8 Nachhaltige
Entwicklung1
8.1 Das
Leitbild der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung
Die Konferenz der Vereinten Nationen für
Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro markierte eine der
bedeutendsten umwelt- und entwicklungspolitischen Weichenstellungen
der vergangenen Jahrzehnte. Die Ergebnisse von Rio, insbesondere
die Rio-Deklaration, das Aktionsprogramm Agenda 21 sowie die
globalen Abkommen zu Klima und Biodiversität haben die
politische Agenda auf globaler, regionaler und lokaler Ebene
verändert. Das auf der Konferenz propagierte Leitbild der
nachhaltigen Entwicklung ist zu einem neuen Paradigma der umwelt-
und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit geworden.
„Sustainable Development“,
verstanden als eine globale umwelt- und gesellschaftspolitische
Entwicklung hat die umwelt- und entwicklungspolitische Debatte der
ersten Hälfte der 1990er Jahre geprägt. Verwendet worden
ist der Begriff zum ersten Mal in der Weltnaturschutzstrategie der
International Union for the Conservation of Nature (IUCN) und des
World Wide Fund for Nature (WWF). Nachhaltigkeit heißt dort:
Ein natürliches System aus schließlich so zu
nutzen, dass es in seinen wesentlichen Charakteristika langfristig
erhalten bleibt. Die heute allgemeinhin akzeptierte Interpretation
des Begriffs der Nachhaltigkeit geht jedoch weit über diese
Auffassung hinaus.
Weltweit bekannt wurde das Leitbild der
nachhaltigen Entwicklung, als 1987 die Brundtland-Kommission
für Umwelt und Entwicklung ihren Bericht „Unsere
gemeinsame Zukunft“ vorlegte. Unter nachhaltiger Entwicklung
wird dort eine Entwicklung verstanden, „die den
Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die
Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden,
ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil
zu wählen.“ Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung
bildete hier zum ersten Mal die Grundlage einer integrativen
globalen Politikstrategie.
Die Enquete-Kommission „Schutz des
Menschen und der Umwelt“ des 13. Deutschen Bundestages hat
mit ihrem im Jahr 1998 vorgelegten Abschlussbericht „Konzept
Nachhaltigkeit – vom Leitbild zur Umsetzung“ erstmalig
versucht, diese integrative Politikstrategie zu skizzieren. Auf
Basis der von der Brundtland-Kommission geprägten Maxime des
intergenerativen Handelns wurde deutlich, dass eine Reduktion des
Nachhaltigkeitsanspruchs auf natürliche Ressourcen zu einer
verengten und wahrscheinlich auch fehlgeleiteten
Nachhaltigkeitspolitik führen würde. Ressourcen- und
Senkenproblematik sind zwar wesentliche Aspekte der
ökologischen Dimension der nachhaltig
zukunftsverträglichen Entwicklung, und könnten aus
nachvollziehbarer ökologischer Sicht in vielen Bereichen einen
vorrangigen Handlungsbedarf zum Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen begründen. Der Sache wäre damit jedoch
nach Auffassung der damaligen Enquete-Kommission nicht gedient. Und
so heißt es:
„Eine ökologisch dominierte
Nachhaltigkeitspolitik wird im gesellschaftlichen
Abwägungsprozess immer dann unterliegen, wenn sich andere
Problemlagen als unmittelbarer, spürbarer und virulenter
erweisen und damit auch für politisches Handeln dringlicher
und attraktiver sind. Selbst wenn sie sich durchsetzen kann, bleibt
sie ohne Wirkung, denn letztlich dürfte nur eine Politik der
Integration der drei Dimensionen in der Lage sein, die
konzeptionelle Schwäche einer von wirtschaftlichen und
sozialen Fragestellungen isolierten Umweltdiskussion zu
überwinden. Ein strategischer Durchbruch, gerade auch für
ökologische Anliegen, kann nur gelingen, wenn Umweltbelange
nicht länger einer hochspezialisierten Fachpolitik und
-bürokratie zugewiesen werden, sondern integraler Bestandteil
der Gesellschaftspolitik sind. … In Deutschland reift
allmählich die Erkenntnis, dass mit dem Leitbild der
nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung wichtige
Entwicklungslinien auch jenseits der ökologischen Dimension
angesprochen werden. Aufgrund der komplexen Zusammenhänge
zwischen den drei Dimensionen bzw. Sichtweisen von Ökologie,
Ökonomie und Sozialem müssen sie integrativ behandelt
werden. Dabei geht es – bildhaft gesprochen – nicht um
die Zusammenführung dreier nebeneinander stehender
Säulen, sondern um die Entwicklung einer dreidimensionalen
Perspektive aus der Erfahrungswirklichkeit. Die Diskussion tendiert
dahin, Nachhaltigkeitspolitik als Gesellschaftspolitik zu
interpretieren, die im Prinzip und auf lange Sicht alle genannten
Dimensionen gleichberechtigt und gleichwertig behandelt“
(Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der
Umwelt“ 1998: 31f.).
Eines ist
seit der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de
Janeiro zumindest klar geworden: Alles Wirtschaften und damit auch
die Wohlfahrt im klassischen Sinne stehen unter dem Vorbehalt der
ökologischen Tragfähigkeit. Ebenso klar geworden ist,
dass „auch ökologische Ziele (...) kaum umgesetzt werden
(können), wenn es Menschen aufgrund ihrer materiellen
Bedingungen schwer gemacht wird, Rücksichten auf
ökologische Ziele zu nehmen“ (Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998: 33). Kasten
8.1beschreibt die Diskrepanz zwischen Umweltbewusstsein und
Umwelthandeln in Deutsch land.
Eine nachhaltig
zukunftsverträgliche Wirtschaft und Gesellschaft lässt
sich nicht anhand exakter Kriterien ab schließend
definieren und im Sinne eines detaillierten Zielsystems steuern.
Grundlage aller Vorgehensweisen muss vielmehr zukunftsbezogenes
Lernen, Suchen nach entsprechenden Kriterien und der Wille zum
Gestalten sein, – ein Prozess also, der sich durch ein
gewisses Maß an Offenheit und Unsicherheit auszeichnet.
Aus der
Deklaration und der Agenda 21 von Rio ist ersichtlich, dass eine
nachhaltige Entwicklung ein gesellschaftliches Projekt von
großer Tragweite ist. Alle Bürgerinnen und Bürger
sowie die Akteure in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur
sind aufgeru- fen, im Rahmen dieses Lernens und Suchens auf die
Dauer aufrecht zu erhaltende Formen des Wirtschaftens und Lebens zu
finden. Die nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist
hierbei als regulative Idee zu verstehen, vergleichbar mit den
Leitideen Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. „So ist die
Herstellung von Gerechtigkeit oder Chancengleichheit aus
primär sozialpolitischem Interesse nicht allein ein soziales
Ziel, sondern auch Voraussetzung für langfristige
ökonomische Leistungsfähigkeit und folglich auch ein
ökonomisches Ziel“ (Enquete-Kommission „Schutz des
Menschen und der Umwelt“
1998: 33). „Mit diesem Verständnis von nachhaltig
zukunftsverträglicher Entwicklung lassen sich auch Richtungen
für die dazu notwendigen Such-, Lern- und Erfahrungsprozesse
ermitteln und die Prozesse politisch initiieren und
unterstützen“ (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und
der Umwelt“ 1998: 28).
Nachhaltige Entwicklung ist nur schrittweise
über evolutive, gesellschaftspolitische Konkretisierungs- und
Willensbildungsprozesse zu verwirklichen, in denen die
unterschiedlichen Perspektiven und Interessen der Individuen und
gesellschaftlichen Gruppen aufeinander abgestimmt werden. Das
bedeutet auch, dass dem
Vorsorgeprinzip Rechnung getragen wird (s.
Kasten 8-2).Dabei gilt es, den Prozessen angemessene
Verhaltensweisen und Verfahrensnormen zu finden, um so mittel- und
langfristig konkrete und verbindliche, gemeinsam anzustrebende
Ziele aufzustellen, die den Charakter von Etappen- oder
Zwischenzielen haben und die durch ihre laufende
Überprüfung spätere Entscheidungsoptionen und -wege
offen halten. In diesem Prozess der Werte- und Zielfindung geht es
immer auch darum, ökologische, ökonomische und soziale
Leistungsfähigkeiten zu verbessern. „Diese bedingen
einander und können nicht teiloptimiert werden, ohne
Entwicklungsprozesse als Ganzes in Frage zu stellen“
(Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der
Umwelt“ 1998: 33). Das schließt jedoch nicht aus, dass
bei alternativen Produktionsansätzen, die aus
ökologischer Sicht eine Verbesserung darstellen können,
etwa bei der ökologischen Landwirtschaft, auch
ökonomische Produktivitätsrückgänge entstehen
und von vielen akzeptiert werden.
Im Sinne
der regulativen Idee einer nachhaltig zukunftsverträglichen
Entwicklung geht es also nicht so sehr darum, ein für alle
Zeiten gültiges Zielbündel in einem gesellschaftlichen
Suchprozess zu identifizieren und zu verankern, denn: „Eine
nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist insofern
offen, als niemand einen allgemein verpflichtenden Zielzustand der
Gesellschaft daraus ableiten könnte. Gleichzeitig ist sie
insofern verbindlich, als sich eine Gesellschaft ... auf variable
Leitplanken einigen kann, deren Nichtbeachtung zu
gesellschaftlichen Entwicklungen führt, die offenkundig als
nicht nachhaltig zukunftsverträglich empfunden werden
(Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der
Umwelt“ 1998: 28).
Seit der
Proklamation des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung auf der
Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im
Jahr 1992 ist ein Jahrzehnt vergangen. Unübersehbar sind die
Versuche, dieses Leitbild zu operationalisieren und auf allen
Ebenen – der globalen, der nationalen, regionalen und lokalen
– in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Dabei ist
zunehmend klar geworden, dass dieses Leitbild nicht unmittelbar
implementiert werden kann.
Eine Umsetzung dieser Strategie in den Alltag
ist in vielen Ländern auf großes Interesse gestoßen.
Über die Einrichtung und Umsetzung Lokaler Agenden 21 in
verschiedenen europäischen Ländern lässt sich
Folgendes sagen (ICLEI 1999): Während sich in Schweden und
Großbritannien fast 100Prozent der Kommunen Lokale Agenden
gegeben haben, sind es in den Niederlanden 30 Prozent und in
Deutschland nur etwa 10 Prozent. Heute verfügen circa 16
Prozent der deutschen Kommunen über einen Agendabeschluss
(Agenda-Transfer 2002). Während die Agenden der deutschen
Kommunen sich auffallend an globalen Problemen orientieren, sind in
den drei oben genannten Ländern, in denen sich die Lokalen
Agenden 21 auch stärker auf Bürgerbeteiligungen
stützen als in Deutschland, die kommunale und regionale
Dimension wichtiger. Die meisten Agenda 21-Kommunen in diesen drei
Ländern haben Indikatoren entwickelt, mit deren Hilfe sie
Erfolge und Miss erfolge klassifizieren, also messen
können. In Deutschland sind solche kommunalen
Nachhaltigkeitsindikatoren bislang kaum entwickelt worden. Eines
der wichtigsten Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg einer
Lokalen Agenda 21 ist deren Verbindlichkeit. Während in
Schweden, Großbritannien und den Niederlanden fast alle
Kommunen einen Ratsbeschluss dazu gefasst haben, gibt es in
Deutschland oft keine Beschlussfassung in den örtlichen
Entscheidungsgremien. Zur Unterstützung der Lokalen Agenden in
Deutschland sind in den vergangenen Monaten die Servicestelle
Kommunen in der Einen Welt und die bundesweite Servicestelle
für Lokale Agenda 21 eingerichtet worden.
Das Leitbild der
nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung ist kein
deskriptives, sondern ein normatives Konzept. Es vermittelt schon
in seiner Begrifflichkeit die Vorstellung einer Welt wie sie sein
sollte, insbesondere einer Welt mit mehr intergenerativer
(Generationen-)Gerechtigkeit und mehr intragenerativer
(Verteilungs-)Gerechtigkeit. Alle Eingriffe des Menschen in
ökologische, ökonomische und soziale Systeme müssen
vor allem immer auch unter dem Aspekt der Verantwortbarkeit
für ihre Zukunftsfähigkeit gesehen werden, wobei
Aufmerksamkeit insbesondere auf die begrenzte Reproduzierbarkeit
vieler natürlicher Ressourcen gelegt werden muss.
Das Wirtschaften
und die Lebensstile der reichen Länder des Nordens sind nach
weit verbreiteter Ansicht aber nicht nur unter dem Aspekt der
Generationengerechtigkeit außerordentlich problematisch,
sondern genauso unter dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit.
Danach bestehe eine ausgeprägte
„Gerechtigkeitslücke“ zwischen den Ländern
des Nordens und den Ländern des Südens. In ihrem
„Bericht über die menschliche Entwicklung“ hat
UNDP 1999 festgestellt, dass die Ungleichheit sowohl zwischen den
Ländern als auch innerhalb der Länder im vergangenen
Jahrzehnt drastisch zugenommen hat (UNDP und DGVN 1999). Das
Verhältnis der Einkommen zwischen dem reichsten Fünftel
der Weltbevölkerung und dem ärmsten Fünftel lag 1999
bei 78:1; 1990 lag es noch bei 60:1 und 1960 bei 30:1.
Ungleichheiten bei den Einkommen und in der Verteilung von
Lebenschancen in diesem Ausmaß sind mit einer nachhaltig
zukunftsverträglichen Entwicklung nicht vereinbar.
Vom UN-Weltgipfel
für nachhaltige Entwicklung im August und September 2002 in
Johannesburg (Südafrika), erwarten deshalb insbesondere die
Entwicklungsländer ein stärkeres Engagement der
Industrieländer bei der Bekämpfung von Hunger und Armut,
beim Abbau von Handelsbarrieren gegen Waren aus den armen Nationen,
einen offenen und fairen Technologietransfer sowie die
Einführung neuer Mechanismen zur Finanzierung und Umsetzung
der Agenda 21.
Eine
„Gerechtigkeitslücke“ besteht jedoch nicht nur
zwischen den reichen Industrieländern und den
Entwicklungsländern, sondern auch zwischen den Geschlechtern
(vgl. Kapitel 6).Eine nachhaltig
zukunftsverträgliche Entwicklung und Geschlechtergerechtigkeit
sind im Zusammenhang mit der ökologischen Dimension der
Nachhaltigkeit eng verknüpft, zumal
– das
Umweltbewusstsein und die Risikowahrnehmung von Frauen im
Durchschnitt höher ist als das der Männer,
– Frauen in den
Entwicklungsländern die Hauptlast der Arbeit für die
Überlebenssicherung tragen und von Umweltzerstörungen
besonders betroffen sind und
–
Subsistenzproduktion und Umweltschutzarbeit in der Regel im
Verantwortungsbereich der Frauen liegen.
Intragenerative Gerechtigkeit verlangt, den
Grundsatz der Geschlechtergerechtigkeit in allen gesellschaftlichen
Bereichen durchzusetzen. Davon sind wir heute, auch in den
fortgeschrittenen Staaten des Nordens, noch weit entfernt.
Eine ganzheitliche und integrative Sichtweise
reicht über die bloße Frage der inter- und
intragenerativen Gerechtigkeit hinaus. „Ohne die Teilhabe von
den ärmsten Ländern an den Gewinnen der internationalen
Arbeitsteilung ist die gemeinsame Zukunft der Welt nicht nachhaltig
zu sichern“ (BT-Drs. 14/7143). Hier muss aber auch nach den
Gründen, die in diesen Ländern selbst liegen, gefragt
werden, wie z. B. Clanherrschaften, Korruption und gewollte
Isolierung, sowie nach den historischen Vorbedingungen wie
Kolonialisierung, Ziehung politischer Grenzen, die z.B. quer durch
ethnische Gruppierungen verlaufen, etc..2 Hier stellt sich die Frage, welchen Beitrag
die Gestaltung der Globalisierung im Rahmen einer nachhaltig
zukunftsverträglichen Entwicklung für eine Welt mit mehr
Gerechtigkeit und mehr Lebenschancen für Alle leisten
kann.
1 Dieses Kapitel entstandmit freundlicher
Unterstützung von Dr. Summerer, Umweltbundesamt.
2 Auf dem Gipfel Afrikanischer Staaten im Juli 2001
wurde die Initiative für New Partnership for Africa’s
Development (NEPAD) verabschiedet, deren zentrale Elemente die
afrikanische Eigenverantwortung und die aktive Teilnahme Afrikas an
der Gestaltung globaler Rahmenbedingungen sind. Alle entscheidenden
Probleme Afrikas werden angesprochen. Von Bedeutung ist die
Feststellung, dass Fehlentwicklungen auch durch eigenes Handeln
verursacht wurden und dass Demokratie, Rechtsstaat, Beachtung der
Menschenrechte, Frieden und Stabilität die Voraussetzung
für jegliche Entwicklung darstellen. Die G8-Staaten haben in
Genua die Erarbeitung eines Aktionsplanes zur Unterstützung
der NEPAD durch eine Gruppe (Afrika-)Beauftragter beschlossen, der
auf dem G8-Gipfel in Kananaskis am 26. Juni 2002 verabschiedet
werden soll.
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