4.5.2
Produktive oder ruinöse Konkurrenz der Staaten?
Die These vom drohenden
globalisierungsbedingten arbeits- und sozialpolitischen
Autonomieverlust der einzelnen Staaten im regionalen
Standortwettbewerb wird im Prinzip als Zustandsbeschreibung von
rechts bis links von den meisten Experten geteilt. Kontrovers wird
aber bewertet, ob sich der Standortwettbewerb der Regierungen
für die Wohlstandsentwicklung der Gesellschaften vorteilhaft
oder nachteilig auswirken wird. Demnach erwarten die einen vom
Standortwettbewerb eine Art Optimierung durch marktwirtschaftliche
Prozesse, die anderen eine ruinöse Konkurrenz der Staaten, die
zu Lasten der sozialstaatlichen Errungenschaften gehen werde.
Dementsprechend ist dann auch umstritten, welche strategische
Antwort auf den drohenden Autonomieverlust zu geben ist.
Nach der in Deutschland vorherrschenden
Meinung ist die Sorge vor einer ruinösen Standortkonkurrenz
unbegründet; nur eine Minderheit hegt diese Befürchtung
(vgl. z.B. Sinn 2001). Dabei stützen sich die Optimisten im
Wesentlichen auf zwei Argumente, derer sich auch der
Sachverständigenrat bedient:
– Zwar zwingt die
Globalisierung die einzelnen Staaten zur Deregulierung und
Kostensenkung. Aber es gibt Untergrenzen, welche auch die
Eigentümer der mobilen Produktionsfaktoren (vor allem die
Kapitaleigner) im eigenen Interesse einhalten werden. Der Kern
dieses Arguments ist, dass die Steuern der Finanzierung der
Infrastruktur dienen. Deshalb können die mobilen
Produktionsfaktoren, ohne dass es zur Abwanderung kommt, immer in
dem Umfang besteuert werden, in dem der Infrastrukturvorteil den
Nachteil der Abgabenbelastung übersteigt oder gerade noch
ausgleicht. Das gleiche gilt auch für das Sozialsystem und
für Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt, insoweit sie die
Leistungsfähigkeit des Humankapitals verbessern und somit
einen infrastrukturähnlichen positiven Standortvorteil
darstellen (Sachverständigenrat 1997, Ziffer 307, Siebert
2000: 34ff.). Es handelt sich also, so könnte man sagen, um
eine Art Gleichgewichtstheorie: Das abwanderungsneutrale Niveau der
Abgabenbelastung und Regulation ist dann erreicht, wenn die
Eigentümer der mobilen Produktionsfaktoren genau die Kosten
der von ihnen produktiv genutzten öffentlichen Güter
tragen.
– Der Prozess der
globalisierungsbedingten Deregulierung führt, so die
vorherrschende Meinung, insgesamt zu effizienterer Faktorallokation
und steigert somit den allgemeinen Wohlstand. So wird der
Standortwettbewerb als ein politisches Entdeckungsverfahren zur
Auffindung besserer institutioneller Lösungen angesehen
(Siebert 2000: 42). Auf diese Weise zwingt der Standortwettbewerb
die Staaten nur zu einer Politik, die auch ohne solchen
Standortwettbewerb notwendig wäre. Wenn dabei sozialstaatliche
Umverteilung reduziert werden muss, so gereicht das denjenigen,
denen der Sozialstaat helfen soll, gleichwohl zum Nutzen, weil sie bessere
Beschäftigungschancen erhalten und das Sozialsystem
treffsicherer wird (Sachverständigenrat 1997, Ziffer 310).
Gegen diese Sicht lassen sich aber auch
wichtige Einwände ins Feld führen:
– Mit Sicherheit haben die
Eigentümer mobiler Produktionsfaktoren ein hohes Interesse an
optimalen Infrastrukturleistungen und sonstigen öffentlichen
Gütern. Aber daraus kann keineswegs auf ihre Bereitschaft
geschlossen werden, sich auch
an der Finanzierung zu beteiligen, wenn es ihnen möglich ist,
die Finanzierungslasten mittels Abwanderungsdrohung auf die
immobilen Produktionsfaktoren, die Konsumenten und/oder die
Empfänger von Sozialleistungen abzuwälzen. Die
Exit-Option wird also dazu führen, dass die mobilen
Produktionsfaktoren tendenziell dorthin wandern, wo ihnen die
besten öffentlichen Güter zu Lasten anderer zur
Verfügung gestellt wird. Dann würde es sich bei der
Standortkonkurrenz im Wesentlichen um eine besondere Form des
indirekten Subventionswettlaufes handeln, allerdings nicht zu
Gunsten einzelner Branchen oder Produkte, sondern zu Gunsten der
Eigentümer mobiler Produktionsfaktoren.
– Selbst wenn die
Eigentümer der mobilen Produktionsfaktoren die Kosten der von
ihnen genutzten Infrastruktur tragen sollten – was, wie
gesagt, kaum zu erwarten ist – wäre dies ein
unbefriedigendes Ergebnis, weil dann nicht nur auf jegliche soziale
Umverteilung verzichtet werden müsste (Sinn 2001: 15), sondern
auch der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit
verletzt wäre.
– Es ist nicht zu
erwarten, dass der Prozess von Abwanderungsdrohung und politischer
Reaktion des Staates zu einem Gleichgewicht von
Infrastrukturvorteil und Finanzierungsbeitrag führt. Der
unterstellte marktähnliche Prozess muss schon deshalb das
Optimum verfehlen, weil die Vorteile, keinen Kostenbeitrag für
Infrastrukturleistungen zahlen zu müssen, sofort spürbar
sind, während sich die Nachteile von Infrastrukturdefiziten
vielfach erst nach Jahrzehnten bemerkbar machen. Es wäre also
allenfalls ein schweinezyklusähnliches Marktgeschehen als ein
Optimierungsvorgang zu erwarten.
– Öffentliche
Güter und Infrastrukturleistungen müssen vom Staat
bereitgestellt werden, weil sie am Markt nicht zu kostendeckenden
Preisen angeboten werden können. Der Staat verwaltet also
gerade das Segment, in dem der Markt versagt. Im Standortwettbewerb
müssen sich Staaten aber wie wettbewerbsorientierte Firmen
verhalten und gleichsam versuchen, öffentliche Güter am
Markt zu verkaufen. Wird auf diese Weise das staatliche Handeln
selbst einem Wettbewerb unterworfen, so ist es fraglich, ob ein
sinnvolles Allokationsergebnis zu erwarten ist, da es sich ja
gerade um Güter handelt, bei deren Produktion der Markt
versagt (Sinn 2001: 12).
– Ob sich die Erwartung
erfüllt, der Standortwettbewerb werde zu allgemeiner
Wohlstandsteigerung führen, ist eine Frage der Empirie. Die
Empirie bestätigt aber, jedenfalls nach der bisherigen
Entwicklung, diese Erwartung nicht unbedingt. Denn die
Finanzierungsanteile des Faktors Kapital an den staatlichen
Aufgaben sind überall zurückgegangen, die
öffentliche Infrastruktur erodiert – auch in
Deutschland, wo dieser Umstand zu Recht Gegenstand allgemeiner
Klage ist – ohne dass signifikante Wohlfahrtsgewinne als
Ertrag der Globalisierung nachweisbar wären.
– Die als unvermeidbare
Folge des Standortwettbewerbs erwartete größere
Ungleichheit soll durch die allgemeinen Wohlstandssteigerungen
wettgemacht werden. Vorausgesetzt, diese Wohlstandssteigerungen
träten wirklich ein, so ist die Frage, ob sie für den
Verlust an sozialem Ausgleich entschädigen, ohne Werturteil
nicht zu beantworten. Auf keinen Fall kann von „mehr
Wohlstand“ die Rede sein, wenn die Verlierer des
Standortwettbewerbs nicht nur relative Anteilsverluste, sondern
sogar absolute Wohlstandsverluste hinnehmen müssen.
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