standardisierbare,
arbeitsintensive, gut zu transportierende Produkte, bei denen
Lieferzeiten und Risiken zu kontrollieren sind. Durch neue
Arbeitszeitmodelle oder auch Lohnverzicht könne die
Verlagerung zwar verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden. Als
Ausgleich müssten Jobs im Dienstleistungsbereich und in
Zukunftsbranchen geschaffen werden, empfehlen die
Unternehmensberater.
Dabei bleibt es nicht bei der Verlagerung von Produktion ins
Ausland, zunehmend verlagern deutsche Unternehmen ihre Forschungs-
und Entwicklungsaktivitäten an ausländische Standorte.
Nach einer Erhebung des DIHK investiert bereits jedes dritte
Unternehmen in Forschungsaktivitäten außerhalb der
deutschen Grenzen. "Forschung und Entwicklung folgen vielfach der
Produktion ins Ausland", warnte DIHK-Präsident Ludwig Georg
Braun, dessen Medizintechnikonzern Braun Melsungen schon lange
weltweit tätig ist. "Die Idee, Deutschland könnte ein
Land der Blaupausen-Exporteure werden, greift nicht", sagt Braun.
Bei den Forschungsaktivitäten sind es nicht nur die niedrigen
Löhne, die ins Ausland locken. Auch ein technologiefeindliches
Klima treibt die Firmen und Wissenschaftler ins Ausland. Hier
wirken die Gesetze der Globalisierung: Geforscht wird da, wo die
Bedingungen dafür am besten sind.
Ein düsteres Bild malt auch der Münchner
Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn. Er sieht den
Exportweltmeister Deutschland auf dem Weg in die
"Basar-Ökonomie". Auf der Flucht vor den hohen deutschen
Löhnen beziehen die Unternehmen immer mehr Vorleistungen aus
dem Ausland: "Im Endeffekt schrauben Firmen die in
Niedriglohnländern vorfabrizierten Teile in Deutschland nur
noch zusammen, kleben ein "Made in Germany"-Schild auf die fertige
Ware und verkaufen sie dann über den deutschen Tresen weiter
in die Welt."
Die Wirtschaftsverbände verteidigen die
Produktionsverlagerungen ins Ausland. "Durch die
Internationalisierung ihrer Wertschöpfungsketten bleiben die
deutschen Unternehmen auf den heimischen und internationalen
Märkten wettbewerbsfähig und sichern damit auch
hierzulande Beschäftigung und schaffen
Ausbildungsplätze", argumentiert der Deutsche Industrie- und
Handelskammertag.
Der DIHK belegt dies in einer einer Umfrage unter 4.400
Unternehmen, die im Ausland aktiv sind. Danach schaffen
international tätige deutsche Unternehmen insgesamt mehr
Arbeitsplätze in Deutschland als sie einsparen. Nur die
günstig produzierten Importe sicherten die
Wettbewerbsfähigkeit deutscher Waren und damit auch 3,6
Millionen Arbeitsplätze in Deutschland, erklärt auch der
Präsident des Außenhandelsverbands, Anton F. Börner.
"Das Rad der Globalisierung kann nicht zurückgedreht werden",
sagt Börner. 400 Zeiss-Mitarbeiter in Aalen wünschten, es
wäre anders.
Stefan von Borstel ist Korrespondent im Parlamentsbüro der
"Welt"in Berlin.
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