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Kristin Kupfer
China erfindet sich neu
Auf dem Land herrscht das Mittelalter, an den
Küsten westliche Lebensart
Ein Zahlenzauber liegt über China.
Analysten beschwören ein Reich der Mitte zwischen Wunder und
Wahn: Konstante Wachstumsraten von um die neun Prozent,
Spitzenempfänger von ausländischen Direktinvestitionen,
Verdopplung des Handelsvolumens seit 2001 von 510 auf 1.100
Milliarden US-Dollar und damit Platz drei in der Welt. Die
Volksrepublik liegt aber auch auf Platz zwei des weltweiten
Primärenergieverbrauchs und der CO2-Emissionen; 89 Prozent der
Hinrichtungen weltweit haben 2004 in China stattgefunden, die Rate
der faulen Kredite bei den vier großen Banken liegt zwischen
22 und 50 Prozent, und das Land hat nur eine Partei. Das passt
alles nicht zusammen.
Chinas Lage ist eine Frage des Standpunkts,
findet Frau Guo und zeigt auf die Hügel rund um die Große
Mauer bei Mutianyu, circa 80 Kilometer nordöstlich von Peking.
"Wenn ich morgens hier hochsteige, muss ich abends wieder
runtergehen", sagt die 45-Jährige, "ohne Berg, kein Tal, so
ist es auch mit meinem Land". So trägt sie ihre
selbstgestrickten Wollpantoffeln und einen Behälter für
das staatliche Toilettenhäuschen jeden Tag die rund 110 Meter
Höhenmeter auf und ab. Halb Privatunternehmerin und halb
Staatsangestellte sei sie, lacht Frau Guo, nur mit beiden
Einkünften kann sie gut leben und ihrer Tochter das Studium in
Peking finanzieren. Aus ihrem Dorf sei sie noch nie weg gewesen,
doch sie kann ein paar Brocken Englisch und weiß, dass die
verschiedenen Bilder auf den Euro-Münzen kein Zeichen für
Fälschungen sind. Denn Ausländer kommen oft hierher und
bleiben an ihrem Stand stehen.
Chinas Vergangenheit ist so atemberaubend wie
seine Zukunftsmöglichkeiten. Eine Mauer zum Schutz gegen
ausländische Barbaren braucht die Volksrepublik heute nicht
mehr, sie profitiert vom Welthandel. Die Konferenz für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
prognostiziert in ihrer ersten, jüngst veröffentlichten
China-Studie, dass Peking im Olympiajahr 2008 Deutschland als
Exportweltmeister ablösen wird. Knapp über die
Hälfte des chinesischen Exportwachstums 2004 produzierten
ausländische Firmen, laut der Boston Consulting Group sorgt
Chinas Wachstum für eine Abnahme von rund 1,4 Millionen
Arbeitnehmern in Deutschland bis 2015.
Szenarien eines (energie)hungrigen Drachens,
der die Welt auffrisst: Der chinesische Ölverbrauch wird
jährlich um rund zehn Prozent wachsen, im Jahr 2025
könnte China die USA als größten Emmitenten von
Treibhausgasen überholen und 2031 mit 1,1 Milliarden sogar die
Zahl der Autos in den Vereinigten Staaten übertreffen. Sollte
die Volksrepublik westlichen Entwicklungstrends folgen, droht der
globale Kollaps.
Jenseits westlicher Belehrungsmodelle haben
chinesische Analysten längst selbst die Risiken des Modells
China erkannt. Der Vizechef des staatlichen Büros für
Umweltschutz, Pan Yue, zeichnet ein brutales Bild: "Ein Drittel der
chinesischen Städte leidet unter starker Luftverschmutzung,
und ein Drittel der ländlichen Flüsse ist stark
verschmutzt", so Pan in einem Interview mit der "Zeit". Der Primat
der rasanten Wirtschaftsentwicklung mit forcierten
Industrieprojekten, Verschmutzungen und Verwüstungen bedroht
auch Chinas "Nahrungssicherheit". 22 Prozent der
Weltbevölkerung versorgt die Volksrepublik mit neun Prozent
der weltweit landwirtschaftlich nutzbaren Fläche.
Nahrungsimporte sind für die politische Führung brisanter
als die steigenden Ölimporte, denn das macht ihre
Legitimationsbasis als Wohlstandspatriarch brüchig.
Vor einer "permanenten Verschlechterung der
gesamten Lage Chinas" warnt der chinesische Wirtschaftsprofessor Hu
Angang und verweist auf wachsende Ungleichheit, welche das Land in
"Mosaiksteine" zerteilt. Ein Fünftel der Chinesen, so viel
leben in den prosperierenden Küstenprovinzen, besitzen 80
Prozent der Bankeinlagen. Die ländlichen Bewohner, rund zwei
Drittel der Bevölkerung, verdienen mit knapp unter 300 Euro im
Jahr dreimal so wenig wie die Städter. "Mein Sohn kennt das
Leben der Bauern gar nicht, er ist nie durch Schlamm gelaufen oder
hatte kein Wasser", sagt Privatunternehmer Wu aus Suzhou, eine
Stadt rund eine Stunde westlich von Shanghai. Seine Eltern haben
noch eine kleine Scholle mit Getreide und Früchten. Aber auch
er fühle sich heute oft mehr verbunden mit seinen
europäischen Geschäftspartnern rund 8.000 Kilometer
entfernt. Ihnen verkauft Herr Wu Verkehrssicherheitstechnik, die
hier noch niemanden interessiert.
Dabei steht das Land kurz vor der "Alarmstufe
Rot", so berichtete Ende September die "Parteinahe Volkszeitung".
Der Gini-Koeffizient, welcher die Einkommens-ungleichheit misst,
steht bei kritischen 0,45. Deshalb propagiert Staats- und
Parteichef Hu Jintao den "Aufbau einer harmonischen sozialistischen
Gesellschaft". Was der Markt nicht schafft, kann nur die Partei
gerade rücken. An notwendige strukturelle Reformen traut sich
Peking (noch) nicht ran, denn die berühren das politische
System. Beispiel: Politikdurchsetzung auf lokaler Ebene, dort wo
sich Chinas Zukunft entscheiden wird. Trotz neuer Richtlinien aus
Peking werden sich örtliche Kader durch den Wegfall von
ländlichen Steuereinnahmen ohne neuen Finanzausgleich, ohne
unabhängige Bauernverbände und Kontrollinstanzen auch
weiterhin für mehr Industrieprojekte und illegale
Gebühren und damit gegen Umweltschutz und ländliche
Interessen entscheiden. Nur unabhängige Gerichte und Medien
können die Korruption, aus Sicht der Partei ihr
"Krebsgeschwür", eindämmen. Der Präsident des
Obersten Gerichtshofs schrieb deshalb jüngst in einem Aufsatz
vorsichtig über die "langfristige Wichtigkeit von
Parteiaktivitäten unter und nicht über den
Gesetzen".
Nicht nur mit der Verfassungsautorität,
auch mit der Macht des Marktes ringt Peking bei allen
Handelsgewinnen noch immer. Zwar will man das marode Bankensystem
durch ausländische Investoren und Börsengänge in
Übersee aufpäppeln, andererseits ernennt die
Kommunistische Partei weiterhin das Führungsmanagement und
streckt auch vor nationalen Übernahmen und Fusionen noch
zurück. Die Angst vor einer unabhängigen und
selbstbewussten Bildungselite widerspricht den selbst formulierten
Erfordernissen einer innovativen, zukunftsfähigen
Wissensgesellschaft. Doch die eigene Bevölkerung ist
wissbegierig und lernbereit. Wie Busfahrer Zhu, der nur die
Grundschule besucht hat und sich nun selbst in Politik und
Wirtschaft unterrichtet. "China hat in den letzten Jahren vieles
vom Westen gelernt, nun betreten wir selbst die Welt", sagt der
56-Jährige und zeigt ein Foto seiner Tochter, die in den USA
studiert hat. Über 100.000 Studenten folgten 2003 der
Regierungsdevise "Rausgehen" (zouchuqu). Peking selbst bietet mit
im amerikanischen Ölgeschäft (Unocal Corporation) und
kauft sich im Rahmen seiner Auslandsinvestitionen (1991 nur drei,
2002 schon 35 Milliarden US-Dollar) in Firmen ein (IBM, Rover, auch
Schneider/Dual und Fairchild Dornier). "China soll mitreden
dürfen, und zwar auf gleicher Augenhöhe", findet
Unternehmer Wu und spricht von dem zwiespältigen
Verhältnis zum Ausland.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat Chinas
erst Kriegsniederlagen, dann maoistische Katastrophen durchlitten.
"Wir mussten unsere eigenen Fähigkeiten und Prinzipien immer
wieder neu finden", sagt der 45-jährige Geschäftsmann.
Bei der eigenen Standortbestimmung tendieren deshalb manche
Chinesen zu einem aggressiven Nationalismus, der sich bevorzugt
gegen den Erbfeind Japan entlädt. Alte Kriegswunden und neue
Ressourcenkonflikte sind die Anlässe. "Aber China will die
Probleme friedlich und gemeinsam lösen, meint Wu. Viele
Umbrüche habe der Westen früher oder langsamer erlebt,
andere Herausforderungen, wie der Umbau sozialer Sicherungssysteme,
Energiesicherheit und die Suche nach neuen Werten verbinden heute
doch beide. Begleitet die westliche Welt Chinas Entwicklung
verständnis- und respektvoll, so kann sie davon profitieren.
Dazu muss sie bereit sein - ähnlich wie China vor erstmals
hundert Jahren - fremde Konzepte nicht als Bedrohung, sondern als
Prüfstein für die eigenen Fähigkeiten und Prinzipien
zu sehen.
Kristin Kupfer arbeitet als Sinologin und Politologin an der
Ruhr-Universität in Bochum.
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