Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
Alva Gehrmann

Die permanente Steigerung

Von der Erlebnisgesellschaft zur Sinnsuche

Es gibt Freunde, die schaffen es einfach nicht mehr anzurufen. Statt dessen werden Mails oder SMS verschickt. Nicht eine, sondern meist gleich fünf am Tag. Kontakt halten ist ihnen wichtig, aber real treffen, etwa im Café, dafür ist keine Zeit mehr. Und so piept ständig das Handy: "Huhu, geht's dir gut? Bis bald." Konkreter wird es nicht, sonst müsste ein Termin ausgemacht werden, und der ohnehin prall gefüllte Terminkalender würde vermutlich platzen.

Hatte man früher zwei bis drei gute Freunde, so ist heute das Netz durch wechselnde Jobkontakte und neue Hobbys wesentlich größer. Das führt zu Entscheidungsstress. Bei wem hat man sich schon lange nicht mehr gemeldet? Wem sollte man wenigstens mal wieder eine Mail schicken? Wem eine SMS?

Wir leben im Zeitalter der zahllosen Möglichkeiten: Denn es gibt nicht nur mehr Kontakte, sondern auch Angebote. Das Berufsleben ist meist schon stressig, in der Freizeit geht es weiter. Auf der "To Do"-Liste stehen neben Einkauf und Haushalt noch Termine an wie: den neuesten Kinofilm ansehen, das angesagte Restaurant testen, und natürlich regelmäßig zum Sport gehen - um gut auszusehen, fit zu sein.

Die Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist im Kommunikationsstress und Dauereinsatz. 24 Stunden aktiv sein, um dann festzustellen, wieder etliche Punkte auf der Liste vergessen zu haben. Ein Leben in der Endlosschleife. Die Medien heizen das weiter an. So zeigen Boulevardmagazine à la "Explosiv" (RTL), dass es nicht mehr nur reicht, eine gute Figur zu haben, auch der Bauchnabel muss kerzengerade sein. Ist er es nicht, hilft nur eins: eine Schönheits-OP.

Perfekt sein, frisch und erholt aussehen, außerdem ständig verrückte Dinge tun. Dabei kann mit Bungee-Jumping heute kein Arbeitskollege mehr beeindruckt werden, ebenso wenig mit einem Tattoo. Und zum Golfen nach Florida fliegen heute selbst Buchhalterinnen. Höher, weiter, schneller - geht fast nicht mehr. Die Erlebnisgesellschaft am Rand des Kollapses.

Wofür das alles?, fragen sich zunehmend Eventgestresste. Sie sind überfordert: Zum einen von den ständig zunehmenden Angeboten, zum anderen, weil das Geld knapper wird. Sie können und wollen nicht mehr bei jedem Trend dabei sein. Also besinnen sie sich wieder auf entspanntere Freizeitaktivitäten wie Fahrradfahren, Kochen und Bücher lesen.

Je hektischer das Alltagsleben wurde, desto mehr entstand die Sehnsucht nach Ruhe, nach Faulenzen und Nichtstun, charakterisiert auch Freizeitforscher Horst Opaschowski den Wandel der Freizeitvorlieben. Seit 1979 ist Opaschowski Wissenschaftlicher Leiter des BAT Freizeit-Forschungsinstituts. In der aktuellen BAT-Studie stellt er fest: "Über wichtige Dinge reden oder einfach den eigenen Gedanken nachgehen, gehören zu den regelmäßigen Freizeit-Beschäftigungen, die Spaß machen und Sinn haben."

Die Gesellschaft begibt sich auf Sinn- und Entspannungssuche. Gingen früher gestresste Manager in der Freizeit zum Boxen, um sich abzureagieren, zieht es sie heute eher ins Yoga-Studio. Bikram Yoga ist der neueste Trend aus den USA. Bei 38 Grad Celsius schwitzen ausgepowerte Menschen ihre Gifte aus, um nach 90 Minuten, so versprechen es die Bikram-Yoga-Trainer, ein anderer Mensch zu sein. Oder sie gehen ins Kloster - nehmen sich hier eine Auszeit von der 24-Stunden-Gesellschaft.

Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Diese Frage stellt sich auch Gerhard Schulze in seinem Buch "Die beste aller Welten". Der Professor für Soziologie an der Universität Bamberg und Autor des Buchs "Erlebnisgesellschaft" (1992) entwirft das Bild einer Gesellschaft, die nicht mehr vom Prinzip der permanenten Steigerung dominiert wird. Denn wer braucht noch ein neues Waschmittel? Ein noch schnelleres Auto? Das "Steigerungsspiel" werde immer absurder - Erschöpfung trete ein.

Gerhard Schulze glaubt an den neuen "Common Sense". Das Bewusstsein einer hoch entwickelten Gesellschaft, die sie sich vom Prinzip des ewigen Weiterschreitens verabschieden muss, um ihre Zukunft in den Griff zu bekommen. Das Individuum entscheide zunehmend selbst, was es aus seinem Leben macht. Im 21. Jahrhundert gibt es ohnehin nicht mehr den einen Lebensweg: vielmehr ist es normal, sein Leben mehrfach umzustellen - sei es im Beruf oder im Privatleben. "Gerade deshalb ist es heute immer wichtiger, intensiv darüber nachzudenken, was man aus seinem Leben machen will", sagt Schulze. "Und Fehler zu korrigieren."

Eine Sinnsuche, die auch wieder im Entscheidungsstress enden kann. Denn was ist schon ein sinnvolles Leben? Manche finden ihren Sinn in sozialem Engagement, helfen ehrenamtlich im Sportverein oder kochen in der Wärmestube Suppen für Obdachlose. Jede weitere Qualifikation kann wichtig sein, um konkurrenzfähig zu bleiben. Erst recht auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt. Workaholics sind dennoch out. Zukunftswissenschaftler Horst Opaschowski sieht die junge Generation auf dem Weg zu einer neuen Lebensbalance. "Leistung und Lebensgenuss sind für sie keine Gegensätze mehr", sagt er. Arbeit soll auch Spaß machen, sie haben Lust etwas zu schaffen, wollen weder über- noch unterfordert werden.

"Arbeiten wie die Eltern - festangestellt und mit geregeltem Feierabend", so wünschen sich nach einer Repräsentativuntersuchung des BAT auch im 21. Jahrhundert noch über 70 Prozent der Berufstätigen ihren Arbeitsalltag. Es wird für viele ein Wunsch bleiben: Flexibel sein, jederzeit erreichbar, so sieht wohl der realistischere Alltag aus. Im Jahr 2004 nehmen viele den Job, der ihnen geboten wird. Da selbst große Unternehmen Outsourcing betreiben, neue Mitarbeiter nur Zeitverträge erhalten, steigt die Zahl der Jobnomaden. Wer das eine Jahr in Bielefeld arbeitet, kann im nächsten Jahr schon wieder in Rosenheim sein.

In Bewegung bleiben, heißt die Devise. Das wird selbst innerhalb einiger Unternehmen praktiziert, zum Beispiel bei der Werbeagentur Jung von Matt (JvM), die unter anderem Kampagnen für Sixt und "Bild" entwirft. "Regelmäßig ziehen bei uns alle Mitarbeiter innerhalb des Hauses um", sagt Merel Wouters von JvM, "damit wir immer wieder eine neue Perspektive haben." Einen neuen Blick - aus dem Fenster und auf die Arbeit. Die Büroräume selbst jedoch sind alle gleich eingerichtet: Wände bleiben weiß, es werden keine Poster oder Fotos aufgehängt, auch Teddybären auf dem Schreibtisch sind verpönt. "Wir wollen hier arbeiten und uns nicht häuslich einrichten."

Jedes Unternehmen besitzt seine eigene Philosophie, an die sich der Mitarbeiter zu gewöhnen hat. Bei Sportartikel-Unternehmen wie Adidas gehört es zum guten Ton, bei sportlichen Aktivitäten, etwa einmal im Jahr beim Marathon, teilzunehmen. Die Realität der heutigen Arbeitswelt gleiche einer "Viel-Gesichter-Gesellschaft", sagt Horst Opaschowski. Und beschreibt sie so: "Mal Ellbogen- und mal Verantwortungsgesellschaft, mal Wegwerf- und mal Leistungsgesellschaft." Ein bisschen von allem. Und immer wieder anders.

Individuell gestaltet sich die Gesellschaft auch ihren privaten Lebensentwurf: Sei es ohne Trauschein zusammenzuleben oder mit über 30 Jahren noch in einer Fünfer-WG zu leben. So wohnt ein Lehrerpaar heute selbstverständlich gemeinsam mit drei Mitbewohnern in einer Villa.

Die Art, wer wie mit wem zusammenlebt, mag sich geändert haben, die zwischenmenschlichen Werte jedoch sind gleichgeblieben: etwa der Wunsch nach beständigen Beziehungen. Die junge Generation sehnt sich nach einer eigenen Familie - auch Kinder sind nicht mehr verpönt. "Es ist noch nicht so lange her, da wurden Frauen für blöd erklärt, wenn sie sich für Kinder und nicht für die Karriere entschieden haben", sagt Soziologe Gerhard Schulze.

Heute ist es sogar trendy, Mutter zu werden. Das Magazin "Max" entdeckte kürzlich die "Funky Mama": "Die neuen Mütter sind attraktiv, sexy und selbstbewusst. Kinder sind in, Mutter zu werden ist hip", heißt es in einem Artikel. Prominente wie Sarah Jessica Parker, Hauptdarstellerin der US-Serie "Sex and the City", leben es vor, sie laufen selbst hochschwanger in Highheels durch New York.

Designerin Elin Sandal, 34, hat in London die Firma "Funky Mama" gegründet, sie macht coole Mode für Schwangere. Etwa ein T-Shirt mit der Aufschrift "No, I'm not fat". Über 30-Jährige zeigen gerne ihren Bauch, zelebrieren ihre Schwangerschaft. "Kinder bedeuten nicht mehr automatisch den Abschied vom Spaß im Leben", weiß die "Max". Und wenn Stil-Ikonen schwanger sind, werden Kinder zu einer Art Accessoire, das jeder haben will. Designer Elin Sandal ist sich sicher: "Früher wollten alle die Gucci-Handtasche, heute wollen alle das Gucci-Baby."

Typisch für die Generation des 21. Jahrhunderts. Es reicht nicht mehr, einfach "nur" Kinder zu bekommen. Nebenbei sollte die Schwangere noch gut gestylt sein, am besten bis zum achten Monat der Schwangerschaft fulltime arbeiten, um dann drei Monate nach der Geburt wieder weiterzumachen. Das Baby versorgt in dieser Zeit der moderne Vater. So kommen die, die ihren Sinn in der Gründung einer eigenen Familie gefunden haben, schnell wieder in den 24-Stunden-Stress. Die einzige Lösung, dem zu entkommen, ist sich unabhängig von den perfekten Familienbildern und Gesellschaftsdefinitionen zu machen.

Alva Gehrmann ist freie Journalistin in Berlin.


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