11.3.2.1 Was der Bericht ausblendet: Die
Aushöhlung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit durch die
Finanzmärkte
11.3.2.1.1 Alleinherrschaft der
Eigentümer: Der Druck durch die
Shareholder-value-Orientierung
Der Mehrheitsbericht hatte schon im
Zwischenbericht unter dem Titel „shareholder value“ die
Bedeutung der großen Finanzanleger für die
Geschäftspolitik großer Unternehmen in verharmlosender
Weise behandelt. Die Ergänzungen im Abschlussbericht sind
offensichtlich unter dem Eindruck des Enron-Skandals zustande
gekommen und erschöpfen sich auf einen Vergleich
amerikanischer und europäischer Methoden der Rechnungslegung.
Die hierzu gehörige Handlungsempfehlung (2.3) fällt
erheblich schwächer aus als die im Zwischenbericht. Der
Hinweis auf die wachsende Macht der institutionellen Inves
toren, die Kernursache für das Aufkommen der
Shareholder-Value-Orientierung, kommt nicht mehr vor.
Es geht bei shareholder value aber nicht in
erster Linie um die Einführung einer neuen Meßzahl
für den Unternehmenswert, deren wissenschaftliche
Solidität mit Recht angezweifelt wird. Die
Shareholder-Value-Orientierung ist eine Kampfansage der
institutionellen Anleger an eine Unternehmenspolitik, die neben den
Interessen der Eigentümer (shareholder) auch noch andere
Interessen berücksichtigt (vgl. AG1 AU 14/75). Sie richtet
sich gegen Mitbestimmung der Beschäftigten und Gewerkschaften,
und allgemeiner gegen eine Unternehmenskultur, die in den
vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen Formen in harten
Auseinandersetzungen als Alternative zum angelsächsischen
Modell der Unternehmensführung in Kontinentaleuropa
durchgesetzt worden war. Der Kern dieser Alternative: Große
Unternehmen mit Tausenden von Beschäftigten sollen nicht als
Privatveranstaltung von Privatleuten im ausschließlichen
Interesse von Privatleuten geführt werden; es handelt sich
dabei um soziale Organisationen, in denen zum einen ein
Mindestmaß an innerer Demokratie herrschen und die zum anderen
in ein Geflecht sozialer, ökologischer und
entwicklungspolitischer Verantwortung einzubinden sind.
Eine solche Orientierung war auch in der
Vergangenheit immer wieder harten Angriffen ausgesetzt und ist oft
verletzt worden. Mit der Entwicklung und Liberalisierung der
Finanzmärkte und der dominierenden Rolle der institutionellen
Anleger erhalten diese Angriffe neue Wucht, soll die
gesellschaftliche Verantwortung privater Unternehmen vollends
liquidiert werden. Die Folgen beschränken sich nicht auf die
Unternehmen, in denen die institutionellen Anleger unmittelbar
präsent sind und direkten Druck auf das Management
ausüben. Über die Mechanismen der Börse, Rating und
Ranking, die Konkurrenz, über neue Standards und Benchmarks
für die Rechnungslegung, Konditionen für Zulieferer und
Kunden wird der Druck auf andere Unternehmen übertragen und
trifft auch – vielfach in besonderer Härte –
mittelständische Firmen. Shareholder-Value-Orientierung ist
damit ein Kürzel für eine massive Welle der Gegenreform
in der Unternehmensführung. Dieser Aspekt spielt im
Abschlussbericht der Mehrheit eine noch geringere Rolle als im
Zwischenbericht.
11.3.2.1.2 Aushebelung der Demokratie:
der „disziplinierende“ Druck der Finanzmärkte auf
die Politik
Der Endbericht verliert kein Wort über
die Gefährdung der parlamentarischen Demokratie, die von dem
„disziplinierenden“ Druck der großen Akteure auf
den Finanzmärkten auf die Politik von Parlamenten und
Regierungen ausgeht. Dabei wird dieser Druck von denen, die ihn
ausüben, gar nicht bestritten, sondern sogar als Vorzug der
modernen Finanzmärkte herausgestellt: Sie reagieren schnell
und hart auf politische „Fehler“ und erzwingen politische Korrekturen.
Als Fehler gilt alles, was nicht im Interesse der
,,Finanzinvestoren“ liegt: ein starkes öffentliches
System der sozialen Sicherheit, hohe Löhne, energische
Beschäftigungs- und Umweltpolitik, großzügige
Entwicklungspolitik, zu hohe Steuern. Die „Korrektur“
dieser Fehler erfolgt seit den 80er Jahren durch restriktive Geld-
und Finanzpolitik, Sozialabbau und die Lockerung arbeits-, sozial-
und umweltrechtlicher Standards. Die Hebel, mit denen die
institutionellen Investoren ihre Interessen gegenüber der
Politik und der Gesellschaft durchsetzen, sind die Konkurrenz um
Neuanlagen und ihre „Exit-Option“, d.h. ihre
Fähigkeit, das Kapital, das sie in einem Land angelegt haben,
schnell und praktisch ohne Kosten abzuziehen. Allein die Drohung
mit Kapitalverlagerung veranlasst Regierungen, sich auf einen
„Stand ortwettbewerb“ einzulassen, bei dem
Schritt für Schritt soziale und demokratische Fortschritte im
Namen der Standortattraktivität geschleift werden.
Darüber hinaus spielen die Bewertungen der Rating-Agenturen
mit ihren Bonitätsprüfungen alleine nach zu erwartender
Renditehöhe als Anlagemaßstab eine besondere Rolle
für die Konzentration der Finanzanlagen. Die auf den
Finanzmärkten dominierenden Banken und Anleger haben auf diese
Weise dazu beigetragen, dass sich die wirtschaftspolitische
Hauptausrichtung in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend
zugunsten eines neoliberalen Marktradikalismus gewandelt hat. Die
Rolle der Politik soll sich darauf beschränken, privates
Eigentum zu schützen und öffentliches zu privatisieren,
Märkte zu öffnen und für stabile Preise zu sorgen
– notfalls durch Auslösung von Krisen und
Arbeitslosigkeit.
Im internationalen Rahmen spielen seit den
70er Jahren der Internationale Währungsfonds und die Weltbank
als globale, von den großen Finanzzentren des Nordens
dominierte Finanzorganisationen vor allem gegenüber den
Entwicklungsländern eine ähnlich disziplinierende Rolle
mit polarisierenden Folgen. Sie verbinden mit ihren
Strukturanpassungsprogrammen wirtschaftspolitische Auf lagen,
die im wesentlichen auf Privatisierung, Liberalisierung,
Deregulierung und eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik zielen.
Diese Politik hat zum einen zu schweren Finanzkrisen mit
erheblichen sozialen, ökologischen und politischen Kosten
geführt. Zum anderen haben IWF und Weltbank die
Handlungsautonomie der jeweiligen Regierungen, Parlamente, der
Bürger und Bürgerinnen, demokratisch über ihre
Wirtschafts politik zu entscheiden, weitgehend beseitigt. Die
Verteilung des Stimmrechts bei IWF und Weltbank aus
schließlich entsprechend der Einlagen gibt den USA und den
Industrie ländern ein massives Übergewicht und
unterstreicht den inakzeptablen undemokratischen Charakter beider
Institutionen.
Diese Politik ist aus mehreren Gründen
schädlich: Zum einen untergräbt die politische
Dominanz der Finanzmärkte die Grundlagen der parlamentarischen
Demokratie. Disziplinierung und Kontrolle der Regierung und die
Korrektur von Regierungspolitik werden nicht mehr als Aufgabe der
Parlamente und Gerichte angesehen, sondern von den
Finanzmärkten diktiert, oder Parlamente geraten zu machtlosen
Exekutoren der von den Finanzmärkten erhobenen Anforderungen.
Zum anderen trägt die Dominanz der Finanzmärkte
dazu bei, dass die soziale Polarisierung in den meisten
Ländern und zwischen den Ländern des Nordens und denen
des Südens zunimmt. Der Preis dieser Politik in den
Industrieländern war Wachstumsschwäche, höhere
Arbeitslosigkeit und eine rigorose Umverteilung zu Lasten der
Löhne und Gehälter. Im Verhältnis zwischen dem
Norden und dem Süden hat sich die Kluft zwischen dem
ärmsten Fünftel und dem reichsten Fünftel der Welt
– gemessen am Prokopfeinkommen – von 1960 bis 1999 von
1: 30 auf 1: 72 vergrößert, und die Zahl der Armen
– die weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben haben
– hat zwischen 1988 und 1998 um mehr als 100 Millionen
zugenommen.
11.3.2.1.3 Die Auslieferung der sozialen
Sicherheit an die Finanzmärkte
Ein gravierender Mangel des Endberichts liegt
darin, dass er den Einfluss der großen Akteure auf den
Finanzmärkten bei der massiven Beschädigung der Systeme
der sozialen Sicherheit nicht thematisiert. Unter dem Titel
„Modernisierung der Sozialsysteme“ wird
gegenwärtig in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem
Tempo in allen großen Ländern Kontinentaleuropas
privatisiert. Das wird u.a. mit der Behauptung begründet, die
geltenden gesetzlichen und paritätisch oder aus den
öffentlichen Haushalten finanzierten Umlagesysteme seien
angesichts einer älter werdenden Bevölkerung nicht mehr
finanzierbar und müssten zunehmend durch private Systeme
ergänzt bzw. ersetzt werden. Diese Begründungen halten
einer theoretischen und empirischen Überprüfung nicht
stand. Bei Änderungen der demografischen Struktur der
Bevölkerung, muss, wenn der Lebensstandard in den
Sozialsystemen aufrecht erhalten werden soll, in jedem Fall ein
Realtransfer von den Beschäftigten zu den im Sozialsystem
befindlichen Personen stattfinden – unabhängig von der
Organisationsform dieses Transfers. Bei der Privatisierung der
Systeme der sozialen Sicherheit handelt es sich vielmehr allgemein
um eine doppelte Umverteilung zugunsten von Unternehmen und
höheren Einkommensschichten: Zum einen werden die
Beiträge von Unternehmen zur Sozialversicherung
beschränkt, wäh rend sie für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die ihren bislang durch die gesetzliche Rente
gesicherten Lebensstandard im Alter auch weiterhin behalten wollen,
durch private Beiträge erhöht werden. Zum anderen
werden die Leistungen zugunsten der Einkommensschichten umverteilt,
die sich höhere Beiträge leisten können. Vor allem
aber handelt es sich um eine Subvention in Billionenhöhe
für die großen Versicherungen und anderen
institutionellen Anleger: Die Beiträge zur Sozialversicherung,
die in umlagefinanzierten öffentlichen Systemen unmittelbar
– d.h. ohne den Umweg über die Kapitalmärkte
– für Leistungen ausgegeben werden, fließen im Zuge
der Privatisierung zunächst als disponible Mittel in die
Portfolios der institutionellen Anleger, was negativ auf die
effektive Konsumnachfrage wirkt, und stärken ihre Position als
global players auf den internationalen Finanzmärkten. Die
Versicherungen und Finanzanleger, die eine Privatisierung der sozialen
Sicherungssysteme gefordert und maßgeblich betrieben haben,
sind zugleich die unmittelbar Begünstigten dieser
sozialstaatlichen Gegenreform. Benachteiligt ist die große
Mehrheit der Bevölkerung. Die Leistungen der gesetzlichen
Versicherungssysteme sinken, die Beitragsbelastung für einen
unveränderten Leistungsumfang steigt, und überdies
unterliegen die tatsächlichen Leistungen den Risiken der
Kapitalmärkte.
Es ist ein
zentrales Versäumnis der Kommissionsmehrheit, diese
Zusammenhänge im Bericht nicht angesprochen und kritisch
diskutiert zu haben. Der Grund dafür liegt allerdings auf der
Hand. Während der gut zwei Jahre, in denen die Kommission
arbeitete, hat die Bundesregierung den Einstieg in die
Privatisierung der Rentenversicherung durchgesetzt. Der damit
beschrittene Weg führt dazu, die soziale Sicherheit der
Menschen schrittweise an die Risiken der Finanzmärkte
auszuliefern. Wenn die Kommissionsmehrheit auf zwei Zeilen in der
Handlungsempfehlung 2.6 empfiehlt, die „Systeme der sozialen
Sicherheit in Europa so auszugestalten, dass sie vor den Risiken
der Finanzmärkte abgeschirmt bleiben“, dann ignoriert
sie damit die bereits jetzt in Europa ablaufenden und politisch
forcierten Entwicklungen.
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