4.5
Globalisierung und arbeits- und sozialpolitische
Handlungsfähigkeit des Nationalstaates
4.5.1
Verlust der staatlichen Autonomie in der Arbeits- und
Sozialpolitik?
Weltweiter
Wettbewerb und hohe Außenwirtschaftsverflechtung sind
historisch keine neuen Erscheinungen. Während aber
traditionell nationale Unternehmen mit ihren an festen Standorten
produzierten Gütern auf den Absatzmärkten konkurrierten,
hat sich nunmehr die Produktion selbst internationalisiert, so dass
international operierende Unternehmen und Unternehmensketten
welt weit nach den besten Standorten suchen. Der Schritt von
der standortgebundenen Absatzkonkurrenz zur Standortkonkurrenz
zwischen Staaten – um die Attraktivität des jeweiligen
Landes für die Ansiedlung von multinationalen Unternehmen zu
erhöhen – macht das Eigentümliche dessen aus, was
heute „Globalisierung“ genannt wird. Dieser
Globalisierungsprozess weist jedoch eine starke regionale
Komponente auf, da es sich überwiegend um einen Stand
ortwettbewerb innerhalb verschiedener regionaler
Integrationsgemeinschaften (EU, NAFTA, ASEAN und MER COSUR)
handelt (HWWA 2000: 4; vgl. Kapitel3.1.1).
Es hat sich ein
neuer Antagonismus zwischen den Eigentümern von mobilen und
von immobilen Produktionsfaktoren herausgebildet. Die Staaten sind
gezwungen, der drohenden Abwanderung der mobilen
Produktionsfaktoren durch immer weiter gehende
Steuererleichterungen, Deregulierungen, Umverteilung zu Gunsten der
Eigentümer von Produktionsmitteln, Druck auf die Löhne
und oft auch durch Subventionen entgegenzuwirken bzw. Inves
toren aus dem Ausland anzulocken. Folglich entsteht ein
Standortwettbewerb zulasten der an einen Standort gebundenen
Faktoren, vor allem der überwiegend immobil bleibenden
Arbeitskräfte, mit dem Ziel, die Attraktivität ihres
Standortes für die mobilen Faktoren zu erhöhen
(Sachverständigenrat 1997, Ziffer 307).
Im Unterschied
zum herkömmlichen internationalen Wettbewerb wird nun das
gesamte nationale Regelsystem in die Konkurrenz der Standorte
hineingezogen. Die Staaten werden selbst zu Konkurrenten, die
versuchen, durch Gestaltung der Rahmenbedingungen die
Konkurrenzfähigkeit ihrer Unternehmen und
Erwerbsbevölkerung zu sichern und zu verbessern. Dieser
Aufgabe muss sich nun die Sozial- und Arbeitspolitik einzelner
Staaten unterordnen, wodurch ihre autonome Handlungsfähigkeit
mehr oder weniger stark eingeschränkt wird. Zunächst muss
offen bleiben, ob die Situation, in der sich die Politik heute
befindet, in erster Linie in ökonomischen Sachzwängen
begründet ist. Immerhin hat die Politik durch die
Ratifizierung internationaler Abkommen, wie z. B. im Rahmen der WTO
und GATS, die gegenwärtigen institutionellen Bedingungen der
ökonomischen Globalisierung selbst geschaffen.
Völlige Autonomie staatlichen Handels von
außen- und weltwirtschaftlichen Einflüssen gab es auch
früher nie. Und es wird auch von Niemandem behauptet, dass es
künftig einen vollständigen Autonomieverlust geben wird.
Auch sind die Mobilität des Kapitals und die
Möglichkeiten der freien Standortwahl heute noch längst
nicht so hoch, wie vielfach unterstellt wird. Die nationalen
Handlungsspielräume sind größer als Regierungen
vielfach, aus naheliegenden Gründen, behaupten. Länder
wie Dänemark oder die Niederlande zeigen vielmehr, dass es
noch immer verschiedene Wege erfolgreicher Sozial- und
Arbeitsmarktpolitik geben kann. Auch in der Vergangenheit waren die
institutionellen Unterschiede groß, ohne dass es einen Zwang
zur Vereinheitlichung gegeben hat (Kalmbach 2001: 1-5).
Gegen den zuweilen befürchteten
vollständigen Autonomieverlust des Staates sprechen
außerdem die schon theoretisch klar erkennbaren Grenzen der
freien Standortwahl. Dazu gehören z.B. die Notwendigkeit der
Markt- und Konsumentennähe der Produktion, die Transportkosten
und Kommunikationskosten. Auch wenn sie gesunken sind, so werden
sie doch immer größer als Null sein. Dazu zählt auch
der begrenzte Zugang von kleineren und mittleren Unternehmen zum
internationalen Kapitalmarkt, der dafür sorgen wird, dass es
in gewissem Umfang immer nationale Kapitalmärkte geben
wird.
Ungeachtet der Relativierungen ist davon
auszugehen, dass der zu beobachtende Trend zum Standortwettbewerb
und damit auch zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit
nationalstaatlicher Arbeits- und Sozialpolitik zwar noch nicht so
weit gediehen ist, wie vielfach unterstellt, dass er sich aber in
Zukunft fortsetzen wird. Man kann sehr wohl vermuten, dass die
Regierungen und Parlamente immer größere Schwierigkeiten
haben werden, auf die Arbeitsbedingungen und die sozialen
Verhältnisse in ihren Ländern gestaltend Einfluss zu nehmen.
Schon heute lassen sich die Spuren des neuen Standortwettbewerbs
empirisch belegen. Es ist unverkennbar, dass die Politik gezwungen
gewesen ist, sich an die Interessen der Eigentümer
mobiler Produktionsfaktoren anzupassen; hier ist vor allem daran zu
erinnern, dass die Unternehmens- und Körperschaftssteuern
weltweit erodiert und der Anteil der auf dem Faktor Arbeit
liegenden Abgaben am gesamten Abgabenvolumen gestiegen ist (vgl.
Sinn 2000: 3-9).31
Allerdings ist festzuhalten, dass die Senkungen der Gewinnsteuern
in der Vergangenheit nicht nur mit der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit begründet wurden, sondern –
unabhängig davon – auch mit dem Argument, damit
Investitionen und Beschäftigung erhöhen zu können.
Diese Politik wäre deshalb auch ohne den
„Sachzwang“ Globalisierung von denjenigen Regierungen
gemacht worden, die diese Argumentation für richtig
hielten.
31 Die Ausführungen Sinns zur wachsenden
Abgabenbelastung der Arbeit sind allerdings teilweise (nicht
vollständig) zu relativieren, weil in den lohnbezogenen
Sozialversicherungssystemen vieler Länder (z. B. Deutschlands)
endogene Kostensteigerungseffekte wie wachsende Alterslast, hohe
Arbeitslosigkeit und steigende Gesundheitsaufwendungen wirksam
werden.
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