Schmiedefeld ist ein 2.000-Seelen-Dorf mitten im Thüringer Wald. Arbeitsplätze und damit auch Ausbildungsplätze sind Mangelware. Wer die Schule beendet, bewirbt sich in der Regel erst in den Nachbardörfern, darauf im 30 Kilometer entfernten Ilmenau, dann in ganz Thüringen - und schließlich im Westen. "Wir gucken jedes Jahr zu, wie unsere Schüler abwandern, weil wir ihnen hier keine Perspektive bieten können", sagt die Leiterin der Regelschule Schmiedefeld, Kerstin Baumgart.
Wie dramatisch die Lehrstellensituation in Deutschland ist, spricht sich vor allem jedes Jahr im Sommer herum, wenn die Zeitungen voll davon sind, dass noch 100.000 Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind. Wer wissen will, um wie viel dramatischer die Lage in Ostdeutschland ist, muss sich schon etwas tiefer über die Zahlenwerke beugen. Laut dem bisher unveröffentlichten Berufsbildungsbericht 2004, der dem "Parlament" bereits vorliegt, fehlten allein 2003 in den neuen Ländern Ausbildungsplätze für über 30.000 Jugendliche. Die Zahl der in Ostdeutschland Lebenden und Lernenden ging zwischen 1999 und 2003 um 37.000 zurück. Und auch vom Prinzip der klassischen dualen Ausbildung kann nur noch in Teilen die Rede sein: Nahezu jeder Dritte, nämlich 32 Prozent der Plätze, werden im laufenden Ausbildungsjahr vom Staat finanziert; im Westen sind es gerade einmal 4,8 Prozent. Offiziell sitzen diese Jugendlichen auf Lehrstellen für behinderte, benachteiligte oder lernbeeinträchtigte Jugendliche. In der Realität sind viele von ihnen aber nicht individuell, sondern strukturell benachteiligt - weil sie in einer Gegend leben, in der es keine Ausbildungsplätze gibt.
Daniel Zimmermann kann sich nicht vorstellen, seine Ausbildung in einer staatlichen Maßnahme zu machen. IT-Systemelektroniker will er werden, und zwar in einem Betrieb, sagt er. Noch einmal auf eine Schule, erzählt er, dazu hätte er keine Lust: "Irgendwann muss man doch auch mal richtig arbeiten; so mit Verantwortung und so. Die Schulbank gedrückt habe ich jetzt lange genug."
Sämtliche einschlägigen Statistiken verweisen darauf, dass die meisten Jugendlichen eine betriebliche einer außerbetrieblichen Lehrstelle vorziehen. Deswegen soll auch die in allen Fraktionen umstrittene Ausbildungsabgabe, über die seit vergangener Woche im Bundestag beraten wird, nicht etwa staatliche, sondern betriebliche Lehrstellen finanzieren. Kurz gesagt ist das Prinzip folgendes: Betriebe, die weniger als sieben Prozent Lehrlinge beschäftigen, werden verpflichtet, in einen Fonds einzuzahlen. Mit dem Geld, das so zusammenkommt - das Bundesbildungsministerium rechnet mit 2,65 Milliarden Euro pro Jahr, - werden Lehrstellen in Unternehmen subventioniert, die mehr als sieben Prozent Lehrlinge beschäftigen. Zahlen müssten nicht nur Unternehmen, sondern auch Kommunen, Länder oder Gewerkschaften, die zu wenig ausbilden.
Welche Auswirkungen die Abgabe für die strukturschwachen neuen Länder haben wird, ist nicht abzusehen. Denkbar ist, dass die Unternehmen im Osten profitieren - allerdings nur, wenn die Zahl der Ausnahmeregelungen begrenzt bleibt. So fordern auch sozialdemokratische Ministerpräsidenten im Westen, wie die schleswig-holsteinische Landeschefin Heide Simonis, Länder, in denen genügend Plätze bereitstünden, von der Abgabe auszunehmen. Und auch der neue SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter erklärte, die westdeutschen Unternehmen dürften nicht für die Sondersituation in Ostdeutschland zur Kasse gebeten werden.
Denkbar ist aber auch, dass gerade Mittelständler, die ohnehin ums Überleben kämpfen, zusätzlich belastet werden. "Getroffen werden auch Unternehmen in den neuen Ländern, die wegen ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage keine hohen Ausbildungszahlen erreichen", erklärt die brandenburgische CDU-Abgeordnete Katherina Reiche. Der SPD-Oberbürgermeister von Leipzig warnt vor einer finanziellen Katastrophe der ostdeutschen Kommunen und fordert, der Entwurf dürfe "so nicht Wirklichkeit werden".
Fest steht, dass zurzeit in Ostdeutschland eine demographische Zeitbombe tickt: Seit Jahren zieht es in jedem Sommer einen Treck junger, arbeitswilliger Menschen gen Westen. Allein 2003 verließen 15.000 Jungen und Mädchen die neuen Bundesländer; 4.000 von ihnen kamen aus Thüringen.
Joachim Ulrich erforscht für das Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) die Mobilität von Jugendlichen - und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass eine "enorm hohe" Zahl bereit ist, umzuziehen. "Das Bild von den unflexiblen Jugendlichen ist ein Klischee", sagt Ulrich. In den neuen Ländern bewerbe sich jeder Dritte auf Lehrstellen in mehr als 100 Kilometer Entfernung; in den alten Ländern immerhin jeder Zehnte. "Natürlich hängt das damit zusammen, wie die Lage vor Ort ist", sagt Ulrich. "Aus Baden-Württemberg gibt es für viele schlicht keinen Grund wegzugehen." Der Ausbildungsforscher verweist auch darauf, wie groß der Schritt für viele ist: "Mit 16 oder 17 von zuhause wegzugehen - das ist eine enorme Herausforderung."
Nicht statistisch erfasst wird, wie viele Jugendliche bei der Suche nach einer Ausbildung einen anderen Kompromiss machen - nämlich den, etwas zu lernen, was sie eigentlich nie werden wollten. So wie Dinah Geiger. Die 17-jährige Thüringerin hat im letzten Sommer ihren Realschulabschluss gemacht. Bis ins 70 Kilometer entfernte Erfurt bewarb sie sich als Tierarzthelferin. Vergeblich. Ein Umzug sei für sie nicht in Frage gekommen. Am Ende schrieb sie 50 Bewerbungen, um eine Lehrstelle als Einzelhandelskauffrau zu bekommen. Nach 49 Absagen kam eine Zusage von einem Elektrohandel in Ilmenau. "Das ist schon okay", sagt die 17-Jährige heute, "die Gespräche mit Kunden machen Spaß, die Kollegen sind nett. Aber trotzdem: Meinen Traumberuf werde ich nie lernen."
Noch nie gab es in Deutschland so wenige Lehrstellen wie im vergangenen Jahr. Allein von 2002 auf 2003 sank das Ausbildungsplatzangebot um 7,6 Prozent. Mitte August buhlten noch 231.000 Suchende um 83.000 Ausbildungsplätze; Ende September waren noch 35.000 Jugendliche auf der Suche. Inzwischen ist die Statistik wie in jedem Jahr "bereinigt" - mit Hilfe staatlicher Maßnahmen oder "ausweichender" Jugendlicher. 46.700 Bewerber suchten sich laut BIBB eine Alternative zu einer Lehre. Sie jobben jetzt irgendwo, stecken in einer berufsvorbereitenden Maßnahme, machen Praktika oder tun gar nichts. In einer internen Kurzstudie für Bundesministerin Edelgard Bulmahn kommt das BIBB zu dem Ergebnis, dass sich 2003 mehr als 50 Prozent der Jugendlichen, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit um eine Lehrstelle beworben haben, umorientiert haben.
Diejenigen, die sich nicht haben entmutigen lassen, werden im Sommer wieder auf dem engen Lehrstellenmarkt auftauchen. Sie gesellen sich zu den etwa 600.000 Schulabgängern, die laut Berufsbildungsbericht in diesem Sommer einen Ausbildungsplatz suchen werden. Die Zahl der Schulabgänger wird in diesem Jahr noch einmal steigen; allerdings nur im Western. Bis sich der Geburtenrückgang im Osten auf den Lehrstellenmarkt auswirkt, wird es aber angesichts der zahlreichen Altnachfrager nach Einschätzung von Experten 2007 werden. Dann aber werden vor allem die Unternehmer in den neuen Ländern um jeden einzelnen Lehrling buhlen müssen. Das "Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung" in Berlin hat errechnet, dass sich die Zahl der 16- bis 19-Jährigen in den neuen Ländern bis 2010 um 40 bis 50 Prozent reduzieren wird. Dank Geburtenknick und Abwanderung drohe eine "massive Unterversorgung" mit Auszubildenden, so das Institut.
Im Thüringer Wald hat der dramatische Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzmangel schon heute dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung. Lebten im kleinen Schmiedefeld Ende der 80er-Jahre noch 3.500 Menschen, sind es heute nur noch 2.000. Die Wegziehenden sind in der Regel genau jene, auf die eine strukturschwache Gegend nicht verzichten will. Leute wie Daniel Zimmermann. Wer mit 17 in eine andere Welt zieht, kommt in den seltensten Fällen mit 20 zurück.