Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
Markus Feldenkirchen

Wer in den Medien nicht ankommt, fliegt raus

Früher war Politik Weltanschauung, heute Entertainment
Der Regisseur Claus Räfle hat vor ein paar Jahren einen visionären Film gedreht. Er hieß "Der Kandidat". In dem Film beschließt eine Werbeagentur, den künftigen Kanzler zu stellen. Ihr Kalkül: Wenn man die Menschen von einer bestimmten Pickelcreme oder einem Fertigknödelgericht begeistern kann, obwohl sie nicht helfen oder nicht schmecken, dann sollte man sie auch zur Wahl eines beliebig smarten Kandidaten bewegen können. Selbst dann, wenn der Kandidat von Politik so viel versteht, wie Oliver Kahn von Rilkes Lyrik.

Den Kanzlerkandidaten der Werbeagentur spielt ein gewisser Peter Bond. Bond war einmal Moderator der Fernsehsendung "Glücksrad", daher kennen ihn die meisten Deutschen. Davor hat er auch ganz gerne in Pornofilmen mitgespielt, aber daher kennen ihn nur wenige Deutsche. Bond ist ein höflicher Mensch, ein bisschen glatt vielleicht, aber ältere Frauen mögen ihn. Im Film "Der Kandidat" spielt Peter Bond sich selber.

Es sollte ein satirischer Film werden, gedreht im Stile einer Dokumentation. Bei den Dreharbeiten aber wurde Grimme-Preisträger Räfle irgendwann mulmig. Die realen Bürger, die der fiktive Kanzlerkandidat Bond auf den Marktplätzen zu überzeugen versuchte, wollten ihn plötzlich wirklich wählen. Die These vom Konsumgut Politik, das sich kaum noch von Pickelcremes unterscheidet, schien zu stimmen. Motto: Hauptsache die Produkt-Verpackung stimmt, was drin steckt, ist egal.

Die These scheint nicht unbegründet. In anderen Ländern wird das politische Personal längst aus dem Reich der Unterhaltung rekrutiert. In Italien regiert der mächtige Mediengockel Berlusconi, in Ländern der Dritten Welt schaffen Showstars es immer häufiger in die höchsten Ämter. Im US-Staat Illinois wählten die Menschen einen Catcher zum Gouverneur, dessen Qualifikation vor allem darin bestand, dass er fettleibige Gegner durch die Luft wirbeln konnte, um sie anschließend rücklings auf den Holzboden eines Boxrings knallen zu lassen. In Kalifornien wurde erst vor einigen Monaten ein Muskelgebirge auf zwei Beinen zum obersten Mann im Staate gekürt. Nicht wenige Amerikaner wünschen sich Terminator-Darsteller Arnold Schwarzenegger sogar ins Weiße Haus von Washington. Amerika, Du hast es schlechter.

Wirklich? Auch in Deutschland haben die politischen PR-Strategen längst gemerkt, dass ihre Klienten ohne einen gewissen Show-Anteil beim Wähler keine Chance mehr haben. Man muss sich nicht gleich im Stile Guido Westerwelles wie ein nacktes Stück Hühnerbrust im Big-Brother-Container anbieten. Aber ohne eine kalkulierte Portion Seelenstriptease bei Maischberger, Beckmann oder Kerner wäre mancher Minister kaum noch wahrnehmbar. So verändern sich nicht nur Images des politischen Personals, sondern mit ihnen die ganze Politik. Was einst hochideologisch als Frage der Weltanschauung aufgefasst wurde, ist heute oft nicht mehr als ein billiges Event, im besten Falle vielleicht ein Spektakel.

Fraglich nur, ob Politiker mit ihren Ausflügen ins Seichte nicht einfach nur eine Nachfrage befriedigen, die der Bürger an sie richtet. Denn die potenziellen Wähler scheinen den Politikbetrieb - wenn überhaupt - nur noch als Showveranstaltung wahrnehmen zu wollen, nicht mehr als ernsthaften Wettstreit um die besten Konzepte. Sie forcieren mit dieser Grundhaltung den Weg in den von Peter Sloterdijk diagnostizierten "Amüsierfaschismus", der nach Ansicht des Philosophen spätestens seit dem Siegeszug der Spaßgesellschaft im vergangenen Jahrzehnt den Zustand unserer Zeit beschreibt.

Gerade mal elf Prozent der Deutschen geben nach einer aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen an, ein starkes Interesse an Politik zu haben. Der Rest konsumiert vor allem jene politischen Krümel, die die Unterhaltungsmaschine Fernsehen täglich abwirft. Er fragt nach Infotainment, nicht länger nach wirklicher Information. Die meisten Medien, vor allem die Boulevardpresse, bedienen diese Nachfrage mit wachsender Begeisterung und erfinden dabei selbst immer skurrilere Formen der Auseinandersetzung mit Politik. Die perversesten Auswüchse sind allwöchentlich in der "Bild"-Zeitung zu besichtigen, die das Big-Brother-Prinzip "Wer nicht ankommt, wird rausgewählt" jüngst auf die Bundesregierung übertrug und ihre Leser aufrief, in einer Telefonaktion die größten Nieten des Bundeskabinetts zu ermitteln. Verstörend dabei war freilich nicht nur die Idee selbst, sondern auch der hohe Zuspruch von Seiten der Leser.

Aber haben Politiker eine Alternative zur Infotainmentspirale? Können sie sich der seichten Selbstvermarktung noch entziehen? Nicht wirklich. Während sich die Talkshows am Abend über hohe Quoten freuen, lassen sich die Zuschauer einer Parlamentsdebatte auf "Phönix" wohl problemlos in einer mittelgroßen deutschen Stadthalle unterbringen. Man kann Politikern schwer vorwerfen, dass sie diesen Umstand registrieren und ihr Auftreten danach ausrichten.

Der Unterhaltungsdruck auf die Politiker wächst. Manche, wie der frühere Verteidigungsminister Rudolf Scharping, gehen unter dieser Last baden und verschwinden für immer. Doch trotz solch peinlich-abschreckender Beispiele gilt: Wer nicht bereit ist, seine Politik unterhaltungskompatibel zu verkaufen, braucht sich um politische Ämter gar nicht mehr erst zu bewerben. Die SPD hatte mit ihrem mittlerweile geschassten Generalsekretär Olaf Scholz ein letztes Experiment wider den Entertainment-Wahn gewagt. Scholz ist einer der klügsten Köpfe in der Politik. Sein Unterhaltungswert jedoch ist in etwa so hoch wie der einer Brotschneidemaschine. Zudem hat er sich beharrlich geweigert, über Privates zu sprechen. Ihm ging es tatsächlich noch "um die Sache". Das machte ihn zum Fossil. Bei Bürgern, Journalisten und schließlich auch bei Parteifreunden galt er damit rasch als untragbar.

Gut möglich also, dass der sympathische Auftritt von Politikern bei "Maischkerner" schon jetzt den Ausgang von wichtigen Wahlen bestimmt. "Die Fähigkeit einer geschliffenen Rhetorik", diagnostiziert der Berliner Politologe Herfried Münkler, "ist längst durch smarte Telegenität abgelöst; die Fähigkeit, innerhalb von dreißig Sekunden vor laufenden Kameras eine politische Botschaft zu pointieren, ist wichtiger als die mitreißende Entwicklung einer politischen Idee in einer längeren Rede." Droht also auch in der Realität die Peterbondisierung der Politik?

Wenn ja, dann hätte der Bürger zumindest eine schwere Mitschuld. Er hegt und pflegt seine eigene Verdrossenheit wie Kleingärtner ihre Rosenhecke. Er verfällt immer stärker in trotzige Politlethargie und ist auch noch stolz darauf. Er will etwas geboten bekommen, ist aber nicht bereit, sich dafür anzustrengen. In diesem Punkte unterscheidet sich das Konsumgut Politik durchaus von einem, sagen wir, Toaster. Der Käufer eines Toasters ist meistens noch bereit, sich vorher über die Qualität des Produktes zu informieren, es mit Konkurrenzangeboten zu vergleichen, weil es schließlich um den eigenen Nutzen geht. Bei der Entscheidung für eine politische Partei fehlt den meisten die Bereitschaft, sich über das Produkt zu informieren.

Nun ist ein Toaster sicherlich leichter zu begreifen als Hartz IV, also die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Aber das war schon immer so. Auch in den 50er- oder 70er-Jahren waren die politischen Probleme und die Instrumente, um sie zu lösen, kompliziert. Auch damals musste man sich anstrengen, um mitreden und urteilen zu können.

Was sich geändert hat, ist jedoch die Transparenz von Politik. Wo wichtige Entscheidungen mit Vorliebe zwischen den Spitzen der Parteien in nächtlichen Geheimtreffen ausgehandelt werden und nicht mehr als Ergebnis eines offenen parlamentarischen Diskurses, verwischen die Konturen. Feinheiten werden den Verwaltungsapparaten überlassen. Die Bürokraten aller Bundesländer vereinigen sich, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit wichtige Projekte in Gesetze zu gießen.

Schon der große Denker Max Weber warnte, dass die Bürokratie sich zu einem "stahlharten Gehäuse" entwickeln könnte, und sah ein unentrinnbares negatives Faktum moderner Gesellschaftsentwicklung, in dem jedes Organisationsmitglied zu einem Rädchen wird. Wer sich aber als Rädchen empfindet, verliert irgendwann die Lust, sich selbst zu beteiligen, sich einzumischen, also die Arbeit des Sich-Informierens auf sich zu nehmen.

Die Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien verwischt sich ebenso wie die Verantwortlichkeit von Entscheidungen. Zurück bleibt auch das Gefühl, denen da oben gehe es in erster Linie um taktische Machtspiele, nicht um die Lösung von Problemen.

So treffen zunehmend faulere Bürger auf zunehmend taktierende Politiker. Das Ergebnis ist eine Stimmungsdemokratie, in der Wahlentscheidungen immer öfter nach Augenblickslaunen und auf der Basis von Halbwissen oder Garnichtwissen getroffen werden. Zunächst wurde dieses Phänomen nach der Wende in den neuen Ländern offenkundig, wo jahrzehntelange Milieubindungen an Parteien fehlten. Doch inzwischen hat es die ganze Republik erfasst.

Kein Wunder, dass Kulturpessimisten warnen, es werde auch in Deutschland nicht mehr lange dauern, bis populärpopulistische Kandidaten à la Schwarzenegger die politische Bühne betreten. Noch aber steht dem unser Parteiensystem im Wege. Noch ist es undenkbar, dass die großen Volksparteien etwa einen ahnungslosen Schauspieler als Menschenfischer engagieren. Denkbar ist dies allenfalls bei den kleineren Parteien oder im Falle von Parteigründungen. Die FDP hat bereits erste Versuche unternommen.

Den Glücksrad-Moderator Peter Bond zog es nach seiner Hauptrolle im Film "Der Kandidat" in die wirkliche Politik. Die positive Resonanz der Bürger bei den Dreharbeiten hatten bei dem Ex-Pornodarsteller die Illusion genährt, er könne sich auch im Reich der Politik als potentes Produkt platzieren. Die FDP von Mecklenburg-Vorpommern kürte ihn zum Kandidaten für die Bundestagswahl im Herbst 2002. Bond bekam keine fünf Prozent.

Markus Feldenkirchen ist Redakteur beim "Spiegel".


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