*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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8          Nachhaltige Entwicklung1

   8.1          Das Leitbild der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung

Die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro markierte eine der bedeutendsten umwelt- und entwicklungspolitischen Weichenstellungen der vergangenen Jahrzehnte. Die Ergebnisse von Rio, insbesondere die Rio-Deklaration, das Aktionsprogramm Agenda 21 sowie die globalen Abkommen zu Klima und Biodiversität haben die politische Agenda auf globaler, regionaler und lokaler Ebene verändert. Das auf der Konferenz propagierte Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ist zu einem neuen Paradigma der umwelt- und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit geworden.

„Sustainable Development“, verstanden als eine globale umwelt- und gesellschaftspolitische Entwicklung hat die umwelt- und entwicklungspolitische Debatte der ersten Hälfte der 1990er Jahre geprägt. Verwendet worden ist der Begriff zum ersten Mal in der Weltnaturschutzstrategie der International Union for the Conservation of Nature (IUCN) und des World Wide Fund for Nature (WWF). Nachhaltigkeit heißt dort: Ein natürliches System aus­ schließlich so zu nutzen, dass es in seinen wesentlichen Charakteristika langfristig erhalten bleibt. Die heute allgemeinhin akzeptierte Interpretation des Begriffs der Nachhaltigkeit geht jedoch weit über diese Auffassung hinaus.

Weltweit bekannt wurde das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, als 1987 die Brundtland-Kommission für Umwelt und Entwicklung ihren Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ vorlegte. Unter nachhaltiger Entwicklung wird dort eine Entwicklung verstanden, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung bildete hier zum ersten Mal die Grundlage einer integrativen globalen Politikstrategie.

Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des 13. Deutschen Bundestages hat mit ihrem im Jahr 1998 vorgelegten Abschlussbericht „Konzept Nachhaltigkeit – vom Leitbild zur Umsetzung“ erstmalig versucht, diese integrative Politikstrategie zu skizzieren. Auf Basis der von der Brundtland-Kommission geprägten Maxime des intergenerativen Handelns wurde deutlich, dass eine Reduktion des Nachhaltigkeitsanspruchs auf natürliche Ressourcen zu einer verengten und wahrscheinlich auch fehlgeleiteten Nachhaltigkeitspolitik führen würde. Ressourcen- und Senkenproblematik sind zwar wesentliche Aspekte der ökologischen Dimension der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung, und könnten aus nachvollziehbarer ökologischer Sicht in vielen Bereichen einen vorrangigen Handlungsbedarf zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen begründen. Der Sache wäre damit jedoch nach Auffassung der damaligen Enquete-Kommission nicht gedient. Und so heißt es:

„Eine ökologisch dominierte Nachhaltigkeitspolitik wird im gesellschaftlichen Abwägungsprozess immer dann unterliegen, wenn sich andere Problemlagen als unmittelbarer, spürbarer und virulenter erweisen und damit auch für politisches Handeln dringlicher und attraktiver sind. Selbst wenn sie sich durchsetzen kann, bleibt sie ohne Wirkung, denn letztlich dürfte nur eine Politik der Integration der drei Dimensionen in der Lage sein, die konzeptionelle Schwäche einer von wirtschaftlichen und sozialen Fragestellungen isolierten Umweltdiskussion zu überwinden. Ein strategischer Durchbruch, gerade auch für ökologische Anliegen, kann nur gelingen, wenn Umweltbelange nicht länger einer hochspezialisierten Fachpolitik und -bürokratie zugewiesen werden, sondern integraler Bestandteil der Gesellschaftspolitik sind. … In Deutschland reift allmählich die Erkenntnis, dass mit dem Leitbild der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung wichtige Entwicklungslinien auch jenseits der ökologischen Dimension angesprochen werden. Aufgrund der komplexen Zusammenhänge zwischen den drei Dimensionen bzw. Sichtweisen von Ökologie, Ökonomie und Sozialem müssen sie integrativ behandelt werden. Dabei geht es – bildhaft gesprochen – nicht um die Zusammenführung dreier nebeneinander stehender Säulen, sondern um die Entwicklung einer dreidimensionalen Perspektive aus der Erfahrungswirklichkeit. Die Diskussion tendiert dahin, Nachhaltigkeitspolitik als Gesellschaftspolitik zu interpretieren, die im Prinzip und auf lange Sicht alle genannten Dimensionen gleichberechtigt und gleichwertig behandelt“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 31f.).

Eines ist seit der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro zumindest klar geworden: Alles Wirtschaften und damit auch die Wohlfahrt im klassischen Sinne stehen unter dem Vorbehalt der ökologischen Tragfähigkeit. Ebenso klar geworden ist, dass „auch ökologische Ziele (...) kaum umgesetzt werden (können), wenn es Menschen aufgrund ihrer materiellen Bedingungen schwer gemacht wird, Rücksichten auf ökologische Ziele zu nehmen“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 33). Kasten 8.1beschreibt die Diskrepanz zwischen Umweltbewusstsein und Umwelthandeln in Deutsch­ land.

   Eine nachhaltig zukunftsverträgliche Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich nicht anhand exakter Kriterien ab­ schließend definieren und im Sinne eines detaillierten Zielsystems steuern. Grundlage aller Vorgehensweisen muss vielmehr zukunftsbezogenes Lernen, Suchen nach entsprechenden Kriterien und der Wille zum Gestalten sein, – ein Prozess also, der sich durch ein gewisses Maß an Offenheit und Unsicherheit auszeichnet.

Aus der Deklaration und der Agenda 21 von Rio ist ersichtlich, dass eine nachhaltige Entwicklung ein gesellschaftliches Projekt von großer Tragweite ist. Alle Bürgerinnen und Bürger sowie die Akteure in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur sind aufgeru- fen, im Rahmen dieses Lernens und Suchens auf die Dauer aufrecht zu erhaltende Formen des Wirtschaftens und Lebens zu finden. Die nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist hierbei als regulative Idee zu verstehen, vergleichbar mit den Leitideen Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. „So ist die Herstellung von Gerechtigkeit oder Chancengleichheit aus primär sozialpolitischem Interesse nicht allein ein soziales Ziel, sondern auch Voraussetzung für langfristige ökonomische Leistungsfähigkeit und folglich auch ein ökonomisches Ziel“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 33). „Mit diesem Verständnis von nachhaltig zukunftsverträglicher Entwicklung lassen sich auch Richtungen für die dazu notwendigen Such-, Lern- und Erfahrungsprozesse ermitteln und die Prozesse politisch initiieren und unterstützen“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 28).

Nachhaltige Entwicklung ist nur schrittweise über evolutive, gesellschaftspolitische Konkretisierungs- und Willensbildungsprozesse zu verwirklichen, in denen die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen aufeinander abgestimmt werden. Das bedeutet auch, dass dem Vorsorgeprinzip Rechnung getragen wird (s. Kasten 8-2).Dabei gilt es, den Prozessen angemessene Verhaltensweisen und Verfahrensnormen zu finden, um so mittel- und langfristig konkrete und verbindliche, gemeinsam anzustrebende Ziele aufzustellen, die den Charakter von Etappen- oder Zwischenzielen haben und die durch ihre laufende Überprüfung spätere Entscheidungsoptionen und -wege offen halten. In diesem Prozess der Werte- und Zielfindung geht es immer auch darum, ökologische, ökonomische und soziale Leistungsfähigkeiten zu verbessern. „Diese bedingen einander und können nicht teiloptimiert werden, ohne Entwicklungsprozesse als Ganzes in Frage zu stellen“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 33). Das schließt jedoch nicht aus, dass bei alternativen Produktionsansätzen, die aus ökologischer Sicht eine Verbesserung darstellen können, etwa bei der ökologischen Landwirtschaft, auch ökonomische Produktivitätsrückgänge entstehen und von vielen akzeptiert werden.

   Im Sinne der regulativen Idee einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung geht es also nicht so sehr darum, ein für alle Zeiten gültiges Zielbündel in einem gesellschaftlichen Suchprozess zu identifizieren und zu verankern, denn: „Eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist insofern offen, als niemand einen allgemein verpflichtenden Zielzustand der Gesellschaft daraus ableiten könnte. Gleichzeitig ist sie insofern verbindlich, als sich eine Gesellschaft ... auf variable Leitplanken einigen kann, deren Nichtbeachtung zu gesellschaftlichen Entwicklungen führt, die offenkundig als nicht nachhaltig zukunftsverträglich empfunden werden (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 28).

Seit der Proklamation des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung auf der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 ist ein Jahrzehnt vergangen. Unübersehbar sind die Versuche, dieses Leitbild zu operationalisieren und auf allen Ebenen – der globalen, der nationalen, regionalen und lokalen – in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Dabei ist zunehmend klar geworden, dass dieses Leitbild nicht unmittelbar implementiert werden kann.

Eine Umsetzung dieser Strategie in den Alltag ist in vielen Ländern auf großes Interesse gestoßen. Über die Einrichtung und Umsetzung Lokaler Agenden 21 in verschiedenen europäischen Ländern lässt sich Folgendes sagen (ICLEI 1999): Während sich in Schweden und Großbritannien fast 100Prozent der Kommunen Lokale Agenden gegeben haben, sind es in den Niederlanden 30 Prozent und in Deutschland nur etwa 10 Prozent. Heute verfügen circa 16 Prozent der deutschen Kommunen über einen Agendabeschluss (Agenda-Transfer 2002). Während die Agenden der deutschen Kommunen sich auffallend an globalen Problemen orientieren, sind in den drei oben genannten Ländern, in denen sich die Lokalen Agenden 21 auch stärker auf Bürgerbeteiligungen stützen als in Deutschland, die kommunale und regionale Dimension wichtiger. Die meisten Agenda 21-Kommunen in diesen drei Ländern haben Indikatoren entwickelt, mit deren Hilfe sie Erfolge und Miss­ erfolge klassifizieren, also messen können. In Deutschland sind solche kommunalen Nachhaltigkeitsindikatoren bislang kaum entwickelt worden. Eines der wichtigsten Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg einer Lokalen Agenda 21 ist deren Verbindlichkeit. Während in Schweden, Großbritannien und den Niederlanden fast alle Kommunen einen Ratsbeschluss dazu gefasst haben, gibt es in Deutschland oft keine Beschlussfassung in den örtlichen Entscheidungsgremien.    Zur Unterstützung der Lokalen Agenden in Deutschland sind in den vergangenen Monaten die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt und die bundesweite Servicestelle für Lokale Agenda 21 eingerichtet worden.

Das Leitbild der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung ist kein deskriptives, sondern ein normatives Konzept. Es vermittelt schon in seiner Begrifflichkeit die Vorstellung einer Welt wie sie sein sollte, insbesondere einer Welt mit mehr intergenerativer (Generationen-)Gerechtigkeit und mehr intragenerativer (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Alle Eingriffe des Menschen in ökologische, ökonomische und soziale Systeme müssen vor allem immer auch unter dem Aspekt der Verantwortbarkeit für ihre Zukunftsfähigkeit gesehen werden, wobei Aufmerksamkeit insbesondere auf die begrenzte Reproduzierbarkeit vieler natürlicher Ressourcen gelegt werden muss.

Das Wirtschaften und die Lebensstile der reichen Länder des Nordens sind nach weit verbreiteter Ansicht aber nicht nur unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit außerordentlich problematisch, sondern genauso unter dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit. Danach bestehe eine ausgeprägte „Gerechtigkeitslücke“ zwischen den Ländern des Nordens und den Ländern des Südens. In ihrem „Bericht über die menschliche Entwicklung“ hat UNDP 1999 festgestellt, dass die Ungleichheit sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder im vergangenen Jahrzehnt drastisch zugenommen hat (UNDP und DGVN 1999). Das Verhältnis der Einkommen zwischen dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung und dem ärmsten Fünftel lag 1999 bei 78:1; 1990 lag es noch bei 60:1 und 1960 bei 30:1. Ungleichheiten bei den Einkommen und in der Verteilung von Lebenschancen in diesem Ausmaß sind mit einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung nicht vereinbar.

Vom UN-Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung im August und September 2002 in Johannesburg (Südafrika), erwarten deshalb insbesondere die Entwicklungsländer ein stärkeres Engagement der Industrieländer bei der Bekämpfung von Hunger und Armut, beim Abbau von Handelsbarrieren gegen Waren aus den armen Nationen, einen offenen und fairen Technologietransfer sowie die Einführung neuer Mechanismen zur Finanzierung und Umsetzung der Agenda 21.

Eine „Gerechtigkeitslücke“ besteht jedoch nicht nur zwischen den reichen Industrieländern und den Entwicklungsländern, sondern auch zwischen den Geschlechtern (vgl. Kapitel 6).Eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung und Geschlechtergerechtigkeit sind im Zusammenhang mit der ökologischen Dimension der Nachhaltigkeit eng verknüpft, zumal

–    das Umweltbewusstsein und die Risikowahrnehmung von Frauen im Durchschnitt höher ist als das der Männer,

–    Frauen in den Entwicklungsländern die Hauptlast der Arbeit für die Überlebenssicherung tragen und von Umweltzerstörungen besonders betroffen sind und

–          Subsistenzproduktion und Umweltschutzarbeit in der Regel im Verantwortungsbereich der Frauen liegen.

Intragenerative Gerechtigkeit verlangt, den Grundsatz der Geschlechtergerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen. Davon sind wir heute, auch in den fortgeschrittenen Staaten des Nordens, noch weit entfernt.

Eine ganzheitliche und integrative Sichtweise reicht über die bloße Frage der inter- und intragenerativen Gerechtigkeit hinaus. „Ohne die Teilhabe von den ärmsten Ländern an den Gewinnen der internationalen Arbeitsteilung ist die gemeinsame Zukunft der Welt nicht nachhaltig zu sichern“ (BT-Drs. 14/7143). Hier muss aber auch nach den Gründen, die in diesen Ländern selbst liegen, gefragt werden, wie z. B. Clanherrschaften, Korruption und gewollte Isolierung, sowie nach den historischen Vorbedingungen wie Kolonialisierung, Ziehung politischer Grenzen, die z.B. quer durch ethnische Gruppierungen verlaufen, etc..2 Hier stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Gestaltung der Globalisierung im Rahmen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung für eine Welt mit mehr Gerechtigkeit und mehr Lebenschancen für Alle leisten kann.



1 Dieses Kapitel entstandmit freundlicher Unterstützung von Dr. Summerer, Umweltbundesamt.

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2 Auf dem Gipfel Afrikanischer Staaten im Juli 2001 wurde die Initiative für New Partnership for Africa’s Development (NEPAD) verabschiedet, deren zentrale Elemente die afrikanische Eigenverantwortung und die aktive Teilnahme Afrikas an der Gestaltung globaler Rahmenbedingungen sind. Alle entscheidenden Probleme Afrikas werden angesprochen. Von Bedeutung ist die Feststellung, dass Fehlentwicklungen auch durch eigenes Handeln verursacht wurden und dass Demokratie, Rechtsstaat, Beachtung der Menschenrechte, Frieden und Stabilität die Voraussetzung für jegliche Entwicklung darstellen. Die G8-Staaten haben in Genua die Erarbeitung eines Aktionsplanes zur Unterstützung der NEPAD durch eine Gruppe (Afrika-)Beauftragter beschlossen, der auf dem G8-Gipfel in Kananaskis am 26. Juni 2002 verabschiedet werden soll.

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