11.3.5.3
Stärkung der Binnenmarktorientierung
Der Bericht stellt zwar berechtigter Weise
die wachsende Bedeutung einer internationalen Kooperation vor allem
in der EU und einer Koordination der europäischen Makropolitik
heraus, um der Standortkonkurrenz entgegenzuwirken. Im Endbericht
werden aus dieser Perspektive Empfehlungen entwickelt, die auch
für uns von zentraler Bedeutung sind. Es fehlen allerdings
entsprechende wirtschaftspolitische Empfehlungen, die konkrete
Schritte für eine verstärkte Binnenmarktorientierung
insbesondere in den einzelnen Mitgliedsstaaten beinhalten
müßten. Dabei lagen mit einem Gutachten (Scharpf 2001)
durchaus interessante Analysen und Ansätze genau für
diesen Aspekt vor.
Für uns stellt die primäre
Ausrichtung auf die Erhöhung von Exporten einen wesentlichen
Grund für den angeführten Verlust staatlicher Autonomie
in der Arbeits- und Sozialpolitik dar. Jede wirtschaftliche
Entwicklung benötigt eine ausreichende gesamtwirtschaftliche
Nachfrage. In Deutschland wird versucht, diese Nachfrage
primär über die Ausweitung des Exports und eine Dominanz
der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt zu steigern.
Im Zuge der europäischen Integration
sind nicht nur Industrie und Landwirtschaft, sondern auch die
Energie- und Bauwirtschaft, der Luft-, Wasser-, Schienen und
Straßengüterverkehr, die Post, Telekommunikation, die
Finanzdienstleistungen und die unternehmensbezogenen
Dienstleistungen dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt worden,
ohne soziale Standards und Grundrechte zu sichern. In der
Konkurrenz um Direktinvestitionen, verbunden mit der Drohung der
Kapitalverlagerung steigt die Abhängigkeit von den
Gewinnerwartungen der mobilen Investoren. Zur Stabilisierung der
Aktienkurse, insbesondere zur Abwehr von Übernahmen erfolgen
Entlassungen oder ein mittelfristiger Stellenabbau, wo früher
regional- und beschäftigungspolitisch orientierte
Lösungen angestrebt wurden (vgl. PDS-Minderheitsvotum, zu AG
Finanzmärkte). Unter diesen Bedingungen haben transnationale
Konzerne in der Vergangenheit den Druck auf Regierungen
erhöht, um Deregulierungen durchzusetzen, soziale Standards
und Rechte erodierten und der gewerkschaftliche Einfluss wurde
geschwächt. Die Tarifautonomie, als Grundbestandteil sozialer
Demokratie, wird in der politischen Diskussion vor allem von den
konservativen und liberalen Kräften zunehmend angegriffen. Der
soziale Konsens wurde weitgehend aufgekündigt und durch einen
„Wettbewerbskorporatismus“ ersetzt, in dem alle
sozialen und ökologischen Anforderungen an Unternehmen der
Verbesserung der Weltmarktstellung untergeordnet werden. Die
Reallohnsenkungen (seit 1993 um 6,4Prozent) führten nicht zu
mehr Arbeitsplätzen, sondern schwächten nur die
Binnennachfrage.
Hinzu kommt, dass im Durchschnitt in den
hochentwickelten Industrieländer die Beschäftigungsquoten
(Anteil der tatsächlich Beschäftigten an der
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64
Jahren) in den Branchen, die dem internationalen Wettbewerb
ausgesetzten sind, kontinuierlich von 41 Prozent (1970) auf
33Prozent Ende der neunziger Jahre abnahmen (vgl. Scharpf 2001:6).
Die im Endbericht geforderten europäischen Mindeststandards
und Mindestsozialeistungsquoten sind eine überfällige
Reaktion auf die sozialen Probleme. Darüber hinaus halten wir
jedoch Reformen für dringend notwendig, damit die
Sozialbindung des Eigentums und von Unternehmen gestärkt wird
sowie die Möglichkeit gewerkschaftliche und betriebliche
Gegenmacht auch in den wettbewerbsintensiven Branchen zu
organisieren, erweitert werden kann.
Obwohl alle hochindustrialisierten
Länder in den wettbewerbsintensiven Branchen dem gleichen
Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, geht aus dem angeführten
Gutachten (Scharpf 2001) hervor, dass es erhebliche Unterschiede
bei den Beschäftigungsquoten der Länder gibt: Der Anteil
der Beschäftigten an der Bevölkerung im
erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren lag im Jahre
1998 in der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Japan, den USA und
Großbritannien über 70 Prozent, in Belgien, Finnland,
Frankreich und Italien dagegen unter 60 Prozent. Deutschland lag
mit 60,5 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt von 66,5 Prozent
(ebd.). Diese Unterschiede sind laut Gutachten auf die
unterschiedlichen Entwicklungen in den Dienstleistungsbereichen
zurückzuführen. Dänemark weist dort beispielsweise
eine Beschäftigungsquote von 38,4Prozent auf, während
Deutschland mit 28,1 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt (33,6
Prozent) blieb.
In den
Industriegesellschaften wächst der Bedarf an sozialen,
kulturellen und ökologischen Dienstleistungen. In den
skandinavischen Ländern wurde hierzu die öffentliche
Daseinsvorsorge umfassend ausgebaut: Der Staat stellt ein
universelles Angebot von sozialen Dienstleis tungen für
Familien mit Kindern, für Kranke, Behinderte und alte Menschen
bereit, das einerseits die Familien von Pflege- und
Betreuungsleistungen entlastet, Bildungsleis tungen
verbessert und andererseits eine erhebliche Zahl von
Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor geschaffen hat. Die
Beschäftigungsquote im öffentlichen Sektor liegt in
diesen Ländern mit 20-25 Prozent deutlich höher als in
Deutschland mit 9,1 Prozent. Im Zuge dieser Entwicklung wurde auch
die Frauenerwerbstätigkeitsquote signifikant erhöht. Sie
liegt mit ca. 75 Prozent weit über der in Deutschland von 61,8
Prozent. Darüber hinaus wurden Dienstleistungen im
personenbezogenen, eher lokal erbrachten und konsumierten Bereich
ausgeweitet. In den anderen Industriestaaten werden soziale
Dienste, wie beispielsweise die für den Erhalt der
Gesellschaft unerlässlichen Pflege- und Betreuungsdienste, zu
einem größeren Anteil entweder außerhalb des
formellen Arbeitsmarktes in der Familie erbracht, oder über
den Markt bezogen. Ein Teil der Länder, z.B. die USA, haben
diese Dienstleistungen über einen Niedriglohnsektor
organisiert. Diese Länder weisen eine höhere
Beschäftigungsquote in privaten personenbezogenen
Dienstleistungen und eine höhere
Frauenerwerbstätigenquote aus als in Deutschland.
Während die positiven skandinavischen
Erfahrungen bei der Beschäftigung im öffentlichen
Dienstleistungssektor ausgeblendet werden, ist die politische
Diskussion zunehmend vom Ausbau eines Niedriglohnsektors für
private Dienstleistungen geprägt. Mit letztgenannten
Lösungsan satz befasst sich der Endbericht erfreulicher Weise
im Ganzen eher kritisch. Wir teilen diese Sicht und fügen
weitere kritische Argumente hinzu:
– Die Aufnahme eines
subventionierten Arbeitsplatzes im Niedriglohnsektor ist für
den Betroffenen keine Alternative zu einem qualifizierten
Arbeitsplatz, denn im „Mainzer Modell“ übersteigt
die geförderte Lohnspanne zuzüglich der staatlichen
Förderung kaum das Existenzminimum und schützt damit
nicht vor Armut trotz Arbeit.
– Eine Finanzierung
aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit würde
bedeuten, dass andere arbeitsmarkt politische
Fördermaßnahmen abgebaut werden müssten. Damit
würde sich der marginale Beschäftigungseffekt des
„Mainzer Modells“ zur Bedeutungslosigkeit
reduzieren.
– Eine Bezuschussung
oder Beitragsentlastung von Niedriglöhnen ist im Zusammenhang
mit einem teilweise auftretenden Fachkräftemangel das falsche
wirtschaftspolitische Signal und reduziert langfristig das
Innovationspotential der Wirtschaft.
– Eine
Niedriglohnsubventionierung untergräbt den sozialen
Zusammenhalt der Gesellschaft. Er ist ein Anreiz, der die
Polarisierung des Arbeitsmarktes verfestigt: Hier die durch den
beschleunigten Strukturwandel gesuchten, hoch bezahlten und mit
Normal arbeitsplätze ausgestatteten hochqualifizierten
Arbeitnehmer, dort der geringqualifizierte Rest, der nur noch
gering produktive Tätigkeiten ausführt, die deshalb nur
niedrig bezahlt und vom Staat bezuschusst werden müssen, um
die Existenzsicherung zu gewährleisten.
– Die erforderlichen
Leistungen werden auf diese Weise oftmals schlecht, inhuman oder
einkommensabhängig und damit Einkommensschwache ausgrenzend
erbracht.
Im Endbericht werden aus diesen negativen
Effekten aber keine Konsequenzen gezogen bzw. Handlungsempfehlungen
abgeleitet, um den sozialen und ökologischen Umbau
ähnlich wie in den skandinavischen Ländern auch bei uns
zu organisieren. Wir fordern deshalb ergänzend zum Endbericht
nachhaltig wirkende öffentliche Investitionen in den Ausbau
der öffentlichen Daseinsvorsorge und die gesellschaftliche
Infrastruktur, die mit sozial und tariflich geschützten
Arbeitsverhältnissen zu verbinden sind.
Ein Teil der
höheren öffentlichen Ausgaben sollte in den Ausbau der
kommunalen Infrastruktur fließen. Hierzu hat beispielsweise
das Institut für Urbanistik ermittelt, dass der
Investitionsbedarf der Kommunen die tatsächlich geleisteten
Investitionen bei weitem übersteigt – für die
Kommunen wird ein Investitionsbedarf von 650 Milliarden Euro
errechnet. Demgegenüber liegt der Anteil der öffentlichen
Bruttoinvestitionen – hierzu zählen die Ausgaben
für die Infrastruktur – am Bruttoinlandsprodukt im Jahre
2002 voraussichtlich nur noch bei 1,6 Prozent. Im Jahr 1994 lag
dieser Anteil noch bei 2,7 Prozent und Mitte der 60er Jahre bei
fünf Prozent. Im Jahr 2001 sind die kommunalen Investitionen
um 30 Prozent unter den Stand des Jahres 1992 gefallen. In der EU
ist die Bundesrepublik das Schlusslicht. Denn in der EU betragen
die Infrastrukturausgaben im Durchschnitt 2,5 Prozent des BIP und
selbst in den USA liegt der Anteil der öffentlichen
Bruttoinvestitionen bei 3,4 Prozent des BIP (ver.di Tarifbewegung
2002).
Empfehlung: Kommunales Infrastrukturprogramm
Wir empfehlen, dass
Bund, Länder und Gemeinden ein Programm zur
Infrastrukturentwicklung auflegen. Dabei geht es vorrangig um
Stadt- und Dorferneuerung, öffentliche Bildungsstätten,
Forschungseinrichtungen, sowie soziale und kulturelle Einrichtungen
und um die Verbesserung der ökologischen
Situation.
Empfehlung: Öffentlich geförderter
Beschäftigungssektor
Wir empfehlen den
Aufbau eines öffentlich geförderten
Beschäftigungssektors, in dem gesellschaftlich sinnvolle
Arbeit mit öffentlicher Finanzierung vorwiegend von
gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Trägern
geleistet wird. Ein Teil der notwendigen Mittel kann durch die
Projekte und Unternehmungen selbst erwirtschaftet werden. Im
ÖBS sollen tariflich bezahlte und unbefristete
Arbeitsplätze geschaffen werden und er soll beispielsweise
folgende Tätigkeitsfelder beinhalten:
– Unterstützung gesellschaftlicher
Selbstorganisation: Qualifizierung und Weiterbildung von
Ehrenamtlichen aus Politik, Vereinen, Bürgerinitiativen,
Dienstleistungsagenturen für Vereine, Unterstützung
für Selbsthilfe und Nachbarschaftsprojekte, Entwicklung von
Stadtteilkultur.
– Verbesserung der öffentlichen
Daseinsvorsorge: Altenpflege, Psychosoziale Beratungsgruppen,
Schuldner- und Verbraucherberatung, Gemeinwesenarbeit und
multikulturelle Projekte, Jugend- und Seniorenfreizeitprojekte,
Breitensport.
– Verbesserung der öffentlichen
Infrastruktur: Vorbereitende Arbeiten zur Entwicklung
ökologisch verträglicher Naherholungsprojekte,
Renaturierung von Biotopen und Entsiegelung von Flächen,
Begrünung von Wohngebieten, Anlage und Unterhalt von Spiel-
und Sportplätzen.
– Förderung sozialer und
ökologischer Innovationen: Wissenschafts- und
Gesundheitsläden, Förderung ökologischer
Produktinnovationen bis zur Marktreife, Ökologieberatung
für Haushalte, Handwerk usw.
Empfehlung: Stärkung gewerkschaftlicher und betrieblicher
Interessensvertretung
Stärkung von
Binnenmarktorientierung und Beschäftigung setzen neben dem
Ausbau öffentlicher Infrastruktur und Daseinsvorsorge
Maßnahmen voraus, mit denen die Sozialbindung von Unternehmen
auch in den wettbewerbsintensiven Branchen wieder verstärkt
wird. Dies schließt u.a. die Mitbestimmung in bezug auf
beschäf tigungssichernde Maßnahmen und bei Fusionen
und Übernahmen, die
Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen
und ein Verbandsklagerecht, die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns sowie das Verbot von Aussperrungen ein.
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