3.3.2
Kontroversen um Entwicklungsländer in der
Welthandelsorganisation
3.3.2.1 Marktzugang für
Entwicklungsländer33
Bislang konnten
die Industrieländer am meisten von den Liberalisierungsrunden
der letzten Jahrzehnte profitieren. Vor diesem Hintergrund sind die
Forderungen insbesondere der NGO und der Weltbank zu sehen, die
kommende Welthandelsrunde zu einer
„Weltentwicklungsrunde“ zu gestalten (Weltbank 2001b).
Die WTO schließt sich diesen Forderungen mittlerweile an, da
sie den Bedürfnissen und Interessen der
Entwicklungsländer eine zentrale Stellung im zukünftigen
Arbeitsprogramm zuweist (WTO 2001a: Ziff. 2). Als wichtige Mittel
zum Zweck erachtet sie einen erweiterten Marktzugang, ausgewogene
und auf die Entwicklungsbedürfnisse ausgerichtete
Handelsregeln, finanzielle und technische Unterstützung sowie
„Capacity-Building-Programme“. Dies deckt freilich nur
einen Teil der Forderungen der G77 Länder und China nach einer
umfassenderen Einbeziehung entwicklungspolitischer Ziele in das
Regelwerk der WTO (G77/China 2001: Ziff. 4).
Die Probleme der
Entwicklungsländer mit der Umsetzung der WTO-Regeln und
-Beschlüsse müssen in Zukunft konsequenter angegangen
werden. Entwicklungsländer sind oft finanziell und personell
überfordert, die zur Umsetzung des Regelwerks notwendigen
Institutionen zu errichten und zu unterhalten. Dieses Problem muss
in den kommenden Jahren auch unter finanzieller Beteiligung der
Industrieländer gelöst werden.
Viele
Industrieländer schützen sich immer noch durch hohe
Zölle und andere nicht-tarifäre Marktzugangsschranken in
vielen „sensiblen“ Bereichen vor der Konkurrenz aus
Schwellen- und Entwicklungsländern. Insbesondere in den
Bereichen des Agrar- und Textilhandels, aber auch in verschiedenen
Bereichen der Schwerindus trie gelang es ihnen in der
Vergangenheit, unter Hinweis auf Dumping, Produktsicherheit oder
„vitale“ nationale Interessen hohe Handelsschranken
aufrecht zu halten und neue zu errichten. Dieses Verhalten steht in
einem krassen Konflikt zu den Liberalisierungsideen der WTO.
Agrarpolitik und Textilhandel: Der Marktzugang
von Waren wird seit 1948 durch das GATT geregelt. In den acht
vergangenen Verhandlungsrunden konnten die durchschnittlichen
Zölle für Handelsgüter von ca. 40 Prozent
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf durchschnittlich vier
Prozent nach der Uruguay-Runde 1994 gesenkt werden (OECD 2001d:
73). Die durchschnittlichen Zollsätze sind allerdings recht
ungleichmäßig über Produktgruppen und
Wirtschaftssektoren verteilt. Auch existieren vor allem im Bereich
der Landwirtschaft und im Textilhandel noch viele
nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Diese Beschränkungen
treffen also jene meist arbeitsintensiven Bereiche am
härtesten, in denen Entwicklungsländer komparative
Vorteile gegenüber vielen In dus trieländern
haben. Zum Beispiel: Knapp ein Drittel aller Textilimporte der
OECD-Mitglieder sind mit Zöllen über 15 Prozent belegt.
Allerdings wiegen der faktische Marktausschluss und die
Wohlfahrtsverluste durch nicht-tarifäre Handelshemmnisse noch
schwerer. Laut einer WTO-Studie von Anfang 2001 greifen bei ca.
drei Viertel aller Textilimporte in die EU nicht-tarifäre
Handelshemmnisse (FTD 14.11.2001: 15). Der Handel mit Tex
tilien soll bis 2005 vollständig aus dem Welttextil
abkommen herausgelöst und komplett in das GATT-System
integriert werden. Als Liberalisierungsziel steht die Abschaffung
der noch bestehenden Einfuhrkontingente und ein weiterer Zollabbau
auf der Agenda.
Vor dem Hintergrund dieser Problematik stand
bei den Beratungen der Ministerkonferenz in Doha der verbesserte
Marktzugang für Entwicklungsländer, insbesondere der am
wenigsten entwickelten Länder34, im Vordergrund. Die
Entwicklungsländer und die Gruppe der großen
Agrarexporteure, die Cairns-Gruppe, verlangen von den
Industrie ländern einen wesentlich besseren Marktzugang
zu ihren hochgradig geschützten und regulierten
Agrarmärkten und eine Rückführung ihrer internen
Marktregulierungen. Durch den Agrarprotektionismus der
Industrieländer gehen nach Berechnungen der Weltbank den
Entwicklungsländern pro Jahr rund 63 Milliarden US-Dollar
verloren (Europäisches Parlament 2000: 6).
Besonders nachdrücklich wurde daher in
Doha von den Industrieländern erneut das schrittweise
Auslaufen von Exportsubventionen und Beihilfen für die
Landwirtschaft verlangt (WTO 2001a: Ziff. 13.). Auf eine solch
konkrete Liberalisierungsverpflichtung wollte sich die
europäische Handelsdelegation so lange nicht einlassen, bis
man sich auf die Kompromissformel „without prejudging the
outcome of the negotiations“ (WTO 2001a: Ziff. 13) einigte
– also ohne das Ergebnisse der Verhandlungen vorwegzunehmen.
Das Ziel, jene Handelsschranken abzubauen, die spezifisch durch die
EU-Agrarmarktordnung bedingt sind, bleibt somit bestehen, jedoch
mit einer stark relativierenden Note. Dies ist angesichts der
Interessenskonflikte innerhalb der EU im Vorfeld ihrer
Osterweiterung allerdings verständlich.35
Die Landwirtschaft hat für viele
Entwicklungsländer eine besondere Bedeutung. Dies betrifft
sowohl die Ernährungssicherheit, als auch die Zahl der
Beschäftigten in diesem Sektor. Es sollte
Entwicklungsländern erlaubt sein, ihre lokalen Produzenten zu
schützen, sofern damit die Ernährungssicherheit
gewährleistet werden kann. Die Landwirtschaft ist allerdings
kein Produktionszweig wie jeder andere. Seit jeher erfüllt die
Landwirtschaft neben der Produktion von Nahrungsmitteln Aufgaben in
der Landschaftsentwicklung, ihrer Pflege und im Tourismus. Diese
Mehrfachfunktion der Landwirtschaft wird heute als
„Multifunktionalität der Landwirtschaft“
diskutiert. Die EU umschreibt mit dem Begriff der
Multifunktionalität den grundlegenden Zusammenhang von
umweltgerechter Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit,
räumlicher Ausgewogenheit, Landschafts- und Umweltschutz und
Ernährungssicherheit (EU 2000).
Anti-Dumping:
Anti-Dumping-Maßnahmen zur Verhinderung „unfairen“
Handels haben sich in der Vergangenheit zu einem ernsten
Handelsproblem entwickelt. Unter Hinweis auf Dumping werden oft
Marktabschottungen zuungunsten der Entwicklungsländer
betrieben. Dies war und ist besonders ausgeprägt in jenen
Bereichen, in denen Entwicklungsländer besonders große
komparative Vorteile aufzuweisen haben. Häufig setzen die
Entwicklungsländer allerdings Anti-Dumping-Maßnahmen als
Kampfinstrument untereinander ein.
Neben der Landwirtschaft sind vor allem
arbeitsintensive Branchen wie die Bekleidungs- und Textilindustrie,
aber auch viele vor allem arbeitsintensive Bereiche der
Schwerindustrie von Anti-Dumping-Maßnahmen betroffen. Viele
Entwicklungsländer sehen in der Praxis der
Anti-Dumping-Abschottung durch Industrieländer ein gewaltiges
Entwicklungshemmnis und fordern mit Nachdruck die beschleunigte
Implementierung der Liberalisierungen aus der Uruguay-Runde
insbesondere für die Agrar- und Textilwirtschaft (G 77/China
2001: Ziff. 9 und 15). Anti-Dumping-Maßnahmen nahmen auch
deshalb in der Vergangenheit sehr zu, da diese relativ leicht
einzusetzen sind und direkt und diskriminierend gegenüber
einzelnen Ländern oder Produzenten wirken. Es ist allerdings
empirisch immer schwer nachzuweisen, ob in einem konkreten Fall ein
Dumpingvorwurf tatsächlich gerechtfertigt erscheint.
In der Anti-Dumping-Problematik konnten die
Entwicklungsländer in Doha einen Erfolg erzielen. Insbesondere
soll das
Problem der Mengenquoten im Textilhandel verhandelt werden.
Außerdem setzten sie Verhandlungen durch, dass ihrer
spezifischen Situation vor der Initiierung von
Anti-Dumping-Maßnahmen Rechnung getragen wird.
33 Vgl. hierzu auch das Minderheitenvotum der
FDP-Fraktion in Kapitel
11.2.2.3.2.
34 Die EU hat mit der sog. „Everything but
Arms-Initiative“, die den quoten- und zollfreien Marktzugang
für alle Waren aus LDC-Ländern – wenn auch mit
Übergangsfristen für Zucker, Reis und Bananen – auf
den europäischen Markt beinhaltet, ein wichtiges Signal
gesetzt.
35 Seitens der EU besteht das Problem darin, dass mit
der Osterweiterun die landwirtschaftliche Nutzfläche um die
Hälfte vergrößert und die Zahl der
Arbeitskräfte in der Landwirtschaft verdoppelt wird. Bei einer
unreformierten EU-Agrarmarktordnung würden aufgrun der
Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse und
Produktionsstrukturen< zwischen den Beitrittsländern und
den jetzigen EU-Mitgliedern enorme Transfers fällig. Die von
der EU-Kommission in der Agenda 2000 vorgestellte Strategie einer
reformierten Agrarmarktordnung sieht deshalb die Heranführung
der EU-Agrarpreise an das Weltmarktniveau vor, gekoppelt mit dem
Instrument „direkte Einkommensbeihilfen“.
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