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Alexander Hagelüken
Poker um ein neues Abkommen
Glasnost in Genf: Wie die WTO sich bemüht,
in der Praxis demokratisch zu werden
Vorwiegend männliche Anzugträger in
weißen Hemden, die mit Kopfhörern einen Meinungsaustausch
weiterer Anzugträger verfolgen: Die Szene hatte etwas
einschläfernd Banales. Auf den ersten Blick ein Bild, wie es
sich im globalen Kongresszirkus jeden Tag hundertfach bietet. In
Wirklichkeit kam die Szene am 12. September im Genfer
WTO-Hauptquartier einer Sensation gleich. Erstmals öffnete die
Welthandelsorganisation ein internes Treffen für die
Öffentlichkeit.
Wissenschaftler, Journalisten und
Entwicklungslobbyisten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
durften den Versuch beobachten, den Dauerzwist über
hormonbehandeltes US-Exportfleisch für Europa beizulegen.
Glasnost in Genf: Die umstrittene Welthandelsorganisation (WTO)
will Transparenz demonstrieren und Demonstranten widerlegen, die
ihr undemokratische Geheimdiplomatie zu Lasten armer Erdteile und
ökologischer Belange vorwerfen.
Die Initiative für mehr Offenheit kommt
wohl kaum zufällig in dem Moment, da die WTO vor der
gewaltigsten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung 1995
steht. Auf dem Ministergipfel in Hongkong im Dezember soll ein
Durchbruch in der Welthandelsrunde gelingen. Ein erneuter
Misserfolg könnte nicht weniger als das Ende des Versuchs
bedeuten, global gültige Handelsabkommen zwischen armen und
reichen Erdteilen zu erreichen.
Ende 1993 war es den damals 123
Mitgliedsstaaten der WTO-Vorläuferorganisation GATT letztmals
gelungen, eine für viele Erdteile verbindliche Liste von
Zollsenkungen und anderen Handelserleichterungen zu vereinbaren.
Längst drängen Industriekonzerne, Dienstleister und
Landwirte auf ein neues Abkommen, um ihre Exportchancen zu
verbessern. Doch die Verhandlungen schleppen sich hin.
Scheitert der Poker um ein neues Abkommen,
würden die Globalisierungskritiker mancher NGO aufjubeln. 1999
besetzten sie zu Tausenden die Straßen von Seattle. Der Start
der Welthandelsrunde gelang erst zwei Jahre später in Doha,
der Hauptstadt des Wüstenemirats Katar. Noch immer hoffen die
Gegner auf ein Fiasko bei der noch laufenden "Doha-Runde", wie der
Gesprächsmarathon getauft wurde.
Christina Deckwirth von der deutschen
Entwicklungs-NGO Weed warf der WTO vor, ihren Geburtstag zu
Jahresbeginn "auf dem Rücken der Armen zu feiern". Für
Pia Eberhardt von Attac hat "die Liberalisierungsmaschine WTO
erheblich dazu beigetragen, dass die Schere zwischen Arm und Reich
größer geworden ist".
Entgegen allem Kritikerfuror ist die
Welthandelsorganisation, zumindest auf dem Papier, eine
äußerst demokratische Veranstaltung. Jeder der inzwischen
148 Mitgliedsstaaten verfügt nur über eine Stimme,
Singapur und Togo genauso wie die USA. Wenn ein kleiner
Mitgliedsstaat in den Verhandlungen Nachteile für sich sieht
oder sich an die Wand gedrückt fühlt, kann er sein Veto
einlegen - und damit das globale Abkommen im Alleingang zu Fall
bringen. Angesichts dieser multiplen Erpressungsmöglichkeiten
wirkt es erstaunlich, dass es 1993 überhaupt gelang, ein
Welthandelsabkommen zu vereinbaren. Offenbar besteht zwischen den
Politikern entlang der Kontinente Konsens über die Vorteile
eine solchen Vereinbarung.
Die Weltbank erwartet von einem neuen
Bündel von Handelserleichterungen weitreichende Effekte. Das
Einkommen der Menschheit würde zehn Jahre lang um rund 500
Milliarden Dollar pro Jahr zunehmen. Etwa 150 Millionen Erdbewohner
könnten aus der Armut befreit werden, so die
Weltbanker.
Das Alltagsgeschäft der Organisation,
die Beilegung von Handelsdisputen zwischen Mitgliedsstaaten, mutet
im ersten Eindruck weniger spektakulär an. Sieht ein Land
seine Exporte freihandelswidrig gebremst, kann es die WTO anrufen,
die ein Gremium von Schiedsrichtern einrichtet. Die Organisation
hält dieses Instrument für sehr erfolgreich. Unter dem
Druck des Genfer Schiedsrichters einigen sich viele
Streithähne vorzeitig. Und selbst die größten
Wirtschaftsmächte, die Europäische Union und die USA,
haben sich noch jedem Richterspruch gebeugt - ob es sich um die
EU-Blockade amerikanischen Hormonfleisches, widerrechtliche
Zölle für europäische Stahlhersteller oder
Steuersubventionen für US-Exportriesen wie Microsoft oder
Boeing drehte.
Was die Streitschlichtung wert ist, wird
deutlich, wenn man sich die Abwesenheit dieses Instruments
vorstellt. Einzelkonflikte könnten eskalieren, die politischen
Beziehungen zwischen den Kontrahenten belasten und das weltweite
Freihandelsklima ruinieren - mit unabsehbaren Folgen für die
exportabhängige Weltkonjunktur.
In Genf gilt nicht das Recht des
Stärkeren. In den vergangenen Monaten verhalfen die
WTO-Schiedsrichter mehrmals Entwicklungs- und Schwellenländern
zu Siegen über die EU oder die USA, die Importe ärmerer
Länder von so wichtigen Produkten wie Bananen, Zucker und
Baumwolle behinderten.
Entscheidungsprozeduren mangelhaft
Gemessen wird die Genfer WTO-Zentrale unter
ihrem neuen Generalsekretär Pascal Lamy wohl vor allem daran,
ob sie die Welthandelsrunde zum Erfolg führen kann. Der
Franzose hatte noch als EU-Handelskommissar 2003 das Scheitern des
Ministergipfels im mexikanischen Cancun erlebt, als
Globalisierungskritiker durchs Kongresszentrum tanzten. Um die
mexikanische Gipfelleitung zum Aufgeben zu bewegen, hatte es schon
genügt, dass die Vertreter zweier afrikanischer Staaten den
Saal verließen - ernsthafte Verhandlungen über den
Zankapfel Landwirtschaft hatten noch gar nicht begonnen.
Frustriert schimpfte Lamy damals, das
WTO-Sekretariat besitze zu wenig Vollmachten, um die Verhandlungen
ausreichend zu steuern. Die Entscheidungsprozeduren seien
mangelhaft: "Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation", so
die Diagnose des Mannes, der heute Generalsekretär ist. Lamy
bleibt keine Zeit für Strukturreformen, die WTO ist schon auf
dem Dezember-Gipfel in Hongkong zum Erfolg verdammt. Ihr
Grundprinzip - ein Land, eine Stimme, eine Vetomöglichkeit -
steht in Frage. Die USA drohten schon 2003, die Mühen eines
globalen Abkommens hinter sich zu lassen und stattdessen bilaterale
Verträge mit einzelnen Staaten anzustreben. Sie könnten
auf diesem Weg die Macht des Stärkeren einsetzen. Wenn der
Multilateralismus der WTO scheitern und es keine
Welthandelsabkommen mehr geben würde, dürften
schwächere Partner, also alle anderen Handelsnationen mit
Ausnahme Europas, die Verlierer sein.
Es ist schwieriger geworden, ein weltweit
gültiges Handelsabkommen zu erreichen, weil sich die Gewichte
verschieben. Die Doha-Runde wurde 2001 mit dem Anspruch gestartet,
dass die so genannte Dritte Welt besonders profitieren sollte. Doch
die ärmsten Länder fürchten, durch die Öffnung
der Agrarmärkte der Industriestaaten ihre Vorzugskontingente
zu verlieren - und damit alle ihre Marktanteile an hocheffiziente
Produzenten wie Brasilien oder Thailand.
Gleichzeitig hat sich - in Widerspruch zu den
Thesen der Globalisierungskritiker - eine Gruppe von
Schwellenländern als neue Macht etabliert. Brasilien, Indien,
China und andere wollen sich nicht mehr von Europa und den USA
dominieren lassen. Sie verlangen, dass die reiche Welt echte
Konkurrenz auf ihren abgeschotteten Agrarmärkten zulässt
- andernfalls wollen sie keinem Abkommen zustimmen.
Für die Industriestaaten steht viel auf
dem Spiel. Sie könnten ihre Exporte enorm steigern,
öffneten sich die boomenden Schwellenländer durch ein
neues Abkommen stärker für westliche Autokonzerne, Banken
oder Versorger. Doch in den USA und Europa blockieren die
traditionell hochsubventionierten Bauern und ihre
Interessenvertreter in der Politik einen Abbau der Zölle auf
Agrarimporte, die nach Berechnungen des Schweizer Ökonomen
Richard Senti im Schnitt immer noch prohibitive 20 bis 30 Prozent
betragen. Die französische Regierung drohte mehrfach, mit
einem Veto die ganze Welthandelsrunde platzen zu lassen. Die
Verlagerung von Jobs nach Osteuropa, Asien und Lateinamerika hat
westliche Arbeitnehmer so verunsichert, dass Politiker glauben, mit
Protektionismus Wählerstimmen zu erobern. Allerdings lassen
neutrale Beobachter keinen Zweifel daran, dass sich Amerikaner und
vor allem die Europäer im Agrarbereich bewegen müssen,
wenn ein Handelsabkommen gelingen soll. Selbst der frühere
EU-Handelskommissar und Franzose Pascale Lamy ruft die EU auf, ein
ähnlich weitreichendes Angebot zum Abbau ihrer
landwirtschaftlichen Zölle zu machen wie die USA. Freihandel
oder Abschottung: Die Industriestaaten müssen sich
entscheiden, ob sie das Welthandelsabkommen aufs Spiel setzen, die
Globalisierung bremsen - und so den Wohlstand ihrer Bürger
gefährden wollen.
Alexander Hagelüken ist Europakorrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.
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