Mit der denkbar knappsten Mehrheit von 5 : 3 Stimmen hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine neue Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat gefordert. (Aktenzeichen Bundesverfassungsgericht 2 BvE 3/02) Die Richter entschieden, dass die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen durchgesetzte Regelung für die Benennung der Bundestagsvertreter zu stark von dem knappen Ausgang der Bundestagswahl am 22. September 2002 abweicht. Allerdings ließen die Karlsruher Richter es weitgehend offen, wie eine Korrektur in dem Gremium aussehen muss. Die bisherigen Entscheidungen des Vermittlungsausschusses ließ das Gericht unangetastet.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte das Organstreitverfahren angestrengt, weil die Koalitionsfraktionen nach der Wahl das Zählverfahren für die Besetzung des Vermittlungsausschusses geändert hatten. Beide Fraktionen hatten den neuen Verteilerschlüssel damit begründet, im Interesse der Arbeitsfähigkeit des Gremiums müsse ein Patt vermieden werden. Nach den drei üblichen Zählverfahren (d`Hondt, Hare/Niemeyer und St. Lague/Schepers) wäre die SPD nach der Bundestagswahl wie auch die Union mit sieben Abgeordneten vertreten gewesen. Mit einem "Korrekturfaktor" hatte die Mehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 30. Oktober 2002 im Bundestag durchgesetzt, dass der SPD acht und der CDU/CSU nur sechs Plätze zugestanden wurden. Bündnis 90/Die Grünen und FDP entsenden je einen Vertreter in den Vermittlungsausschuss. Die Koalitionsfraktionen konnten sich so eine Mehrheit in dem Gremium sichern, was die klagende Union als politischen Willkürakt bezeichnet hatte. Eine einstweilige Anordnung der Union gegen den Bundestagsbeschluss war vom Zweiten Senat am 3. Dezember 2002 abgelehnt worden.
In ihrem Urteil vom 8. Dezember 2004 kommen die Richter zu dem Ergebnis, dass eine derart starke Abweichung vom Wahlergebnis - die SPD erzielte 41,63, die Union 41,13 Prozent - mit dem "Grundsatz der Spiegelbildlichkeit" unvereinbar sei. Die Bundestagsbank im Ausschuss sei ein "verkleinertes Abbild des ganzen Bundestags". Andererseits dürfe sich dort - wenn auch nur eingeschränkt - die Regierungsmehrheit niederschlagen, um die politische Entscheidungsbildung zu gewährleisten. Der Gegensatz zwischen "Mehrheitsprinzip" und dem Grundsatz der proportionalen Abbildung des Bundestags müsse zu einem "schonenden Ausgleich" gebracht werden, lautet die schwierige Vorgabe der Richter an die Fraktionen des Bundestages. Das Gericht machte dem Parlament zur Auflage, die Zusammensetzung des Ausschusses noch in dieser Wahlperiode neu zu regeln. Es müsse eine von allen Fraktionen akzeptierte Lösung gefunden werden, die sowohl die im Bundestag bestehende Kanzlermehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen als auch die Fraktionsstärken berücksichtige. Die bisherige Sitzverteilung bewertete das Gericht dennoch als verfassungsgemäß, weil die Koalition nach der Bundestagswahl zu einer raschen Neubesetzung genötigt gewesen sei.
Das Urteil enthält keinen konkreten Lösungsvorschlag, so dass unmittelbar nach Bekanntgabe des Richterspruchs ein heftiger politischer Streit über die Konsequenzen begonnen hat. Deutliche Worte fand der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Michael Glos. "Diese Ohrfeige ist ein weiterer Beleg für den rücksichtslosen Umgang der rot-grünen Mehrheit im parlamentarischen Miteinander. Für das selbst verkündete Prinzip 'Mehrheit ist Mehrheit' gilt, Hochmut kommt vor dem Fall." Der CSU-Vorsitzende, Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, ging noch einen Schritt weiter und warf der Koalition Rechtsbruch vor. "Damit ist klar: Rot-Grün hat das Recht gebrochen, um sich Macht zu sichern." Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen, meinte, die Richter hätten festgelegt, dass Manipulationen in der deutschen Politik keine Chance hätten.
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, äußerte sich zunächst verhaltener. Er sprach von einem Sieg der Union und erwarte deshalb, dass der Vermittlungsausschuss bereits in seiner nächsten Sitzung in neuer Zusammensetzung tagen werde. Die SPD habe signalisiert, dass der Bundestag am selben Tag einen entsprechenden Beschluss fassen könne, sagte Kauder, der selbst Mitglied des Vermittlungsausschusses ist.
Eine solche Absprache wurde von der SPD umgehend dementiert. "Wir werden den Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages beauftragen, das Urteil sorgfältig zu prüfen und Vorschläge für die Umsetzung des Urteils zu unterbreiten", kündigte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Wilhelm Schmidt, an. Das Verfassungsgericht habe "keinen Verstoß bei der Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses festgestellt. Alle Entscheidungen des Vermittlungsausschusses und des Parlaments sind damit rechtsgültig", betonte Schmidt und wies die Vorwürfe der Union zurück, die SPD habe die Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses willkürlich geändert.
Die SPD hatte in ihrem Schriftsatz auf die Klage der Union entgegnet, es müsse strukturell gesichert sein, dass eine im Vermittlungsausschuss erzielte Einigung auch für die Mehrheit im Bundestag akzeptabel sei. Es sei sogar verfassungsrechtlich geboten, die Mehrheit als solche widerzuspiegeln und damit das für die demokratische Willensbildung entscheidende Strukturmerkmal auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses abzubilden. Und so konnte die SPD auf die Passagen des Urteils verweisen, die ihre Argumentation stützen. Darin heißt es: "Der demnach auch für die Besetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss geltende Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gilt nicht uneingeschränkt. Er muss im Konfliktfall mit dem Prinzip stabiler parlamentarischer Mehrheitsbildung in Einklang gebracht werden. Der gleichheitsgerechte Status von Abgeordneten und Fraktionen lässt bei Vorliegen besonderer Gründe Differenzierungen zu."
Eine schärfere Tonart schlug der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler an. Notfalls werde die Mehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages durchsetzen, um die bisherige Sitzverteilung aufrecht zu erhalten, sagte er in einem Interview. "Zunächst streben wir nach einer einvernehmlichen Lösung, aber wenn das nicht funktioniert, passen wir die Geschäftsordnung im Alleingang an", fügte Stiegler hinzu. Der Richterspruch sei ein "Phyrrus-Sieg für die Union". Die Union könne ihren Wunsch nach einer raschen Neuverteilung der Sitze "an den Weihnachtsmann verschicken". Der Justitiar der SPD-Fraktion, Hermann Bachmaier, ergänzte: "Der Nutznießer wird nicht die CDU sein."
Die Stellungnahmen von Bündnis 90/Die Grünen gingen in eine ähnliche Richtung. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Volker Beck, wies darauf hin, das Gericht habe den Wunsch der Bundestagsmehrheit als legitim betrachtet, diese Mehrheit in allen Gremien abzubilden, also auch bei der Entsendung der 16 Bundestagsvertreter in den Vermittlungsausschuss. Voraussichtlich sei eine Anhörung des Geschäftsordnungsausschusses notwendig. Im übrigen sei nicht die klagende Union, sondern seine Fraktion 2002 bei der Sitzverteilung am stärksten benachteiligt worden. Beck zitierte dazu die Begründung der Richter.
Diese hatten gerügt, nach dem Verteilerschlüssel entfalle bei der SPD auf 31 Abgeordnete ein Ausschusssitz, bei CDU/CSU auf 41 und bei den Grünen stehe es sogar 55 zu eins. Beck vermochte sich auf die Argumentation der Richter stützen, der umstrittene Sitz könne auch Bündnis 90/Die Grünen zufallen. In der Begründung für die Ablehnung der einstweiligen Anordnung heißt es: "Auch wäre es denkbar, den unberücksichtigten Sitz derjenigen regierungstragenden Fraktion zuzuweisen, die nach Anwendung eines der drei Zählverfahren über den höchsten Restwert verfügt, was in diesem Fall die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begünstigt hätte."
Die Union sah sich daraufhin veranlasst, die Koalition vor einem "Verfassungsbruch" zu warnen. Der Justitiar der CSU-Landesgruppe, Hans-Peter Friedrich, mahnte SPD und Bündnis 90/Die Grünen, das Urteil nicht zu ignorieren und schnell zu handeln. Er zitierte die Richter, die dem Bundestag die Verpflichtung auferlegt hätten, "unverzüglich und unter Ausschöpfung der in Geschäftsordnungsangelegenheiten üblichen Kooperation zwischen allen Fraktionen des Bundestages einen entsprechenden Beschluss neu vorzubereiten und zeitnah zu fassen".
"Für den Vermittlungsausschuss bedeutet das Urteil, dass wir einen Sitz mehr bekommen und damit eine Mehrheit im Ausschuss haben", hatte der CDU-Politiker Kauder unmittelbar nach der Bekanntgabe des Richterspruchs gesagt. Ob er damit Recht behält, ist derzeit völlig offen. Jedenfalls konnte Kauder sich ebenfalls auf den Wortlaut des Urteils berufen. Darin findet sich die Feststellung: "Im Vermittlungsausschuss verhandeln nicht die Mehrheit des Bundestages mit einer politischen Mehrheit der Länder, sondern der Bundestag mit dem Bundesrat. Die Bundestagsbank ist deshalb nicht etwa ein verkleinertes Abbild der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit oder gar Repräsentant der Regierung, sondern ein verkleinertes Abbild des ganzen Bundestages in seinem durch die Fraktionen geprägten und auf die Volkswahl zurückgehenden politischen Stärkeverhältnis." Inzwischen drohte Kauder bereits mit einer erneuten Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.
Eine am vergangenen Mittwoch von der CDU/CSU-Fraktion beantragte Kurz-Debatte über die Besetzung des Vermittlungsausschusses dürfte die Fronten zwischen Koalition und Opposition weiter verhärtet haben. Die Union forderte in ihrem Antrag (15/4494), dass sie und die SPD sieben Mitglieder im Vermittlungsausschuss stellen kann, während auf Bündnis 90/Die Grünen und FDP weiterhin ein Sitz entfallen soll. Die hitzige Aussprache wurde ausschließlich von den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen bestritten.
Kauder wiederholte seine Ansicht, das Bundesverfassungsgericht habe "in vollem Umfang dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stattgegeben. Wir haben den Prozess gewonnen". Nach allen Zählverfahren stünden SPD und CDU/CSU je sieben Sitze zu. Die Äußerungen Stieglers kommentierte der CDU-Politiker mit den Worten, "die SPD hat in früheren Jahrzehnten den einen oder anderen großen Politiker herausgebracht. Stiegler zählt hundertprozentig nicht dazu".
Kauders Gegenspieler von der SPD, Wilhelm Schmidt, warf diesem einen "unangemessenen Umgang mit einem Verfassungsgerichtsurteil" vor. Der Unionsantrag sei "ein Schnellschuss, den wir nicht mittragen werden". Entgegen der Behauptung der Union hätten die Koalitionsfraktionen nicht das Recht gebrochen. Der SPD-Politiker machte sich ein Zeitungszitat zu eigen, demzufolge das Urteil Ratlosigkeit ausgelöst habe. Es gebe "keine klaren Vorgaben des Gerichts". Dieser Sicht wurde in der Union nicht widersprochen. Schmidt sicherte zu: "Wir werden dieses Urteil sorgfältig prüfen."
"Schonender Ausgleich"
Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen wies darauf hin, dass die Richter ausdrücklich keinen Verstoß gegen Verfassungsrecht festgestellt hätten. Das Gericht habe den umstrittenen Sitz nicht der Union zugesprochen. "Das hat das Gericht aber gerade nicht getan." Der Zweite Senat habe einen "schonenden Ausgleich" verlangt. Die Forderung der Union laufe aber auf einen "schonungslosen Raubzug" hinaus. Beck sieht drei Lösungswege: Die Anwendung eines neuen Zählverfahrens, die Änderung der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses (mehr Mitglieder) oder der Geschäftsordnung des Bundestags (Verfahren zur Mehrheitsbildung eindeutig regeln). Darüber werde zunächst im Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags beraten. Unter Umständen müsse noch eine Anhörung angesetzt werden.
Für die FDP-Fraktion hatte Jörg van Essen ebenfalls eine sofortige Entscheidung im Bundestag gefordert. SPD und CDU/CSU hätten bei der Bundestagswahl jeweils 41 Prozent erzielt, mit unterschiedlichen Ziffern hinter dem Komma. Daraus acht und sechs Sitze abzuleiten, sei nicht die geforderte spiegelbildliche Wiedergabe der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Schließlich wurde der Antrag der Union mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur weiteren Beratung an den Geschäftsordnungsausschuss überwiesen.
Die praktischen Auswirkungen einer Mehrheit von CDU/CSU und FDP im Vermittlungsausschuss würden sich ungeachtet des Parteienstreits in engen Grenzen halten. Das Gremium hat gemäß Artikel 77 des Grundgesetzes die Aufgabe, nach Kompromissen zu suchen, wenn vom Bundestag beschlossene Gesetze etwa zu Reformvorhaben vom Bundesrat abgelehnt werden. Dem Gremium gehören neben den 16 Vertretern des Bundestages weitere 16 des Bundesrates an. Da CDU und CSU derzeit auf der Bundesratsbank über neun Stimmen verfügen, die SPD aber nur über sieben, besteht seit der Wahlniederlage der SPD in Niedersachsen im Februar 2003 tatsächlich ein Patt im Vermittlungsausschuss. Das hat dessen Arbeit allerdings nicht unbedingt behindert, da die Mitglieder des Gremiums nicht an Weisungen gebunden sind. Da es die verfassungsgemäße Aufgabe des Vermittlungsausschusses ist, zu verhandeln und nach Kompromissen zu suchen, scheint eine Dauerblockade einer Mehrheit von Union und FDP wenig wahrscheinlich.
Dies gilt für die so genannten Zustimmungsgesetze, die in die Finanzen oder andere wichtige Belange der Länder eingreifen. Dann kann der Bundestag ein Veto des Bundesrates nicht überstimmen. Und es gilt auch für Einspruchsgesetze, die vom Bundestag auch bei Einspruch des Bundesrates mit der Kanzlermehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Kraft gesetzt werden können. Auch mit der Mehrheit im Vermittlungsausschuss könnte die Union solche Vorhaben nicht blockieren, allenfalls unter Umständen zeitlich verzögern.