4.5.4.2 Internationale Kooperation
Der Grundgedanke der Kooperation ist, die auf
der nationalen Ebene durch die Standortkonkurrenz bedrohte
Autonomie des Sozialstaates auf internationaler Ebene wieder
herzustellen, und zwar dergestalt, dass durch Vereinbarungen
über arbeits- und sozialpolitische Regulierungen zwischen den
Staaten die Abwanderungsdrohung der Eigentümer mobiler
Produktionsfaktoren neutralisiert wird.
Vorstellbar ist der Versuch einer
sozialstaatlichen Kooperation allerdings vorläufig kaum
weltweit, sondern nur auf der Ebene der Europäischen Union.
Das würde aber auch völlig ausreichen, denn die
Europäische Union ist mit ihren heute 375 Millionen Einwohnern
– mit allen Beitrittskandidaten hätte sie eines Tages
450 Millionen Einwohner – ein größerer
Wirtschaftsraum als die USA. Mit einem Außenhandelsanteil von
nur rund zehn Prozent ist die Europäische Union potenziell
weitgehend zu autonomer Arbeits- und Sozialpolitik fähig. Sie
könnte auch mit ihrem eigenen mehr sozialstaatlich
orientiertem Weg die Systemkonkurrenz mit den USA und den
ostasiatischen Konkurrenten bestehen und den Ausgleich etwaiger
Produktivitätsdifferenzen gegebenenfalls
Wechselkursanpassungen überlassen. Mit großer Sicherheit
könnte durch Koordination der Arbeits- und Sozialpolitik
– neben der Steuer- und Finanzpolitik – innerhalb
Europas die Gefahr der ruinösen Standortkonkurrenz
ausgeschlossen werden. Denn bei der Standortkonkurrenz zwischen
Staaten handelt es sich ohnehin weitgehend um ein rein
europäisches Problem, hervorgerufen durch die politisch
verursachte ungleichgewichtige Entwicklung von europäisiertem
Handel und Kapitalverkehr bei weiterhin national regulierten
Arbeitsmärkten und unkoordinierten nationalen
Fiskalpolitiken.
Eine erste und möglicherweise durchaus
spürbare Verbesserung zur Vermeidung eines destruktiven
Wettlaufs mit dem Ziel der Absenkung sozialstaatlicher Standards
könnte schon durch eine gemeinsame makroökonomische
Politik der Europäischen Union erreicht werden (vgl. Kapitel 4.7.1,Priewe 2001: 23-31, Priewe 2002).
Dadurch würde der Anreiz für die einzelnen Staaten
vermindert, bei schlechter Konjunktur Zuflucht zu einer aggressiven
Standortpolitik auf Kosten der Nachbarländer – die so
genannte Beggar-my-neighbour-Politik – zu suchen.
Darüber hinaus müssen allerdings in
der Europäischen Union gemeinsame Regelungen zur Arbeits- und
Sozialpolitik gefunden werden. Dem stehen große
Schwierigkeiten entgegen, denn wegen ihres unterschiedlichen
ökonomischen Entwicklungsstandes werden sich die
Mitgliedsländer kaum auf für alle gleiche und
verbindliche Standards verständigen wollen und können.
Deshalb muss eine vollständige Harmonisierung, d.h. ein
einheitliches europäisches Sozialsystem und ein einheitliches
Arbeitsrecht aus heutiger Sicht als unmöglich erscheinen,
jedenfalls nicht bevor eine weitgehende ökonomische Konvergenz
erreicht ist. Zudem wird die Harmonisierung dadurch erschwert, dass
– auch zwischen Mitgliedsländern, die sich in etwa auf
gleichen Wohlstandsniveaus befinden – die Prioritäten im
sozialen Sicherungssystem sehr unterschiedlich gesetzt, die
Leis-tungssystematiken oft sehr verschieden und die
Finanzierungsstrukturen heterogen sind. Jedes Land hat sein eigenes
historisch gewachsenes Gesamtsystem von arbeits- und
sozialpolitischen Regulierungen, bei denen Sozialtransfers,
Steuersystem, Arbeitsmarktverfassung und staatliches Arbeitsrecht
sowie öffentliche Dienstleis tungen auf
charakteristische Weise gewichtet und verzahnt sind. Dieser Umstand
macht den Weg zu einem gemeinsamen europäischen Arbeits- und
Sozialsys tem besonders beschwerlich (Scharpf 1997).
Gleichwohl wird langfristig eine
weitergehende Harmonisierung der Arbeits- und Sozialsysteme
in der Europäischen Union unausweichlich sein. Da in vielen
Mitgliedsländern ohnehin über Strukturreformen oder sogar
Systemwechsel im Arbeits- und Sozialsystem diskutiert wird,
wäre es sinnvoll, zugleich auch mit den Überlegungen zu
beginnen, wie schrittweise und mit langen Übergangsfristen ein
europäisches System eingeführt werden kann. Die
Konvergenz der Systeme sollte also schon heute bei nationalen
Reformen in die konzeptionellen Überlegungen einbezogen
werden.
Vorerst muss sich die Politik aber auf eine
weniger weitgehende Lösung konzentrieren. Sie könnte
darin bestehen, die in der Europäischen Union bestehenden
Differenzierungen im Arbeits- und Sozialsystem auf längere
Sicht fortbestehen zu lassen, jedoch durch ein System von Regeln zu
verhindern, dass sich die Mitgliedsländer im Standortwettlauf
gegenseitig unterbieten. Dazu wären denkbar:
–
Mindest-Sozialleistungsquoten. Hier müssten sich die
Mitgliedsländer verpflichten, bestimmte Anteile des
Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt nicht zu unterschreiten.
Solche Quoten können wegen der Unterschiede in den
Ausgangsniveaus nicht für alle Mitgliedsländer gleich
hoch sein, sondern müssten z.B. nach Maßgabe des
Pro-Kopf-Einkommens der Bevölkerung differenziert sein, da die
Sozialaufwendungen in der Regel überproportional mit dem
Wohlstandsniveau wachsen (vgl. Scharpf 1997).
– Ein System
europäischer Mindeststandards für Arbeitnehmerrechte, die
ebenfalls differenziert nach Ländern oder Ländergruppen
festgelegt werden müssten. Länder, die bereits ein
höheres Maß an rechtlichem Schutz für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreicht haben, sollten sich auf
diese Weise dazu verpflichten, diese Standards nicht mehr zu
reduzieren.
Alles in allem darf man die Schwierigkeiten,
die sich bei der Festlegung solcher Regeln zur Verhütung des
Unterbietungswettbewerbs ergeben, nicht unterschätzen. So wird
man wahrscheinlich auch Komplikationen in Kauf nehmen müssen,
um die Mindest-Sozialleistungsquoten um unvermeidliche
Strukturveränderungen oder Strukturunterschiede zwischen den
Ländern zu bereinigen. Zum Beispiel dürfen die
Mindestquoten nicht verhindern, dass bei Rückgang der Zahl der
Arbeitslosen die Gesamtaufwendungen für Lohnersatzleistungen
sinken. Solche technischen Schwierigkeiten dürfen aber
keinesfalls davon abhalten, ernsthaft nach gangbaren Wegen zu
suchen. In einem ersten Schritt müssten auch hier in
Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft Konzeptionen erarbeitet
werden.
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