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Geschlechtergerechtigkeit1, 2
6.1
Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisierung
Der Globalisierungsprozess ist von
Ungleichzeitigkeiten und unterschiedlichen Perspektiven
gekennzeichnet. Eine Analyse, die Globalisierung als unabwendbares
Schicksal darstellt und deren Folgen auf Ausgrenzungsprozesse
reduziert, wird den Widersprüchlichkeiten und Brüchen in
veränderten Arbeits- und Lebensverhältnissen ebenso wenig
gerecht, wie eine Beschreibung, die nur die Chancen der
zukünftigen Entwicklung thematisiert.
Diese
ambivalente Bewertung trifft auch zu, wo Globalisierung aus der
Sicht der Geschlechterverhältnisse analysiert wird.
Diese beschreiben keineswegs ein homogen-dua listisches
Verhältnis, bei dem alle Frauen Verliererinnen und alle
Männer Gewinner sind. Vielmehr ist ein differenziertes
Verständnis der globalen Zusammenhänge unerlässlich,
da Geschlecht, Klasse und Ethnizität in einer komplexen
Wechselwirkung zueinander stehen. Zum Beispiel wirkt sich die
Globalisierung auf eine Angestellte im Bankensektor im mittleren
Management anders aus als auf die Migrantin aus Polen oder den
Philippinen, die in deren Haushalt arbeitet. Andererseits zeigen
sich gerade in der Geschlechterfrage die Bedeutung der
individuellen Entscheidungen für Lebensmodelle, Berufswege und
politische Partizipation.
Die Auffassung, dass besonders die
ökonomische Globalisierung ein widersprüchlicher Prozess
ist, wird von einem Großteil der Fachliteratur bestätigt.
Die Globalisierung bietet neue Optionen und Chancen, enthält
aber gleichzeitig auch neue Risiken für marginalisierte
Gruppen, die lediglich über einen eingeschränkten Zugang
zu ökonomischen Ressourcen, zu Wissen und Qualifikationen
sowie zu Macht und Entscheidungspositionen verfügen. Viel zu
wenig präsent im öffentlichen Bewusstsein ist dabei die
Tatsache, dass bei den Widersprüchlichkeiten und
Ungleichzeitigkeiten der Globalisierungsprozesse
Geschlechterverhältnisse eine herausgehobene Rolle spielen.
Zur Veranschaulichung von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten
werden in Kapitel 6.1.1 die beiden im
UN-System akzeptierten Geschlechterindizes, die das
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) entwickelt hat,
vorgestellt. Auch das UN-Konzept der „menschlichen
Sicherheit“ (Human security) hat zum Ziel, Unsicherheiten und
Ungleichheiten in der sozialen und individuellen Versorgung im
Kontext der ökonomischen Globalisierung zu bewerten (vgl.
Kapitel 6.2.3).
Die Wechselwirkungen von Globalisierung und
Geschlechterverhältnisse können in dreifacher Hinsicht
beschrieben werden (Ruppert 2002).
Erstens wirkt Globalisierung zum Teil
sehr ungleich auf die konkreten Lebens- und
Arbeitsverhältnisse von Frauen und Männern, wodurch
insbesondere viele arme Frauen in Entwicklungsländern Gefahr
laufen, sowohl kurz- als auch langfristig eher zu den
Verliererinnen der Globalisierung zu zählen. Darüber
hinaus basiert Globalisierung zweitens auf geschlechtlichen
Ungleichheiten, die den Auswirkungen von Globalisierung gleichsam
vo rausgehen (vgl. Kapitel 6.2.1).
Drittens verändert Globalisierung aber auch bestehende
Geschlechterarrangements. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn sich
neue Formen der Arbeitsteilung abzuzeichnen beginnen oder wenn die
Auswirkungen der internationalen Finanzkrisen auf Armutsmigration,
Menschenschmuggel und Zwangsprostitution analysiert werden (vgl.
Kapitel 6.2.2 und 6.2.4).
Damit birgt die Globalisierung einerseits
für viele Frauen das Risiko, dass strukturelle
Benachteiligungen für die einen weiter zunehmen. Andererseits
kann Globalisierung in dem Maße, wie sie zu gesellschaftlicher
Veränderung beiträgt, auch neue Chancen politischer
Mitgestaltung für Frauen und neue Möglichkeiten
gesellschaftlicher Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung
zwischen Frauen und Männern eröffnen. Ein wichtiges
Instrument ist in diesem Kontext die seit der 4. UN-Weltfrauenkonferenz
in Peking allgemein akzeptierte Strategie des „Gender
Mainstreaming“ (vgl. Kapitel 6.3).
Der vorliegende
Text greift zentrale Fragestellungen dieser komplexen Thematik auf.
Diese müssten vertieft werden. Es wäre deshalb über
die Notwendigkeit nachzudenken, diese vielfältigen
Zusammenhänge in einer eigenen Bundesstiftung
„Geschlechterdemokratie“ in Analogie zur Stiftung
„Frieden und Entwicklung“ im internationalen Kontext zu
erforschen.
1 Das vorliegende
„Geschlechtergerechtigkeit“ stellt ein
Querschnittskapitel dar. Themenspezifische Vertiefungen finden sich
insbesondere auch im Kapitel 2
(Finanzmärkte), Kapitel 4
(Arbeitsmärkte), Kapitel 5 (Globale
Wissensgesellschaft) und Kapitel 10 (Global
Governance).
2 Der vorliegende Berichtsteil wurde im Konsens
verabschiedet. Vgl. dabei auch den Kommentar der CDU/CSU-Fraktion
in Kapitel 11.1.7.5.
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