*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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4.5.4.2    Internationale Kooperation

Der Grundgedanke der Kooperation ist, die auf der nationalen Ebene durch die Standortkonkurrenz bedrohte Autonomie des Sozialstaates auf internationaler Ebene wieder herzustellen, und zwar dergestalt, dass durch Vereinbarungen über arbeits- und sozialpolitische Regulierungen zwischen den Staaten die Abwanderungsdrohung der Eigentümer mobiler Produktionsfaktoren neutralisiert wird.

Vorstellbar ist der Versuch einer sozialstaatlichen Kooperation allerdings vorläufig kaum weltweit, sondern nur auf der Ebene der Europäischen Union. Das würde aber auch völlig ausreichen, denn die Europäische Union ist mit ihren heute 375 Millionen Einwohnern – mit allen Beitrittskandidaten hätte sie eines Tages 450 Millionen Einwohner – ein größerer Wirtschaftsraum als die USA. Mit einem Außenhandelsanteil von nur rund zehn Prozent ist die Europäische Union potenziell weitgehend zu autonomer Arbeits- und Sozialpolitik fähig. Sie könnte auch mit ihrem eigenen mehr sozialstaatlich orientiertem Weg die Systemkonkurrenz mit den USA und den ostasiatischen Konkurrenten bestehen und den Ausgleich etwaiger Produktivitätsdifferenzen gegebenenfalls Wechselkursanpassungen überlassen. Mit großer Sicherheit könnte durch Koordination der Arbeits- und Sozialpolitik – neben der Steuer- und Finanzpolitik – innerhalb Europas die Gefahr der ruinösen Standortkonkurrenz ausgeschlossen werden. Denn bei der Standortkonkurrenz zwischen Staaten handelt es sich ohnehin weitgehend um ein rein europäisches Problem, hervorgerufen durch die politisch verursachte ungleichgewichtige Entwicklung von europäisiertem Handel und Kapitalverkehr bei weiterhin national regulierten Arbeitsmärkten und unkoordinierten nationalen Fiskalpolitiken.

Eine erste und möglicherweise durchaus spürbare Verbesserung zur Vermeidung eines destruktiven Wettlaufs mit dem Ziel der Absenkung sozialstaatlicher Standards könnte schon durch eine gemeinsame makroökonomische Politik der Europäischen Union erreicht werden (vgl. Kapitel 4.7.1,Priewe 2001: 23-31, Priewe 2002). Dadurch würde der Anreiz für die einzelnen Staaten vermindert, bei schlechter Konjunktur Zuflucht zu einer aggressiven Standortpolitik auf Kosten der Nachbarländer – die so genannte Beggar-my-neighbour-Politik – zu suchen.

Darüber hinaus müssen allerdings in der Europäischen Union gemeinsame Regelungen zur Arbeits- und Sozialpolitik gefunden werden. Dem stehen große Schwierigkeiten entgegen, denn wegen ihres unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungsstandes werden sich die Mitgliedsländer kaum auf für alle gleiche und verbindliche Standards verständigen wollen und können. Deshalb muss eine vollständige Harmonisierung, d.h. ein einheitliches europäisches Sozialsystem und ein einheitliches Arbeitsrecht aus heutiger Sicht als unmöglich erscheinen, jedenfalls nicht bevor eine weitgehende ökonomische Konvergenz erreicht ist. Zudem wird die Harmonisierung dadurch erschwert, dass – auch zwischen Mitgliedsländern, die sich in etwa auf gleichen Wohlstandsniveaus befinden – die Prioritäten im sozialen Sicherungssystem sehr unterschiedlich gesetzt, die Leis-tungssystematiken oft sehr verschieden und die Finanzierungsstrukturen heterogen sind. Jedes Land hat sein eigenes historisch gewachsenes Gesamtsystem von arbeits- und sozialpolitischen Regulierungen, bei denen Sozialtransfers, Steuersystem, Arbeitsmarktverfassung und staatliches Arbeitsrecht sowie öffentliche Dienstleis­ tungen auf charakteristische Weise gewichtet und verzahnt sind. Dieser Umstand macht den Weg zu einem gemeinsamen europäischen Arbeits- und Sozialsys­ tem besonders beschwerlich (Scharpf 1997).

Gleichwohl wird langfristig eine weitergehende  Harmonisierung der Arbeits- und Sozialsysteme in der Europäischen Union unausweichlich sein. Da in vielen Mitgliedsländern ohnehin über Strukturreformen oder sogar Systemwechsel im Arbeits- und Sozialsystem diskutiert wird, wäre es sinnvoll, zugleich auch mit den Überlegungen zu beginnen, wie schrittweise und mit langen Übergangsfristen ein europäisches System eingeführt werden kann. Die Konvergenz der Systeme sollte also schon heute bei nationalen Reformen in die konzeptionellen Überlegungen einbezogen werden.

Vorerst muss sich die Politik aber auf eine weniger weitgehende Lösung konzentrieren. Sie könnte darin bestehen, die in der Europäischen Union bestehenden Differenzierungen im Arbeits- und Sozialsystem auf längere Sicht fortbestehen zu lassen, jedoch durch ein System von Regeln zu verhindern, dass sich die Mitgliedsländer im    Standortwettlauf gegenseitig unterbieten. Dazu wären denkbar:

–   Mindest-Sozialleistungsquoten. Hier müssten sich die Mitgliedsländer verpflichten, bestimmte Anteile des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt nicht zu unterschreiten. Solche Quoten können wegen der Unterschiede in den Ausgangsniveaus nicht für alle Mitgliedsländer gleich hoch sein, sondern müssten z.B. nach Maßgabe des Pro-Kopf-Einkommens der Bevölkerung differenziert sein, da die Sozialaufwendungen in der Regel überproportional mit dem Wohlstandsniveau wachsen (vgl. Scharpf 1997).

–   Ein System europäischer Mindeststandards für Arbeitnehmerrechte, die ebenfalls differenziert nach Ländern oder Ländergruppen festgelegt werden müssten. Länder, die bereits ein höheres Maß an rechtlichem Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreicht haben, sollten sich auf diese Weise dazu verpflichten, diese Standards nicht mehr zu reduzieren.

Alles in allem darf man die Schwierigkeiten, die sich bei der Festlegung solcher Regeln zur Verhütung des Unterbietungswettbewerbs ergeben, nicht unterschätzen. So wird man wahrscheinlich auch Komplikationen in Kauf nehmen müssen, um die Mindest-Sozialleistungsquoten um unvermeidliche Strukturveränderungen oder Strukturunterschiede zwischen den Ländern zu bereinigen. Zum Beispiel dürfen die Mindestquoten nicht verhindern, dass bei Rückgang der Zahl der Arbeitslosen die Gesamtaufwendungen für Lohnersatzleistungen sinken. Solche technischen Schwierigkeiten dürfen aber keinesfalls davon abhalten, ernsthaft nach gangbaren Wegen zu suchen. In einem ersten Schritt müssten auch hier in Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft Konzeptionen erarbeitet werden.




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