"Deutsche Befindlichkeiten interessieren die
Chinesen nicht"
Interview mit Hans-Werner Sinn, Chef des
ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung
Der Volkswirt Hans-Werner Sinn schätzt
klare Worte: "Der deutsche Weg ist unrealistisch und zum Scheitern
verurteilt." Die Löhne seien zu hoch, die Arbeitslosigkeit zu
teuer und notwendige Reformen wie Hartz IV gingen nicht weit genug.
Seine Forderungen: billiger und besser produzieren, Ganztagsschulen
etablieren, das Arbeitslosengeld II (ALG II) drastisch senken und
dafür mehr Zuverdienstmöglichkeiten und
Zeitarbeitsverhältnisse ermöglichen. Mit diesen Reformen,
meint Sinn, wieder ganz Optimist, könne Deutschland durchaus
an neuer Dynamik gewinnen.
Das Parlament: Wenn Sie an die
Globalisierung denken, was macht Ihnen Angst?
Hans-Werner: Sinn Ich sehe den Prozess
mit großer Zuversicht. Ich bin froh darüber, dass die
Globalisierung die Armut großer Teile der Welt beseitigt. Mit
den ehemaligen kommunistischen Ländern und Indien
partizipieren nun riesige Gebiete am Wohlstand der westlichen Welt,
die noch vor 20 Jahren in Armut zu versinken drohten. Das ist die
gute Nachricht.
Das Parlament: Bleiben wir bei den
guten Nachrichten. Schafft Globalisierung Frieden?
Hans-Werner Sinn: Das ist eine
schwierige Frage. Ist China friedlicher, wenn es arm ist oder wenn
es reich ist? Die Frage wage ich nicht zu beantworten. Auf jeden
Fall ist die Globalisierung eine Entwicklung, die mithilft, die
Armut auf der Welt zu verringern. Bislang unterteilte sich die Welt
in arme Länder, die 85 Prozent der Menschheit umfassten, und
reiche mit einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent. Sollten
Indien und die ex-kommunistischen Länder den Anschluss
schaffen, werden 55 Prozent der Menschheit in entwickelten
Ländern leben. Ob das letztlich den Frieden in der Welt
stärken wird, weiß ich nicht. In 20 Jahren wird China
wirtschaftlich stärker als die USA sein. Ich kann mir
Konflikte zwischen den zwei Großmächten vorstellen, wenn
der Emporkömmling den Platzhalter herausfordert. Der Erste
Weltkrieg ist entstanden, weil der Emporkömmling Deutschland
einen besseren Platz in der Weltgemeinschaft
beanspruchte.
Das Parlament: Was bedeutet das
für die Vereinigten Staaten und für Europa, die bisher
die Vormachtstellung in kultureller, politischer und
wirtschaftlicher Hinsicht hatten und daraus auch einen
Führungsanspruch ableiteten?
Hans-Werner Sinn: Es wird wichtig
sein, China rechtzeitig die Rolle zuzubilligen, die ihm
gebührt. Die wirtschaftliche, politische und kulturelle
Führungsrolle des Westens wird sicherlich von den asiatischen
Staaten bestritten werden. Denn auch sie können auf große
Hochkulturen zurückschauen. Die amerikanische Kultur wird
ihren Leitbildcharakter verlieren.
Das Parlament: Ist das ein
Problem?
Hans-Werner Sinn: Vielleicht, denn
auch unsere Kultur steht der amerikanischen näher als der
chinesischen. Aber man kann diese Entwi-cklung nicht aufhalten.
Versucht man, die Chinesen auszubremsen, gibt es mit Sicherheit
noch größere Probleme.
Das Parlament: In den
industrialisierten Staaten verlieren derzeit sehr viele Menschen
ihre Jobs. In den USA werden sogar schon Rechtsanwaltsstellen nach
Indien outgesourct. Wie sieht das Szenario für die Deutschen
bei fortschreitender Globalisierung aus?
Hans-Werner Sinn: Also, die Geschichte
mit den Juristen weckt verständlicherweise Interesse. Aber
letztlich hat das Outsourcing im Dienstleistungssektor noch keine
Bedeutung erlangt. Bis die internationale Konkurrenz bei uns die
höherwertigen Jobs verdrängt, wird noch viel Wasser den
Rhein herunter fließen. Vorläufig ist vor allem die
einfache Arbeit von den Kräften der Globalisierung betroffen.
Auf dem Weltarbeitsmarkt nähern sich die Löhne für
einfache Arbeit aneinander an. Das heißt nicht, dass sie
gleich werden. Doch gibt es einen Konvergenzprozess, der sich
über die nächsten Jahrzehnte hin erstrecken wird. Dieser
Prozess ist nun mal für die chinesischen Arbeiter angenehmer
als für die Deutschen, weil die chinesischen Arbeiter in der
Lohnskala ganz unten sind und die deutschen Arbeiter ganz
oben.
Das Parlament: Wie sollen wir damit
umgehen? Der Schluss kann doch nicht sein, dass wir in Zukunft auch
für einen Euro pro Stunde arbeiten?
Hans-Werner Sinn: Nein, das nicht.
Unsere Produktivität wird auf absehbare Zeit wesentlich
höher sein als die in China. Wir müssen keinesfalls
chinesische Löhne bekommen, um wettbewerbsfähig zu
bleiben. Genauso wenig können wir aber sagen, dass wir die
chinesische Niedriglohnkonkurrenz ignorieren können, so als
gäbe es sie nicht. Sie ist ja nun mal da, und wir müssen
darauf reagieren. Wir müssen billiger und besser werden. Aber
da besser werden eine Sache ist, die viele Jahre benötigt,
müssen wir vor allem auch billiger werden. Das ist das
eigentliche Problem der westlichen Länder, besonders für
Deutschland, das Land mit den zweithöchsten Arbeitskosten auf
der ganzen Welt.
Das Parlament: Die Leute klagen
ohnehin schon. Sie haben nicht mehr so viel im Portmonee wie
früher, und ihre Arbeitsplätze sind unsicher. Müssen
die Löhne im Bereich der weniger qualifizierten Jobs in
Deutschland dennoch weiter gesenkt werden?
Hans-Werner Sinn: "Müssen gesenkt
werden" klingt reichlich normativ, so als wollte oder forderte ich
das aus moralischen Gründen. Die Löhne für einfache
Arbeit kommen durch die Marktkräfte unter Druck, und sie
müssen mindestens im Vergleich zum erhofften Trend gesenkt
werden, wenn man die Arbeitslosigkeit verringern will. Deutsche
Befindlichkeiten interessieren die Chinesen nicht. Wenn wir durch
politischen und gewerkschaftlichen Einfluss verhindern, dass die
Löhne für einfache Arbeit vom Wachstum abgekoppelt
werden, wird die Massenarbeitslosigkeit immer weiter
zunehmen.
Das Parlament: Wie will man die
Arbeitslosigkeit in Zukunft finanzieren?
Hans-Werner Sinn: Sie ist nicht mehr
zu finanzieren, ganz einfach. Die Lasten der deutschen
Arbeitslosigkeit liegen heute schon bei 100 Milliarden Euro jedes
Jahr. Es muss also etwas passieren. Da wir die Welt nicht
ändern können, müssen wir uns selbst
ändern.
Das Parlament: Von einer
Vollbeschäftigung sind wir aber nunmal weit entfernt. Eine
Massenarbeitslosigkeit, die nicht finanziert wird, muss in einem
Massen-elend enden.
Hans-Werner Sinn: Wir haben die
Grenzen der Leistungsfähigkeit des Staates überschritten,
wie ja auch die Maastricht-Kriterien ein ums andere Jahr zeigen.
Der deutsche Weg ist unrealistisch und zum Scheitern verurteilt.
Man darf sich dem Lohndruck nicht mehr durch künstliche
Eingriffe in das marktwirtschaftliche System widersetzen, sondern
muss ihn akzeptieren, wenn man wieder Beschäftigung schaffen
will. Den Nachteil, dass die Löhne für einfache Arbeit im
Vergleich zum Trend sinken, sollte man freilich
abfedern.
Das Parlament: Wie soll das
geschehen?
Hans-Werner Sinn: Bislang gibt der
Staat den weniger Leistungsfähigen das Geld unter der
Bedingung, dass sie nicht arbeiten. Genau das sollten wir
ändern. Der Staat sollte ihnen weniger unter der Bedingung des
Nichtarbeitens und mehr unter der Bedingung des Arbeitens und
Mitmachens geben. Wenn er das tut, wird die Rückwirkung des
Sozialstaates auf die Lohnskala verändert. Denn der Lohnersatz
erzeugt Mindestlöhne, weil keiner für weniger arbeitet,
als er vom Staat fürs Nichtstun kriegt. Wenn wir den
staatlichen Lohn fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben
zahlen, sind die Löhne nach unten hin flexibel. Es entstehen
Jobs.
Das Parlament: Das führt bei
einfachen Arbeiten zu einer vollkommen anderen
Lohnstruktur...
Hans-Werner Sinn: Ja, aber wir
können nicht versuchen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen
und gegen die Kräfte der Globalisierung Lohnstrukturen zu
verteidigen, die nicht mehr passen. Da holen wir uns eine blutige
Nase. Wir müssen mit dem Wind segeln und akzeptieren, dass die
Lohnskala zwischen den gut Ausgebildeten und den weniger gut
Ausgebildeten, auseinander geht. Jemand, der nur eine einfache
Arbeit anzubieten hat, setzt sich unmittelbar der Konkurrenz der
Polen, Chinesen und all der anderen aus.
Das Parlament: Das heißt, immer
mehr Leute arbeiten in einem absoluten Niedriglohnbereich. Das
wäre das Ende des Sozialstaats, wie wir ihn kennen.
Hans-Werner Sinn: Ja, des Sozialstaats
der letzten 50 Jahre. Aber der Versuch, die Spreizung der Lohnskala
zu verhindern, würde diesem Sozialstaat erst recht ein Ende
bereiten. An die Stelle des alten Sozialstaats muss ein neuer
Sozialstaat treten, der besser zur Globalisierung passt. Dieser
Staat unterstützt diejenigen, die von den Früchten ihrer
Arbeit nicht leben können. Die Unterstützung flösse
dann nicht mehr, wie heute, unter der Bedingung, dass sich die
Menschen selbst nicht helfen, sondern umgekehrt unter der
Bedingung, dass man eine Arbeit aufnimmt. Was ich meine, ist nicht
die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln. Auch die
schärfste Regel dieser Art kann nicht verhindern, dass der
Staat seine Zahlungen in dem Maße einstellt, wie man selbst
arbeitet.
Das Parlament: Was hat Hartz IV
gebracht. Ist das der richtige Weg?
Hans-Werner Sinn: Der Kern der
Hartz-IV-Reform ist die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Die
Arbeitslosenhilfe bot circa 60 Prozent des früheren Lohnes,
notfalls bis zur Pensionierung. Das war ein System, das uns extrem
geschadet hat. Denn die Leute, die das Geld bekamen, hatten
Lohnansprüche, zu denen es keine Stellen gab. Der Staat war
durch seinen Lohnersatz zum Konkurrenten der Wirtschaft geworden.
Er bot Einkommen ohne Arbeit an und hat dadurch Mindestlöhne
definiert, die in vielen Fällen über den Löhnen
lagen, zu denen die private Wirtschaft profitable Stellen
hätte schaffen können. Er hat auf diese Weise das Problem
geschaffen, dessen Konsequenzen er eigentlich nur abmildern wollte.
Der Staat hat sich aus seiner Rolle als Lohnkonkurrent nun ein
Stück weit zurückgezogen. Aber der Rückzug ging mit
einem Sozialabbau einher.
Das Parlament: Jetzt gibt es unter ALG
II sozusagen die alte Sozialhilfe.
Hans-Werner Sinn: Ja, das stimmt. Auch
das ALG II ist ein Lohnersatz, der nicht ganz knapp bemessen ist.
Und das ist auch wieder ein Problem für den Arbeitsmarkt. Eine
vierköpfige Familie bekommt 1.550 Euro monatlich. Das Geld
wird unabhängig von der persönlichen
Leistungsfähigkeit gezahlt und begründet ebenfalls sehr
hohe Mindestlohnansprüche. Wenn man etwas hinzuverdienen will,
sind die ersten 100 Euro frei. Bei jedem zusätzlichen Euro
nimmt der Staat einem 80 Cent wieder weg. Ab 900 Euro eigenen
Verdienstes nimmt er sogar 91 Cent für jeden zusätzlich
verdienten Euro weg. Wenn also einer für eine Mehrarbeit
über 100 Euro hinaus fünf Euro netto in der Stunde haben
will, wie er das am Schwarzmarkt auch verdienen kann, dann braucht
er brutto fünf Mal so viel, also 25 Euro. Und wer für
eine Mehrarbeit über 900 Euro hinaus fünf Euro netto
verdienen will, braucht elf Mal so viel, also 55 Euro brutto.
Für solche Löhne gibt es keine Jobs.
Das Parlament: Was schlagen Sie
vor?
Hans-Werner Sinn: Ich will die
aktivierende Sozialhilfe, die auch der Bundespräsident in
seiner Rede vom Frühjahr der deutschen Politik empfohlen hat.
Man müsste die ersten 500 Euro Zuverdienst ohne Abzug
genehmigen. Danach würde ich das ALGII auch nur langsamer
abschmelzen und würde wenigstens 30 Cent von jedem
zusätzlich verdienten Euro übrig lassen. Dann fallen die
Lohnansprüche gewaltig. Im Anfangsbereich braucht man nur
fünf Euro brutto, wenn man fünf Euro netto haben will,
und für fünf Euro brutto wird es viele Jobs geben. Damit
das Ganze finanzierbar bleibt, würde ich aber auch das ALG II
um ein Drittel kürzen. Die vierköpfige Familie
bekäme dann nur noch etwa 1.050 Euro monatlich. Wer auf einer
Halbtagsstelle 500 Euro frei hinzuverdient, hätte wieder so
viel wie vorher, und wer mehr als nur halbtags arbeitet,
stünde besser da als heute.
Das Parlament: Was ist mit denen, die
keinen Job finden?
Hans-Werner Sinn: Wenn jemand dann
partout keinen Job für 500 Euro findet, kann er zur Gemeinde
gehen und dort für einen Lohn in Höhe des bisherigen
Arbeitslosengeldes II arbeiten. Er bekommt 1.550 Euro als Lohn
dafür, dass er der Gemeinde täglich acht Stunden zur
Verfügung steht, aber sonst keine Sozialleistungen
erhält. Ansonsten müsste er sich mit 1.050 Euro
Sozialleistungen begnügen.
Das Parlament: Aber was soll die
Gemeinde mit diesen Menschen anfangen? Macht sie nicht der privaten
Wirtschaft Konkurrenz, wenn sie sie bei sich
beschäftigt?
Hans-Werner Sinn: Die Gemeinde soll
Zeitarbeitsverhältnisse anbieten. Sie soll die ihnen
anvertrauten Arbeitnehmer nicht selbst bei sich einsetzen, sondern
sie zu einem frei auszuhandelnden Honorarsatz an die private
Wirtschaft verleihen, wobei sie sich der Hilfe der etablierten
Zeitarbeitsfirmen bedienen kann. Das Handwerk würde davon
profitieren. Einerseits kommen die ehemaligen Kunden der
Schwarzarbeiter zu ihnen, weil die Schwarzarbeiter keine Zeit mehr
haben. Sie müssen ja acht Stunden am Tag der Gemeinde zur
Verfügung stehen. Andererseits können die Handwerker bei
den Zeitarbeitsfirmen billige Arbeitskräfte entleihen, um
genau damit die höhere Nachfrage zu befriedigen.
Das Parlament: Es gibt immer wieder
Forderungen, Gesetze zu erlassen, Unternehmen in ihrer Freiheit zu
begrenzen, weil sie auf der einen Seite Jobs ins Ausland verlagern
und damit die Massenarbeitslosigkeit weiter anheizen und auf der
anderen Seite traumhafte Renditen einfahren. Was halten Sie
davon?
Hans-Werner Sinn: Das wäre ein
gefährlicher Weg. Wer solche Gesetze einführt, riskiert,
das Image des Standortes ganz und gar kaputt zu machen. Ein
Gefängnis zieht keine Investoren an. Es geht nur umgekehrt.
Man muss das Kapital hofieren und ihm günstige Bedingungen
bieten. Erfolgreich sind immer nur Länder, denen es gelingt,
das international mobile Kapital anzulocken. Ob es gefällt
oder nicht: Wegen der lukrativen Möglichkeiten, die sich den
Unternehmen in den ex-kommunistischen Ländern von Polen bis
China bieten, müssen wir den Unternehmen heute wesentlich
höhere Renditen zubilligen, als es früher nötig
war.
Das Parlament: Immer mehr gut
ausgebildete Frauen bekommen immer weniger Kinder. Da kann doch die
Rechnung weder in gesellschaftspolitischer Hinsicht, noch
demografisch, noch volkswirtschaftlich aufgehen.
Hans-Werner Sinn: Die Präferenzen
der Frauen zu arbeiten, muss man akzeptieren und ernst nehmen. Wenn
man das nicht tut, werden keine Kinder geboren. Die Gesellschaft
muss Wege finden, den Konflikt zwischen Kindererziehung und
Berufstätigkeit für die Frauen zu lösen, indem
Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen angeboten werden,
sodass die Frauen Kinder und Beruf miteinander verbinden
können.
Das Parlament: Auch Kinder mit
Migrationshintergrund und Kinder aus sozial schwachen Familien
würden von solchen Einrichtungen profitieren.
Hans-Werner Sinn: Ja. Und zudem sind
solche Einrichtungen ganz wichtig für die Kohärenz dieses
Landes. Wir können doch nicht anfangen, eine Unterschicht von
Migrantenkindern heranzuziehen. Das wäre die Quelle von
späteren Unruhen und Kriminalität. Wir müssen
versuchen, die Migrantenkinder so zu integrieren, dass sie die
deutsche Kultur als ihre eigene erleben. Eine Parallelgesellschaft
von Türken mit türkischer Kultur in Deutschland halte ich
nicht für richtig.
Das Parlament: Ist das demografische
Problem, das wir durch die geringe Geburtenrate haben, ein
Globalisierungsproblem?
Hans-Werner Sinn: Auf der Welt
insgesamt gibt es zu viele Menschen. Andererseits werden
arbeitsfähige Menschen schon in 20 Jahren, wenn die ersten
Baby-Boomer in Rente gehen, fehlen. Daraus könnte man
schließen, dass man die Lücke durch Immigration
schließen sollte. Aber das sind schon ganz erhebliche
Immigrationsströme, die wir dann brauchen würden. Gesetzt
den Fall, es würden nur junge Menschen immigrieren und wir
wollen im Jahr 2035, beim Höhepunkt der demografischen Krise
unseres Landes, die Relation von Alten und Jungen auf dem heutigen
Niveau halten, müssten 43 Millionen Menschen einwandern. Das
ist eine unglaublich hohe Zahl. Und auch die kommt nur unter der
unwirklichen Hypothese zustande, dass kein Immigrant selbst alt
wird und in Rente geht. Die Rechnung zeigt, dass die Immigration
als Lösung des deutschen demografischen Problems weit
überschätzt wird. So viel Immigration wie wir brauchen,
kann sich selbst der Liberalste nicht vorstellen.
Das Parlament: Wenn Sie Deutschland in
30 Jahren vor Augen haben: Wie leben, wie arbeiten wir, wie werden
wir uns verändert haben?
Hans-Werner Sinn: Die
Lebenswirklichkeit hängt entscheidend von den
Weichenstellungen ab, die wir jetzt ergreifen oder eben nicht
ergreifen. Wenn wir die Reformen machen, die wir brauchen und dem
Land eine neue Dynamik zurückgeben, wenn wir eine sinnvolle
Bevölkerungspolitik machen, dann kann ich mir sogar ein sehr
gutes Szenario vorstellen, bei dem wir unsere Position dauerhaft
verteidigen können. Wenn wir aber nicht agieren und
stattdessen so weiter machen wie bisher, kommt das Land auf der
schiefen Bahn, auf der es sich schon des Längeren bewegt,
irgendwann an den Punkt, wo es kein Halten mehr gibt. Nur wenn die
Deutschen den steinigen Weg durch die ökonomische Wirklichkeit
wählen, werden sie die neuen Auen finden, in denen sie ihr
Leben genießen können.
Das Interview führte Annette Rollmann
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