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Thomas Fishermann
Warten auf den Kollaps
Die Vereinigten Staaten bleiben eine kolossale
Wirtschaftsmacht. Doch unantastbar sind sie längst nicht
mehr
Im Oktober gaben die Washingtoner Wirtschaftsstatistiker ihre
neuesten Zahlen bekannt, und demnach ist das amerikanische
Sozialprodukt im dritten Quartal (auf das Jahr hochgerechnet)
wieder um stabile 3,8 Prozentpunkte gewachsen. Die
durchschnittlichen Einkommen der Amerikaner haben im September um
1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zugelegt, nachdem sie
im August leicht gefallen waren, vermutlich wegen des Schocks der
Wirbelstürme. Der Einzelhandel hat seine Schrecksekunde
ebenfalls schon hinter sich: Im Sturm-Monat August hatten die
Amerikaner ihre Ausgaben um ein halbes Prozent heruntergeschraubt,
doch im September ging es wieder um den gleichen Betrag hinauf.
So könnte man meinen, die amerikanische Wirtschaft sei
stark wie nie. Amerika sei ein wirtschaftlicher Koloss, dem
Verwüstungen durch Wirbelstürme und explodierende
Ölpreise, kostspielige Kriege in fernen Ländern und eine
zunehmende Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung nichts anhaben
können. Es bleibt dabei: Mit Amerika kann sich kaum ein
anderes Land in Fragen der Produktivität, der Mobilisierung
von Arbeitskräften und des Wachstums messen.
Doch ausgerechnet in Amerika selber hört man in diesen
Tagen zunehmend besorgte Stimmen zur Wirtschaftslage. Trotz der
unerschütterlich erscheinenden Wirtschaftsdaten spricht der
Ökonom James Hamilton von der University of California in San
Diego von einer "Neuen Angst". Robert Shiller von der
Universität Yale, der in den 90er-Jahren als einer der wenigen
Ökonomen vor dem bevorstehenden Kollaps der Aktienmärkte
warnte, zieht mit düsteren Vorhersagen durch Talkshows und
akademische Seminare. Bill Gross, der viel zitierte Direktor des
kalifornischen Brokerhauses PIMCO, wetterte im Oktober in einem
Rundbrief an seine Investoren, dass der amerikanische Wohlstand der
vergangenen Jahre in Wahrheit eine Burg aus Sand denn aus Granit
sei. Die einzige Frage ist, wann das Meer kommt und sie
wegspült, schrieb Gross. Wovon reden diese Herren?
Der neue Pessimismus unter amerikanischen Wirtschaftsbeobachtern
hat mit eben jenen Umständen zu tun, die Amerikas Konjunktur
in den vergangenen Jahren so widerstandsfähig gemacht haben.
Ein wesentlicher Teil dieses ?Wirtschaftswunders’ hat
nämlich damit zu tun, dass die Welt Amerika Geld leiht - viel
Geld. Man kann dies aus dem so genannten Leistungsbilanzdefizit
ablesen, das im Augenblick auf sieben Prozent des amerikanischen
Bruttoinlandsprodukts zusteuert, ein Rekord aller Zeiten.
Amerika macht Schulden
Das Leistungsbilanzdefizit drückt - vereinfacht - aus, dass
Amerika aus aller Welt mehr Güter und Dienstleistungen
einführt als es selber exportiert, und dass es dafür im
Gegenzug immer mehr Schulden bei diesen Ländern macht. Vor
einigen Jahren waren es Investoren aus aller Welt, die Geld- und
Aktienanlagen in den USA für besonders profitabel hielten und
deshalb ihr Geld über die großen Teiche schickten. Heute
sind es hauptsächlich asiatische Notenbanken, die auf Gedeih
und Verderb versuchen, den Dollarkurs zu stützen und deshalb
viele Dollars einkaufen. So oder so ist diese Situation eine
Zeitbombe, denn die Geldgeber könnten es sich jederzeit anders
überlegen und ihr Geld wieder abziehen. So passierte es in den
80er-Jahren während der Ära Reagan, als der Dollarkurs
stark schwankte, 1987 die Börsen krachten. Weltweite
Finanztumulte waren die Folge.
Vorläufig jedenfalls fließt viel preiswertes,
hoffnungsfrohes Kapital in die Vereinigten Staaten und fördert
dort an anderer Stelle das unsolide Wirtschaften. Ökonomen
streiten sich darum, wie viele Schulden ein Staat für seine
Regierungsgeschäfte aufnehmen darf, und ob es überhaupt
jemals gefährlich werden kann. Doch auf jeden Fall wachsen die
Haushaltsdefizite des amerikanischen Bundes, der Staaten und vieler
Städte und Gemeinden rasant. Das Defizit der amerikanischen
Bundesregierung betrug zuletzt 2,6 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, was im Vergleich mit vielen
europäischen Staaten nicht dramatisch erscheint. Dennoch
blicken Steuerexperten sorgenvoll auf die langfristigen
Prognosen.
Früh in seiner Amtszeit hatte George W. Bush eine
Fülle langfristiger Steuersenkungen festgeschrieben, deren
Auswirkungen sich über Jahrzehnte erstrecken werden und deren
Hauptteil erst in der Zukunft wirksam wird. Entsprechend gespart
hat die Bush-Adminis-tration nicht: So ließ sie den Kongress
Ende 2003 publikumswirksam beschließen, den staatlichen
Gesundheitsdienst für Arme und Alte auszuweiten. Über die
Finanzierung wurde kaum geredet. David M. Walker, der
üblicherweise kühle Chef des Rechnungshofes, sprach
jedenfalls vom verantwortungslosesten Haushaltsjahr in der
Geschichte des Landes.
Doch nirgendwo setzte sich das Wirtschaften auf Pump so
nachhaltig durch wie in den Privathaushalten der amerikanischen
Mittelschicht. Viele Ökonomen kratzen sich immer noch den Kopf
angesichts des rätselhaften Einkaufsbooms, den Amerika seit
Jahren erlebt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September
2001 fielen zwar die Börsen, die Investitionen amerikanischer
Unternehmen wurden ängstlich zurückgeschraubt, aber
amerikanische Konsumenten retteten die Konjunktur. Sie kauften
ungebrochen ein - auf Pump. Das lässt sich an der so genannten
Sparquote ablesen. In den 50er- und 60er-Jahren hatten die
Amerikaner noch jährlich acht Prozent ihres verfügbaren
Einkommens auf die hohe Kante gelegt, in den Jahrzehnten danach
wurde es Schritt für Schritt immer weniger. Seit dem Jahr 2000
sparen die Amerikaner fast gar nichts mehr. Im Sommer 2005 wurde
ein historischer Moment erreicht: Nun legt der durchschnittliche
Amerikaner gar nichts mehr zurück, sondern er plündert
sein Erspartes und schöpft seine Kreditkarten aus. Die
Sparquote ist negativ geworden.
Ein Grund dafür ist der grenzenlose Optimismus, der vielen
Amerikanern zu eigen ist. Ein anderer ist der breit gestreute
Hausbesitz. Vor allem in den dicht besiedelten amerikanischen
Küstenregionen sind seit der Jahrtausendwende die Hauspreise
gestiegen - je nach Wohnlage um 40, 60 oder 100 Prozent im Jahr.
Kein Wunder, dass sich viele Amerikaner plötzlich reich
fühlten. Weil der Notenbankchef Alan Greenspan zur gleichen
Zeit die Zinsen niedrig hielt, kauften viele Amerikaner ihre
Hypothekenkredite zurück, finanzierten ihre Häuser mit
den niedrigen Zinsen neu und nahmen nicht selten noch ein paar
Zehntausend Dollar extra auf - für ein neues Auto, eine Reise,
eine Renovierung. Etliche Banken boten waghalsige Formen von
Hypothekenverträgen an wie zum Beispiel solche, bei denen man
gar nichts mehr tilgt und nur noch die Zinsen bezahlt, oder noch
weniger als das. Die amerikanische Notenbank schätzt, dass auf
diese Weise allein 2004 rund 600 Milliarden Dollar locker gemacht
wurden. 25 bis 30 Prozent davon könnten in den Konsum
geflossen sein. Das allein würde dann ein ganzes Prozent des
amerikanischen Wirtschaftswachstums erklären und von einem
Wirtschaftswunder wenig übrig lassen.
Und damit zu den Pessimisten. Längst hebt die Notenbank in
Washington wieder die Zinsen an, der designierte neue Notenbankchef
Ben Bernanke will die Inflation so eisern bekämpfen wie der
bis zum Jahresende amtierende Alan Greenspan. Das dürfte
manchen gewagt finanzierten Hypothekenkredit bald unbezahlbar
machen. Die Hauspreise steigen schon nicht mehr so schnell wie im
vergangenen Jahr.
In einem pessimistischen Szenario könnte nämlich alles
ganz schnell gehen: fallende Hauspreise und steigende Zinsen;
weniger empfundener Wohlstand; keine neuen Möglichkeiten zur
Refinanzierung; weniger Konsum; eine schwächere Konjunktur;
Zusammenbrüche von Firmen, die auf den Absatz ihrer Güter
in Amerika angewiesen sind; ein resultierender Vertrauensverlust
internationaler Anleger in die amerikanische Wirtschaft; ein Fall
des Dollars, den selbst die Stützungskäufe asiatischer
Notenbanken nicht mehr aufhalten können.
In einer solchen Lage könnten dann auch andere
wirtschaftliche Nachrichten wieder ins Bewusstsein der Amerikaner
zurückkehren, die in der letzten Zeit vom allgemeinen
Optimismus beiseite gewischt wurden. Da sind zum Beispiel die
anhaltend hohen Ölpreise, die das Heizen und das Autofahren
auf absehbare Zeit verteuern.
Dann ist da auch der Aufstieg und der Machtgewinn des
Wirtschaftsriesen China, der amerikanische Arbeitsplätze
gefährdet und in diesen Tagen aggressiv einst glanzvolle
amerikanische Marken aufkauft. Der amerikanischen
Unternehmenslandschaft könnte unterdessen noch eine Reihe von
Großpleiten bevorstehen, etwa unter den Fluggesellschaften
oder den Automobilfirmen. Derweil verursacht die gewaltige
Aufrüstung den Amerikanern Kosten, der teure Krieg im Irak
dauert an, und neue Konflikte mit anderen Ländern wie dem Iran
und Nordkorea drohen.
Große Depression
Als der Markt zusammenbrach, verhielten sich die Amerikaner
nicht, wie die ökonomische Theorie es vorhergesagt hätte.
Sie verhielten sich so, wie es ihre Vorgänger in der
Großen Depression der 30er-Jahre getan hatten: Sie
verschanzten sich in ihren Häusern, bezahlten ihre Kredite
nicht mehr und warteten auf die Vertreter der Banken. So beschrieb
der amerikanische Wirtschaftsjournalist James Fallows kürzlich
in einer pessimistischen Vorschau in The Atlantic Monthly, wie er
sich Amerika nach dem nächsten Wirtschaftskollaps
vorstellt.
Sicher muss es nicht so schlimm kommen wie zu Zeiten der
Großen Depression: Notenbankiers und Wirtschaftspolitiker
wissen heute besser Bescheid denn je, wie man bei einem
Wirtschaftskollaps gegensteuert. Doch sicher ist, dass die Mahner
heute ernsthaftere Argumente auf ihrer Seite haben denn je. Der
Wirtschaftskoloss USA ist verletzbar geworden und könnte mit
wenigen Schlägen ins Wanken gebracht werden. Trotz der
scheinbar so rosigen Wirtschaftskennziffern.
Thomas Fischermann ist Korrespondent der "Zeit" in New York.
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