Europa war das Thema der sechsten Sitzung der Bundesstaatskommission aus Bundestag und Bundesrat. Bundes- und Ländervertreter debattierten über die deutsche Handlungsfähigkeit in der EU im Blick auf Artikel 23 Grundgesetz und dessen mögliche Änderungen. Die Länder waren gegen eine Änderung des Artikels. Zunächst aber brachte Covorsitzender und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), zugleich Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder, das gemeinsame Positionspapier einer Sondersitzung dieser Konferenz zur Föderalismusreform ein (vgl. Das Parlament Nr. 21/22, Seite 15)
Die bei unterschiedlichen Interessen gefundene gemeinsame Position könne eine Reform erleichtern, die die Interessen von Bund und Ländern berücksichtige und zugleich den Föderalismus fördere. Bund und Länder müssten am Ende Gewinner sein. Wolle der Bund die Fesseln des Bundesrats in der Gesetzgebung abstreifen und die Handlungsfähigkeit gegenüber der EU erweitern, müsse er den Ländern mehr Spielraum geben. Lebendig sei Föderalismus nur, wenn Länder eigenverantwortlich handelten und es einen Wettbewerb um beste Lösungen und Ideen gebe, sagte Stoiber.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Angelica Schwall-Düren sieht Bund und Länder einig, wenn Deutschlands Handlungsfähigkeit in der EU zu stärken sei und Regelungen an die anstehende Europa-Verfassung anzupassen seien. Strittig sei der Weg. Sachverständige hätten die zu komplexen Regeln des Artikel 23 kritisiert. Sie behinderten deutsche Interessen in der EU. Zudem schwächten imperative Mandate deutsche Unterhändler, weil sie sie paralysieren könnten. Der Bundestag komme trotz seiner Stellung in der Verfassung zu kurz.
Die Reform müsse die Handlungsfähigkeit in Europa stärken, imperative Mandate verwerfen und dürfe Länderrechte nicht ausweiten. Mehrheitsentscheidungen im EU-Rat und EU-Parlament verlangten Koalitionen und Paketlösungen, zu denen die Länder nicht fähig seien. Deutschland müsse in Europa mit einer Stimme sprechen.
Für Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) funktioniert die Vertretung in Brüssel "noch recht gut"; vor allem weil die Länder ihre Rechte aus Artikel 23 nicht vollständig ausschöpften. Forderte der Bundesrat mit Zweidrittel-Mehrheit die Regierung auf, auf bestimmten Position zu beharren, bekäme das der deutschen Position sehr schlecht. Man müsste die Partner hinhalten, später werde man nicht mehr ernst genommen. Deshalb sei Artikel 23 der Verfassungswirklichkeit, also der zurückhaltenden Beteiligung der Länder, anzupassen, schon weil es in der 25-Staaten-EU häufig Mehrheitsentscheidungen geben werde. Deshalb könne es kein Alleinvertretungsrecht und Alleinentscheidungsrecht der Länder da geben, wo sie innerstaatlich zuständig seien. Gefragt seien vielmehr Lösungen, die die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern verbesserten.
Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast (Bündnisgrüne) wollte am Beispiel der Agrarpolitik zeigen, dass nur e i n deutscher Vertreter deutsche Interessen in Europa vertreten sollte. Zur Strategie gehöre, das Bündel an Interessen von der Agrarpolitik über Klimaschutz, Umweltfragen bis zum Tierschutz im Blick zu haben. Sehr früh müsse man deutsche Interessen der Kommission, anderen Staaten und dem Parlament signalisieren, um am Entscheidungsprozess teilzunehmen. Manche Verhandlung laufe über Wochen, bis der Vorsitzende feststelle, nun gebe es eine qualifizierte Mehrheit. Ein Bundesratsbeschluss wäre schon nach der ersten Runde überholt, weil sich die Diskussion in eine andere Richtung bewegte.
Der Chef der Staatskanzlei in Stuttgart, Rudolf Böhmler (CDU), bedauerte, dass der Bund Länderrechte zu Europa einschränken wolle. Europas künftige Verfassung werde Regionen stärken und damit die Länder. Klare Trennung der Zuständigkeiten sorge für Effektivität. Europapolitik werde immer mehr zur Innenpolitik. Deshalb sei ein Bundesratsvotum von "uneingeschränkter Verbindlichkeit" nötig auf den Feldern, für die vor allem die Länder zuständig seien: Bildung, Wissenschaft, Kultur und innere Sicherheit.
Für den Mainzer Justizminister Herbert Mertin (FDP) ist die "Festung der Länder" zu Artikel 23 nicht sturmreif zu schießen. Rheinland-Pfalz sehe die Mitwirkung der Länder in EU-Fragen als bewährt an. Die Länder gingen damit verantwortungsbewusst um. Deshalb brauche man da nichts zu ändern. Sollte Europas Verfassung die Mitwirkung der Länder verhindern, müssten sie prüfen, ob sie ihr überhaupt zustimmen könnten.
Ernst Burgbacher, Bundestagsabgeordneter der FDP, widersprach dem Parteifreund. Viele in der FDP-Fraktion im Bund fänden Artikel 23 sehr unglücklich. Sie zweifelten, ob so deutsche Interessen in Brüssel angemessen zu vertreten seien. Andere Staaten könnten bei Verhandlungen der Länder in Brüssel die deutsche Haltung nur schwer erkennen. Bund und Länder hätten hier keine gemeinsame Basis. Bundestag und Länder sollten prüfen, ob ein gemeinsamer Bund-Länder-Ausschuss die Probleme lösen könnte. Der unförmige Artikel 23 passe nicht ins Grundgesetzgefüge.
Nordrhein-Westfalens Justizminister Wolfgang Gerhards (SPD) war erstaunt, dass die Regierung Europapolitik immer noch als Außenpolitik ansehe. Die deutschen Probleme in der Europapolitik erforderten keine Änderung des Artikels 23: Vielmehr sei die Abstimmung zwischen Bund und Ländern zu verbessern.
Nach Norbert Röttgen, Bundestagsabgeordneter der Union, ist die Regierung, die im EU-Ministerrat an der EU-Gesetzgebung mitwirkt, demokratisch zu kontrollieren. Die Spannung zwischen Effizienz und Demokratie könne Artikel 23 nicht auflösen. Mit ihm sei die Regierung nicht für geheime Verhandlungen an die Kette zu legen. Doch beschere er ein Demokratieproblem: Der Bundestag übe kaum Einfluss auf Europas Gesetzgebung aus. Die angeblich starke Stellung der Länder sei tatsächlich schwach. Seit 1998 habe der Bundesrat zu jeder 25. der 900 Vorlagen seine Position "maßgeblich berücksichtigt" sehen wollen. Die Regierung habe in über der Hälfte der Fälle widersprochen. Um der Effizienz willen müsse die Regierung deutsche Interessen in Brüssel wirkungsvoll durchsetzen können - aber sie müsse für ihr Tun dort national die Verantwortung übernehmen.
Sachverständiger Rupert Scholz (München) forderte nachdrücklich, Artikel 23 zu ändern, schon weil der Bundestag in Europa eine zu schwache Rolle spiele. Der Bundesstaat Österreich überlasse der Länderkammer bei Länderinteressen ein verbindliches Votum. Sei der Bund zuständig, sei das Votum des Nationalrats für die Regierung verbindlich. Davon dürfe die Regierung nur bei "zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen" abweichen - "eine intelligente Formel". Sachverständiger Hans-Peter Schneider (Hannover) will Bund und Länder vor allem während der Entscheidungsphase in Brüssel zusammenarbeiten sehen.
Der CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Friedrich setzte sich für mehr Parlamentsvorbehalte gegenüber der Regierung ein, etwa bei der Neuaufnahme neuer Mitgliedsstaaten. Zwingend sei der Vorbehalt, wenn eine Verhandlungsrunde in Brüssel eine Grundgesetzänderung verlange. Dafür müsste ein mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossenes verbindliches Mandat nötig sein. Sachverständiger Edzard Schmidt-Jortzig (Kiel) warnte vor einem Europaministerium. Europa sei inzwischen in allen Ressorts zu Hause. Die Koordinationsstelle für Europa müsse im Kanzleramt sein.
Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) erinnerte daran, diese Kommission wolle die Verfassung ändern und Verflechtungen auflösen. Doch man sei gerade dabei, das Gegenteil zu tun; immer neue Verflechtungsgremien sollten offenbar entstehen. Die angemahnte demokratische Legitimation für Europa könne nicht der Bundestag, sondern nur das Europäische Parlament leisten. Die Interessen der Nationalstaaten nehme der EU-Rat wahr. Spiegelbildlich sei das in der deutschen Verfassung ähnlich. Im übrigen verschwänden unterschiedliche Interessen in Verhandlungen nicht. Das lasse sich nicht mit besserer Koordinierung lösen sondern nur damit, dass schließlich mit Mehrheit entschieden werde.