Dass das Land mit harten Maßnahmen auf den Terror vom 11. September reagiert, ist nur zu verständlich. Fatal aber ist, dass das Bild Amerikas zunehmend von einem Dreiklang bestimmt wird: Krieg gegen die Feinde, Abschottung gegen Fremdes, Rückständiges im Innern. Denn die USA erscheinen als ein Land, das auch und gerade im heimischen Alltag den Triumph der Vor-Aufklärung zulässt. Ein wiedergeborener, evangelikaler Christ sitzt im Weißen Haus. Europäisches "refinement", verkörpert zuallererst durch alles Französische, ist vielen suspekt oder gar zuwider (selbst Nicholas Burns, US-Botschafter bei der NATO, geißelt die "Dämonisierung Frankreichs"). Popstars predigen sexuelle Abstinenz. Das New Yorker Nachtleben wird systematisch ausgetrock-net. Rauchen wird selbst am Strand von Santa Monica verboten. Wochenlang wird über die entblößte Brust von Janet Jackson beim Football-Finale diskutiert.
Das Prüde und Puritanische scheint auf dem Vormarsch. Das Agrarisch-Vorindustrielle, Anti-Zivilisatorische, Anti-Intellektuelle, ja manchmal Anti-Kulturelle, das immer einen machtvollen Strang in Amerikas Ideen- und Alltagsgeschichte ausmachte, scheint auf dem Vormarsch zu sein. Und komplettiert im Innern jenes Bild der USA, das nach außen ohnedies das Landes-Image prägt: Klappe zu, Laden dicht, Schluss mit der Offenheit.
Oder ist dies nur eine zyklische Bewegung, der Höhepunkt des Kulturkampfes gegen die Laissez-faire-Werte der 68er-Generation und ihrer politischen Symbolfigur Bill Clinton? Es lohnt sich, über den Ex-Präsidenten nachzudenken, der im zelotischen Amerika weder über angeblich nicht inhalierte weiche Drogen noch über fraglos konsumierte Sex-Stündchen mit Monica Lewinsky im Oval Office, dem berühmtesten Arbeitsplatz der Welt, stürzte. "So viel Talent - wozu?" Diese Frage rief George W. Bush im August 2000 beim Wahlparteitag, der "Convention", seinen Republikanern zu. Er sprach über Clinton. Er verlangte die Einbettung einer Generation, der seinigen, die auch Clintons ist, in einen verbindlichen amerikanischen Wertekanon.
Bushs eigene Töchter bieten gutes Anschauungsmaterial, wenn man dem Anfangsverdacht der Bigotterie nachgehen will. Im Sommer 2001 in Texas waren die Zwillinge des Präsidenten wegen unerlaubten Alkoholkonsums als Minderjährige ins Visier der Strafverfolger geraten. Jenna Bush, damals eine 19-jährige Studentin an der University of Texas, und ihre Schwester Barbara Bush, Erstsemester in Yale, hatten sich in Bars entlang der Ausgehmeile "Sixth Street" in Austin mit gefälschten Ausweispapieren Zutritt verschafft und Alkohol getrunken. Nach texanischem Recht ist dies eine Ordnungswidrigkeit der untersten Stufe, ein "class C misdemeanor". Die Bush-Töchter wurden von einem Gericht zu acht Stunden gemeinnütziger Arbeit und sechs Stunden Anti-Alkohol-Schulung verurteilt. Sie hatten lediglich Bier getrunken. Und die Zivilstreife, die sie festnahm, gab zu Protokoll, Jenna und Barbara hätten nicht betrunken gewirkt.
Amerikas rigide Alkoholgesetze werden strikt angewandt. Die Jagd auf "minors", auf Minderjährige in Bars, gehört zum festen Polizeiritual vor allem an Wochenenden und in Collegestädten. Als Jugendlicher in Amerika nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ist zwar möglich. Vielen gelingt dies aber nicht. Der Besitz von gefälschten Führerscheinen als Ausweispapieren, den so genannten "fake IDs", gilt beinahe als Kavaliersdelikt. Von daher taten die Töchter von George W. Bush nichts wirklich Ungewöhnliches. Ihr berühmter Name sorgte für Medienaufmerksamkeit und Spott. Die Erinnerung an die eher berauschte denn berauschende Vergangenheit des Präsidenten wurde wach. Aber das war es dann auch. Amerikas Gesellschaft ist gern bereit, ihrer Jugend das gelegentliche Übertreten der Alkoholgesetze zu vergeben, wenn denn der Anschein von Schuldbewusstsein geweckt wird.
Anders ist es bei harten Drogen, und ganz anders ist es bei nicht mehr jungen Erwachsenen. Seit dem
20. August 1999, einem Freitag, brauchte Amerika einen Rechenschieber, um des damaligen Präsidentschaftskandidaten höchst eigene Sünden zu datieren. Koks oder nicht Koks, das war längst nicht mehr der Punkt. Mittlerweile fragte man sich, wann George W. Bush zuletzt harte Drogen genossen hatte. Der amerikanischen Presse war endlich eine Formulierung eingefallen, der sich der Kandidat schwerlich entziehen konnte. Würde Bush Präsident der USA, wäre er der Dienstherr von Tausenden, die auf dem Personalbogen die Frage beantworten müssen, ob sie in den letzten sieben Jahren Drogen genommen haben. "Ich könnte diese Frage sehr wohl beantworten, und die Antwort hieße nein", sagte Bush. Tags drauf weitete Kandidat Bush die Phase, seit der er clean ist, um ein gutes Jahrzehnt aus. Nicht nur die Personenprüfung im gegenwärtigen Bundesdienst, auch die viel härtere zu seines Vaters Zeiten hätte er bestanden, bekundete Bush sichtlich genervt. Hier nun setzte der Rechenschieber an. Der ältere Bush hatte 1989 seine Arbeit im Weißen Haus aufgenommen. Die Anforderung für Spitzenjobs in der Verwaltung damals: 15 Jahre drogenfrei. Macht: 1974. Bush war 28.
In Amerikas Politik hat Privates einen anderen Stellenwert als in Europa. Kurioserweise erfüllen die USA damit ein Diktum der deutschen Linken, dass nämlich das Private stets öffentlich sei. Amerika sieht sich dabei natürlich nicht 68 verpflichtet, sondern einem Idealbild des Menschen, das Führungsfähigkeit aus der individuellen Biografie und deren Vollkommenheit als Abwesenheit von - typisch europäischer - Dekadenz definiert. So war es George W. Bush selbst, der 2000 berichtete, er sei seiner Gattin Laura in 22 Ehejahren nie untreu gewesen. Seine acht innerparteilichen Gegenkandidaten gaben alle zu Protokoll, niemals illegale Drogen genommen zu haben. Hätte Bush sich als Ex-Kokser geoutet, wäre seine politische Welt noch lange nicht zusammengebrochen. Nur 13 Prozent der US-Bürger glaubten damals laut Umfrage, Drogenkonsum als Twen sollte das Weiße Haus auf ewig versperren. 87 Prozent zeigten sich vergebungsbereit. Bush war so kurioserweise ein Profiteur jener gesellschaftlichen Langmut geworden, die als "Clinton-Absolution" ins Politikvokabular einging. Dass indes der Einzelne, will er Politiker werden, sich in einem in Europa noch immer unbekannten Maße der Öffentlichkeit öffnen muss, das ist ein Axiom der US-Gesellschaft. Offengelegte Steuererklärungen sind da nur der Anfang.
Das Puritanische an Amerika ist trotz dieser allgegenwärtigen Suche nach Reinheit und Perfektion mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die US-Gesellschaft hat ein idealisiertes Selbstbild von sich und fordert dieses auch ein. Nicht als Realität, sondern als Orientierungsmarke. Dass im Kabel-Sender HBO bei der auch in Deutschland beliebten Serie "Sex and the City" im Minutentakt nackte Brüste und derbste Ausdrücke vorkommen, stört niemanden. Denn HBO abonniert man. Man zahlt - für privilegierten Zugang zu nicht Jugendfreiem. Janet Jacksons Brust dagegen flimmerte über die "networks", die frei empfangbaren drei TV-Hauptsender. Der Aufruhr war also einer, der nur vor sehr spezifischen Eigentümlichkeiten der US-Medienwelt und Fernsehnutzung verständlich wird.
Je uneinheitlicher Amerikas Realität wird, je mehr Moral eine Frage der privaten Entscheidung wird, je heftiger die Schlacht um die Zulassung der Homo-Ehe wird, umso stärker wird im Gegenzug die Sehnsucht nach Verbindlichkeit. Dieser kompensatorische Reflex ist die zentrale Motivation, wenn in Wahlkämpfen amerikanischer Politiker aller Parteien im uns so fremdartigen Prediger-Ton nach Sauberkeit und Klarheit gerufen wird. Die sieben Sekunden Zeitverzögerung, die nun bei Live-Veranstaltungen dafür sorgen sollen, dass keine weitere Brustenthüllung durch den Äther flimmert, sind ein weiterer Hinweis auf diesen Umstand. Die gefilterte Realität, die sich Amerika in Reinform wünscht, ist eben nicht Realität. Sie ist Traum. Sie ist kulturell gemacht. Aber eben ein Traum, aus dem aufzuwachen sich Amerika weigert. Im Wissen, dass alles nur ein Traum ist - aber eben ein schöner. Nämlich der von einer perfekten Welt ohne Sünde.
Diese allgegenwärtige Suche nach einem utopischen Selbst prägt Amerika in fast jedem Winkel. Und sorgt in Europa für kopfschüttelndes Befremden. Hier dürfte die tiefste kulturelle Unvereinbarkeit zwischen der naiv-idealistischen Neuen Welt und der abgeklärt-larmoyanten Alten Welt liegen. Risiken bergen beide Sichten. Amerika produziert Eiferer. Europa schafft Apathie.
Robert von Rimscha leitet die Parlamentsredaktion des "Tagesspiegel", war lange Amerika-Korrespondent und ist Autor von Büchern über die "Kennedys" und die "Bushs".