Ein Staatstreich des ersten regulären Präsidenten Yüan Shi-k'kai hatte in China eine Militärdiktatur errichtet. Nach Yüans Tod zerfiel die Zentralregierung, und die Macht geriet in die Hände regionaler Militärmachthaber, die jeweils über eine oder mehrere Provinzen herrschten und Bürgerkriege um die Frage führten, wer als Sieger eine neue Dynastie begründen würde. Doch Chiang Kai-shek, der Nachfolger Sun Yat-sens, und seine Partei, die Kuomintang (Nationale Volkspartei), bewirkten durch einen Feldzug quer durch China 1926 bis 1928 eine prekäre Wiedervereinigung des Landes und die Gründung einer neuen Nationalregierung mit Sitz in der alten Kaiserstadt Nanking. Bürgerkriege mit den Warlords wie mit den chinesischen Kommunisten und der China von Japan aufgezwungene achtjährige Krieg verhinderten jedoch die geplante Verwirklichung eines demokratischen Regierungssystems. Als nach dem Kriegsende 1945 das erneute Aufflammen des Bürgerkrieges zwischen Nationalisten und Kommunisten folgte, ergriffen die USA die Initiative zu einer großangelegten Vermittlungsaktion zwischen den Bürgerkriegsgegnern. Als Resultat entstand 1946 die von Ideen Sun Yat-sens inspirierte Fünf-Gewalten-Verfassung. Sie ergänzte die im Westen übliche drei Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikatur) durch zwei altchinesischen Institutionen entstammende Gewalten (die kontrollierende und die prüfende Gewalt).
Ihr entsprechend wurden trotz des Bürgerkrieges 1948 erste allgemeine Wahlen abgehalten. Doch als sich 1949 Jahr ein militärischer Sieg der von Mao Tse-tung geführten Kommunisten anbahnte, entzog Chiang Kai-shek sein Regime der Vernichtung, indem er es auf die Inselprovinz Taiwan verlegte. Ihm folgte nicht nur die politische Führung der Kuomintang, sondern auch ein Großteil des neu gewählten gesamtchinesischen Parlaments. Es fungierte gleichsam als Legitimationsgrundlage für den Anspruch der nun auf Taiwan befindlichen nationalchinesischen Regierung, weiterhin die legitime Regierung ganz Chinas darzustellen. Als solche konnte sie bis 1971 das ganze Land in der UNO und in einer Mehrzahl der Hauptstädte anderer Staaten vertreten. Offiziell stellte sich das nationalchinesische Regime als Freies China dar und somit als letztes chinesisches Bollwerk gegen den Kommunismus und Ausgangspunkt einer auf die Rückgewinnung Chinas abzielenden Bewegung. Deshalb galten auf Taiwan nicht nur die Kommunisten als Todfeinde des Regimes, sondern auch Separatisten, die Taiwan letztlich von China trennen wollten. 1945 hatte für Taiwan die 50 Jahre währende japanische Kolonialherrschaft ein Ende gefunden, und die dorthin kommenden festlandschinesischen Autoritäten waren anfangs begeistert empfangen worden. Doch das Regime des ersten chinesischen Gouverneurs für Taiwan, Chen Yi, regierte mit derartigen Exzessen von Korruption, Repression und der Missachtung taiwanesischer Anliegen, dass es im Februar 1947 zum Ausbruch eines Volksaufstandes kam, der von Chen Yis Regime grausam niedergeschlagen wurde. Aus dieser traumatisierenden Erfahrung ist die wenig strukturierte taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen. De jure existierte zwar auf Taiwan ein Staatswesen mit demokratischer Verfassung. Doch wegen des Bürgerkriegszustandes mit dem kommunistischen China wurden Notstandsgesetze mit einer autoritären Regierungsführung erlassen.
Dank einer Initiative des Präsidenten Chiang Ching-kuo hob die Kuomintang-Regierung diese seit 38 Jahren bestehende Notstandsgesetzgebung jedoch 1987 auf. Dies und zusätzliche Gesetze von 1989 legitimierten die zuvor untersagte Zulassung neuer Parteien. So entstand insbesondere die Demokratische Fortschrittspartei als Sammelbecken von Bürgern, die sich sowohl für die Taiwanisierung als auch für die weitere Demokratisierung auf der Insel einsetzten. Viele ihrer Führer mussten wegen separatistischer Betätigung bis zu acht Jahre Haft verbüßen, und der 2000 erstmals zum Staatspräsidenten gewählte Führer dieser Partei, Chen Shui-biän, hatte als Rechtsanwalt der Angeklagten fungiert. Nach Chiang Ching-kuos Tod 1988 stellte die regierende Kuomintang mit dessen Vizepräsidenten, dem von der Insel stammenden Dr. Lee Teng-hui, erstmals einen Taiwanesen, der Festlandschina nie bereist und seine Ausbildung in Japan und den USA erhalten hatte, an die Spitze von Staat und Partei. Eine 1990 ergangene Entscheidung des Verfassungsgerichts löste das 1948 in ganz China gewählte "lange Parlament" auf. Die Einführung der allgemeinen Direktwahl des Staatspräsidenten bedeutete einen weiteren Schritt im Prozess der Demokratisierung. Obwohl die See- und Luftstreitkräfte der Volksrepublik China Drohmanöver unmittelbar vor den Küsten Taiwans durchführten, gewann dennoch der Peking verhasste Lee Teng-hui und mit ihm die Kuomintang 1996 mit großem Vorsprung die erste dieser Direktwahlen.
Überraschend gelang es aber der separatistischen Demokratischen Fortschrittspartei mit Chen Shui-biän und seiner Partnerin Lü Shao-lien 2000, trotz extremer Drohungen aus Peking, die Wahlen für die Ämter des Präsidenten und der Vizepräsidentin zu gewinnen. Das aber war nur möglich, weil sich die zuvor regierende Kuomintang gespalten hatte. Ihr führender Kandidat und vormaliger Vizepräsident Lien Chan erzielte nur 23,1 Prozent der Stimmen. Gekränkt, weil nicht er Kandidat der Kuomintang geworden war, hatte deren populärster Politiker, der Provinzgouverneur Soong Tzu-yi, parteiunabhängig kandidiert und 36,84 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Dennoch überrundete ihn der Kandidat der Demokratischen Fortschrittspartei Chen Shui-biän mit 39,3 Prozent und gewann, da es in Taiwan bei Präsidentschaftswahlen keine Stichwahl gibt. Erstmals war damit die 51-jährige Regierungsführung der Kuomintang auf Taiwan durch einen demokratisch bewirkten Führungswechsel durchbrochen worden. Lien und Soong, die sich gestehen mussten, dass sie vereint mit 59,94 gegen 39,3 Prozent Chen Shui-biän leicht hätten schlagen können, schlossen ihre jeweiligen Anhänger vor den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 zum sogenannten "panblauen Lager" zusammen und rechneten mit einem Wahlsieg. Chen ließ von seinen Anhängern eine vom Norden Taiwans bis zum Süden reichende Menschenkette einander symbolisch zum Schutz Taiwans die Hände reichender Menschen bilden. Im panblauen Lager hingegen warfen sich Lien und Soong bei einer Großveranstaltung auf den Boden, um demonstrativ die Erde zum Zeichen dafür zu küssen, dass sie Taiwan genauso liebten wie Chens "pangrünes" Lager.
Am Tag vor der Wahl vom 20. März 2004 feuerte ein unbemerkt entkommender Attentäter Schüsse auf Chen Shui-biän und Lü Shao-lien, die beide leicht verletzt wurden. Die Wahlresultate des folgenden Tages brachten Chen auf der Basis eines hauchdünnen Vorsprungs von nur 29.518 Stimmen einen überraschenden Wahlsieg von 50,11 Prozent. Buchstäblich fassungslos wegen dieser total unerwarteten Wahlniederlage, begannen die Führer von "panblau" nach Gründen zu suchen, um diese Wahlen anzufechten. So habe das Attentat am Vortag der Wahl den Gewinnern psychologische Vorteile verschafft, es habe einen Alarmzustand ausgelöst, in dessen Folge Tausende von Soldaten und Polizisten nicht hätten wählen können, außerdem habe es eine ungewöhnlich viele ungültige Stimmen gegeben. Mit tagelangen Massendemonstrationen vor dem Präsidentenpalast forderten die Anhänger von "panblau" eine Neuauszählung der Wahlzettel und begannen zu prozessieren. Chen Shui-biän reagierte nachgiebig, stimmte einer Neuauszählung und Überprüfung der Stimmen durch ein Richtergremium ebenso zu wie auch einer kriminalistischen Untersuchung des Attentats und ließ die Streifschusswunde auf seinem Bauch in den Medien darstellen. Endgültige Ergebnisse dieser Untersuchungen und deren richterliche Bewertung werden erst gegen Ende September erwartet. Lien Chan hofft sogar auf eine Gerichtsentscheidung, zugunsten einer vollständigen Neuwahl. Doch beide Lager rüsten sich für die im Dezember 2004 stattfindenden Parlamentswahlen. Denn noch verfügt panblau im Parlament über eine knappe Mehrheit. Die drei panblauen Parteien (die Kuomintang, Soongs Volkspartei und die Neue Partei) beraten über Formen eines Zusammenschlusses, sei es ähnlich der aus CDU und CSU gebildeten Union oder sei es durch Reintegration unter dem Dach der Kuomintang. Sollte aber pangrün die Wahlen auch zum Parlament gewinnen, würde dies eine beträchtliche Stärkung Chen Shui-biäns bedeuten und die Niederlage des panblauen Lagers vertiefen. Die Formen, in denen dieser präzedenzlos verschärfte Lagerkampf ausgetragen und geregelt wird, werden als Indikatoren für die Stabilität von Taiwans junger Demokratie gewertet.
Zutiefst beunruhigt über das Anwachsen der Anhängerzahl Chen Shui-biäns von 39,1 Prozent im Jahr 2000 auf 50,11 Prozent 2004 wie auch von Symptomen einer zunehmenden Taiwanisierung des "panblauen Lagers", erließ Peking im Zeichen seiner "Ein-China-Politik" scharfe Drohungen in Richtung einer formellen Unabhängigkeitserklärung Taiwans. Denn Präsident Chen gab bekannt, er plane für 2006 eine grundlegende Verfassungsreform, die 2008 im Jahr der Pekinger Olympiade in Kraft treten solle. Die bisherige Verfassung sei 1946 für ganz Chinas konzipiert worden und tauge nicht für das viel kleinere Taiwan. Druck aus Peking veranlasste dritte Staaten - einschließlich der US-Regierung von George W. Bush - auf Taiwan einzuwirken, es solle sich doch mit seiner de facto Unabhängigkeit zufrieden geben und nicht unter Gefährdung der gesamten Sicherheitsarchitektur des westpazifischen Raumes eine China provozierende de-jure-Unabhängigkeit der Insel anstreben. Washington wiederholte zwar seine Unterstützung des so genannten Ein-China-Prinzips. Doch es verband das mit dem Hinweis auf sein Interesse an einer "friedlichen Regelung" der Taiwanfrage wie dem Taiwan Relations Act von 1979, der unter anderem amerikanische Waffenverkäufe an Taiwan vorsieht. Diese waren kürzlich erneut Gegenstand chinesischer Beschwerden. Entgegen der "Ein-China-Theorie" Pekings und im Bewusstsein seiner wirtschaftlichen und politischen Qualifikationen überredete Taiwan drei befreundete Staaten, einen vermutlich vergeblichen Antrag auf Zulassung Taiwans zur UNO auf die Agenda der nächsten UN-Generalversammlung zu stellen. Es fällt Peking schwer zu erkennen, dass der Haltungswandel auf Taiwan durch zwei fast gleichzeitige Entwicklungen bedingt ist. Einmal durch das Altern der vor 55 Jahren mit Chiang Kai-shek übersiedelten Festländer, in deren Führungspositionen einheimische Taiwanesen nachgerückt sind. Deren inneres Verhältnis zu China ist maßgeblich anders. Zweitens durch die Demokratisierung, die den Separatisten die Bildung politischer Parteien ermöglichte. Beides hatte den Effekt einer stillen, aber realen Revolution, die das Identitätsgefühl der Einwohner Taiwans stark geprägt hat. Pekings einfallslose und selbstschädigende Drohpolitik hat bisher zumeist zugunsten der Separatisten gewirkt. Eine konstruktive Taiwanpolitik wäre bemüht, um Vertrauen zu werben und zu versuchen, Zwischenlösungen wie zum Beispiel konföderative Strukturen anzubieten. Doch Pekings Führungskräfte scheinen hinsichtlich der Taiwan-Frage tief gespalten. Taiwans Demokratie scheint gefestigt genug, um trotz innerer Turbulenzen dem Druck aus Peking und Washington standzuhalten.