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Jochen Buchsteiner
Zur Bypass-Operation nach Bombay
Für Indien zählt nur die
Weltspitze
Noch bevor im Jahr 2008 die Olympischen Spiele
in Peking beginnen, fliegen die Inder auf den Mond. Jedenfalls
haben sie sich das vorgenommen. Ihr eigenständig entwickeltes
"Polar Satellite Launch Vehicle" soll neue Planetendaten an das
Hauptquartier der Indischen Weltraumforschungsorganisation, ISRO,
in Bangalore übermitteln. Die Mission "Chandrayan Pratham",
oder "Mondschuß Eins", ist in einem Land mit 300 Millionen
Armen nicht unumstritten. Aber K. Kasturirangan, der Nestor der
indischen Raumfahrt, lässt keinen Zweifel zu: "Die Frage
lautet nicht, ob man sich das leisten kann, sondern ob man sich
leisten kann, es zu ignorieren."
Das ist der neue Ton: bestimmt und
bedingungslos dem Fortschritt zugewandt. Nichts erscheint dem
modernen Indien zu hoch, zu schwierig oder zu groß. Die
Weltspitze ist die gültige Markierung, ob in der
Weltraumforschung oder der Biochemie, in der
Informationstechnologie oder der Rüstung, in der Filmindustrie
oder der Literatur. Ähnlich wie China begreift sich Indien als
ehrwürdige Zivilisation, die im Mittelfeld nichts zu suchen
hat und ihren natürlichen Platz ganz oben sieht.
Begierig nimmt die Öffentlichkeit auf,
was dem Selbstverständnis schmeichelt. Das offizielle Indien
bezeichnet sich als "fünftgrößte Volkswirtschaft der
Welt" - und verschweigt dabei gerne, dass dies nur auf der
umstrittenen Berechnungsgrundlage der Kaufkraftparität
zutrifft.
Es hat lange gedauert bis Indien wieder als
bedeutende Nation wahrgenommen wurde. Bei aller Beschwörung
einer großen Vergangenheit war auch den Indern bewusst, dass
die letzten 1.500 Jahre nicht nur erhabene Momente bereithielten.
Die Phase, in der Indien vorbildhaft ausstrahlte und der Menschheit
Kulturtechniken und Religionen schenkte, endete im Grunde mit dem
Verfall des Guptareiches im 5. Jahrhundert. Das erste
Großreich, das nach der Gupta-Dynastie auf indischem Boden
wiedererstand, war das der muslimischen Moguln. Abgelöst wurde
es im 19. Jahrhundert vom Britischen Imperium. 500 lange Jahre
wurden die Inder in ihrem eigenen Land bevormundet. Die meisten
Touristen sind überrascht, wie wenig "typisch Indisches" auf
den gängigen Reiserouten zu sehen ist. Der Großteil des
baugeschichtlichen Erbes, das heute geschützt und gepflegt
wird, trägt die Handschrift der Fremdherrscher. Die einzige
Sprache, die von allen gebildeten Indern gleichermaßen
gesprochen wird, ist nicht die indische, sondern
Englisch.
Das historische Wechselbad von
Prägekraft und Fremdbestimmtheit, Stolz und Verletzung
beeinflusst die subkontinentale Seele bis heute. In kaum einem
anderen Land durchdringen sich Minderwertigkeitsgefühle und
Protzertum, Selbstmitleid und Arroganz in solcher Weise. Sichtbar
wird dies in einem beinahe neurotischen Umgang mit den Kategorien
von Realität und Anspruch. Der Hang zur Autosuggestion erfasst
viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Der oft
selbstgefällige Stolz auf die "größte Demokratie der
Welt" vernebelt bisweilen den Blick auf ihre beträchtlichen
Defizite. Korruption, Gewalt und eine Kultur des Dynastischen
berauben das politische System Indiens vieler natürlicher
Vorteile, die es gegenüber autoritär regierten
Nachbarstaaten ausspielen könnte.
Offiziell hat sich Indien als
Entwicklungsland verabschiedet; nur fünf "Geber" sind noch
zugelassen. Zieht man in Betracht, dass Indien seit einiger Zeit
selber Spendierhosen anzieht und sich als Gönner in
ärmeren Ländern profiliert, müsste es prächtig
um die indische Sozialstatistik stehen. Doch die Lage spottet noch
immer jeder Beschreibung. Nur etwas mehr als die Hälfte der
Inder kann lesen und schreiben. Jedes vierte Kind geht nicht zur
Schule. Die Lebenserwartung zählt mit 64 Jahren zu den
niedrigsten der Welt. Weite Teile der ländlichen
Bevölkerung sind von ärztlicher Versorgung, Frischwasser,
Elektrizität und Kommunikation abgeschnitten. Wo sich die
Metropolen in der östlichen Nachbarschaft städtebaulich
neu entwarfen, bemühen sich indische Städte, endlich
"kuhfrei" zu werden - was nichts daran ändert, dass in Bombay
ein pinkelnder Elefant noch immer einen Stau im Zentrum
auslösen kann.
Indien-Apologeten wenden ein, der Aufstieg
vollziehe sich hinter den Elendsfassaden, gewissermaßen
unsichtbar. Wo China seinen Erfolg nach außen dokumentiere und
Besucher mit gläsernen Wolkenkratzern und futuristischen
Straßensystemen blende, stärke Indien sich von innen.
Tatsächlich ist es vor allem die Dienstleistungsbranche, die
das indische Wachstum generiert. Während die chinesische
Volkswirtschaft von der Industrie dominiert wird, verdienen die
Inder ihr neues Geld in Callcenter und Banken.
Spötter machen indes darauf aufmerksam,
dass selbst Indiens Ruf als Dienstleistungsgesellschaft und
"Software-Nation" ein paar Nummern zu hoch gegriffen sei. Der
Umsatz der gesamten indischen IT-Branche liegt zur Zeit bei etwas
mehr als zehn Milliarden Euro im Jahr - eine Summe, die allein der
amerikanische Software-Konzern Microsoft jeden vierten Monat
umsetzt. Sie weisen darauf hin, dass China siebenmal so viele
Internetanschlüsse und sechsmal so viele Telefonbenutzer hat.
Sie rechnen vor, dass die Volksrepublik zehnmal so viel
Auslandskapital anzieht, zehnmal höhere staatliche
Investitionen tätigt, zehnmal so viel Stahl verbraucht und -
wer es besonders drastisch mag - über ein Autobahnnetz
verfügt, das 60-mal größer ist als das
indische.
Kaum etwas fasziniert die Inder so sehr wie
das Kräftemessen mit dem Nachbarn, der noch 1980 in fast allen
Disziplinen gleichauf lag. Zeitungsserien, Bücher und
Symposien beschäftigen sich mit dem Ländervergleich.
Lange Zeit begründeten die Inder ihr dramatisches
Hinterherhinken mit den Nachteilen der Demokratie. Während in
Indien jede öffentliche Investitionsentscheidung von allen
Interessengruppen diskutiert wird, könne eine Diktatur
Investoren mit klaren und verbindlichen Zusagen anlocken. Diese
Hypothek hat sich inzwischen in ein Guthaben verwandelt. Nicht nur
Inder, auch ausländische (oft von China enttäuschte)
Geschäftsleute betonen heute die Vorteile der eingeübten,
vergleichsweise krisensicheren Demokratie. Zwar geht alles etwas
langsamer und beschwerlicher, aber die Gefahr eines
plötzlichen Kollaps scheint in Indien gebannt. In den
großen Städten herrscht ein intellektuelles Klima, das
man in den meisten Metropolen des östlichen Asiens vergebens
sucht.
Diese Mischung aus akademischem Milieu,
billiger Arbeitnehmerschaft und Englisch als Verkehrssprache hat
Indien als Standort für Investitionen und Auslagerungen
attraktiv gemacht. Keine Branche wächst dabei so rasant wie
die "Outsourcing-Industrie". Es gibt kaum noch etwas, das
Ausländer nicht auch in Indien herstellen, entwickeln oder
bearbeiten können. Von der Handarbeit bis zur
hochcomputerisierten Massenproduktion, von der Kundenbetreuung bis
zur Buchhaltung und zur Qualitätsprüfung - die Inder
können es meistens genauso gut und verlangen wesentlich
weniger Geld dafür.
Selbst auf so sensiblen Feldern wie der
Gesundheitsversorgung bieten die Inder weltweit ihre Dienste an.
Jahr für Jahr werden allein in den Krankenhäusern der
Apollo-Gruppe 30.000 Patienten aus dem Ausland behandelt. Vor allem
Briten fliehen vor ihrem maroden Gesundheitssystem und lassen sich
von meist in Amerika ausgebildeten Ärzten in Delhi oder Bombay
Bypässe legen und künstliche Hüftgelenke
einsetzen.
Wenn China zur "verlängerten Werkbank
der Welt" geworden ist, dann entwickelt sich Indien zum
"verlängerten Kundentisch der Welt". Während die
chinesische Öffnung aus einer inneren Logik heraus betrieben
wurde, bedurfte die indische eines äußeren Anstoßes.
Der Fall der Mauer und der folgende Zusammenbruch der Sowjetunion
veränderten das Koordinatensystem auf dem Subkontinent. Denn
bis dahin war die Sowjetunion unter den mächtigen Staaten der
Erde Indiens bester Freund. Mit seinem Kalten Krieg gegen den
kapitalistischen Westen schien der sowjetische Diktator Stalin
schließlich auf die "richtige Seite", die der ausgebeuteten
Entwicklungsländer, gewechselt zu sein: "Auch wenn Indien
offiziell nie das Argument übernahm, dass die Sowjetunion der
natürliche Verbündete der "Dritten Welt" in ihrem Kampf
gegen den Westen gewesen ist, war dies eine Sichtweise, die vom
größten Teil der indischen Intelligenzia geteilt wurde",
bilanziert der indische Publizist Raja Mohan.
Ein Teil dieses Erbes lebt fort. Bis heute
schotten sich bestimmte Produktionszweige vom internationalen
Wettbewerb ab, Arbeitnehmerrechte werden in Indien - zumindest in
den klassischen Großindustrien - höher gehalten als in
der Nachbarschaft, die Regierung in Delhi verabschiedet noch immer
"Fünfjahrespläne". Auch kulturell hat die Sowjetunion in
Indien überlebt. Das Klima der Muffeligkeit ist in den
Behörden tief verankert. Auf den Obst- und
Gemüsemärkten werden die Waren mit einer Lieblosigkeit
feilgeboten, die nur einer langen Erfahrung mit dem
kollektivistischen Wirtschaften entspringen kann.
Heute blicken die Inder nach Amerika. Die
politischen Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001
erwärmten den bilateralen Frühling. Delhi mit seinen
intimen Kenntnissen der islamischen Nachbarschaft wurde zu einem
Verbündeten in Bushs "Anti-Terror-Krieg". Auch als
Handelspartner haben die USA (knapp vor China) den ersten Platz
eingenommen.
Gleichwohl widersetzte sich Indien mit
Rücksicht auf seine Interessen im Mittleren Osten dem
Drängen Washingtons, Truppen in den Irak zu schicken. Das
Wirtschaftswachstum von durchschnittlich sechs Prozent hat Indiens
Bedarf an Energie stark ansteigen lassen. Seit Beginn der
90er-Jahre versucht das Land, seine Handelsbeziehungen mit den
Ölstaaten am Golf neu zu fundieren.
Sorgenfrei verläuft auch das
Näherrücken an die Kernstaaten der Asean. In Singapur,
Jakarta und Bangkok ist erkannt worden, dass ein starkes Indien
eine chinesische Dominanz in Asien verhindern helfen kann, auch
wenn Indien als Konkurrent gefürchtet wird.
In politischen Kreisen wurde unlängst
ein Essay des früheren britischen Vizekönigs Lord Curzon
aus dem Jahr 1909 wiederentdeckt, der die Bestimmung Indiens in
einem fast historischen Licht erscheinen lässt. Unter dem
Titel "Indiens Platz im Imperium" würdigte der frühere
Herrscher die "kostbaren Vorteile" des Subkontinents: "Seine
zentrale Lage, seine großartigen Ressourcen, seine wimmelnde
Vielzahl von Menschen, seine Reserve militärischer
Stärke." Curzons Schlussfolgerung erinnert an die Rhetorik der
heute in Indien Regierenden: "Es ist offensichtlich, dass Meister
Indien unter modernen Bedingungen die größte Macht auf
dem asiatischen Kontinent werden muss - und deshalb, sei
angefügt, in der Welt."
Jochen Buchsteiner ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" und lebt in Delhi. Soeben ist von ihm im Rowohlt Verlag
das Buch "Die Stunde der Asiaten. Wie Europa verdrängt wird"
erschienen.
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