Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 20.09.2004
Balduin Winter

Die slawischen Brüder

Die Sorben - eine noch zu entdeckende Minderheit in Deutschland
Südöstlich von Berlin beginnt eine andere Region, erkennbar an Ortstafeln mit zweisprachiger Aufschrift, etwa Lübben, und darunter steht: Lubin. Das ist das Land der Sorben, Deutschlands nichtdeutsche Deutsche, von denen die meisten deutschen Deutschen nahezu nichts wissen. Spricht man von der Lausitz (ein Wort sorbischer Herkunft übrigens), denkt man bestenfalls an Braunkohle im Tagebau, an riesige Mondlandschaften, wo den Menschen die Dörfer unter dem Hintern weggebaggert werden.

Fußballfreunde kennen noch Energie Cottbus, politische Quergeister wissen etwas mit Bautzen/Budysin und seinem einst berüchtigten Gefängnis anzufangen, Bildungsbürger mit dem Städtchen Kamenz als Geburtsort Lessings. Namen hingegen wie Jurij Khežka, Kito Lorenc, Róža Domašcyna sind den allermeisten Literaturprofessoren unbekannt, obwohl es die Namen hervorragender Dichter sind.

Sie repräsentieren ein Volk, das heute zwar nur noch rund 60.000 Angehörige zählt, das aber schon seit Urgedenken - seit dem 7. Jahrhundert - hier ansässig ist. Wie andere elbslawische Völker wurden auch sie von den ostwärts drängenden germanischen Fürsten unterworfen, ohne je durch Auswanderung, Ausrottung oder Assimilation völlig von der Landkarte zu verschwinden.

Es ist ein bäuerlicher Siedlungsraum mit langer Tradition - den Menschen wurde freilich die Entfaltung ihrer Kultur über lange Zeit beträchtlich schwer gemacht durch Sprachverbote, ethnische Segregation und Ausschluss aus öffentlichen Ämtern. Die Alldeutschen unter Bismarck sprachen von "Kulturreaktionären", Friedrich Engels von "Völkerschutt". Für Konservative wie Linke war allein Assimilation die Lösung; die Nationalsozialisten wollten mit den "slawischen Menschentieren" ein für alle Mal aufräumen.

Kein Wunder, dass die Literatur nicht von Epen wimmelt, dass die lange unterdrückte Sprache überhaupt erst im 19. Jahrhundert literaturfähig wird. Die Lyrik ist das dominante Feld, die Entwicklung vollzieht sich vom Volkslied zum Gedicht. Und das ist eines der Verdienste der von Kito Lorenc vorgelegten Anthologie "Das Meer Die Insel Das Schiff": Sie geht von eben diesen Anfängen aus und skizziert den Werdegang sorbischer Lyrik.

Man kann dieses Buch auf sehr verschiedene Weisen lesen. Die ersten Volkslieder dieser Sammlung stammen aus der Zeit um 1500, der Bogen des Bandes spannt sich bis in die unmittelbare Gegenwart; man hat sozusagen Leitmotive sorbischen Lebens - und Glaubens - aus fünf Jahrhunderten vor sich liegen. Es erzählt nicht von Glanz und Prunk des Adels und der Geistlichkeit, sondern von Fron und Zehnten, von wandernden Gesellen und jungen Mädchen, deren Liebste in fremde Kriege ziehen müssen. Es ist das Leben der unteren Schichten.

Doch kommen auch Liebe und Lebenslust nicht zu kurz. Man weiß Feste zu feiern, man liebt die Heimat und findet gegen Unterdrücker manch rebellisches Wort. Natürlich bekommt man es auch mit den verschiedenen literarischen Epochen zu tun, allerdings nicht unbedingt deckungsgleich mit den Epochen in der deutschen Literatur, spätestens seit der literarischen Avantgarde der vorletzten Jahrhundertwende holen sich sorbische Dichter ihre Anregungen auch außerhalb Deutschlands: Surrealismus und Poetismus haben ihre Spuren hinterlassen, also Paris und Prag.

Insgesamt sind zwei große Evolutionslinien in der neueren Lyrik zu erkennen. Eine ältere Linie mit ihrer Dominanz der Tradition über die Innovation, des Kollektivs über das Individuum, angelehnt an die Thementriade Heimat (Folklore), Religion, Muttersprache; und eine jüngere Linie, die den Bruch mit der Tradition vollzogen hat, die Hand in Hand mit den ökonomischen und sozialen Umwälzungen geht. Hier dominiert der Alltag, der Einbruch der globalisierenden Welt in die sorbische Sprachinsel, der Ablöseprozess des Individuums aus den alten und zerbrechenden Kollektiven, der Umbruch des Frauenbildes.

Die neuen Dichter bedienen längst keine Heimatidylle mehr. Sie sind Universalisten, und "sorbisch" bezeichnet lediglich die Sprache, in der sie schreiben. Nicht zuletzt ändert sich auch die Haltung zur Sprache: Die einst streng getrennten, polar konzipierten deutsch-sorbischen Sprachwelten beziehen das alltägliche "code-switching" in sich ein. Wie es für Kneipengäste ganz normal ist, mitten im Satz von einer Sprache in die andere zu springen, so findet man dies auch bei den Dichtern.

Insbesondere Róža Domašcyna entwickelt große Meisterschaft im Überschreiten der Sprachgrenzen. Wie überhaupt Kito Lorenc und sie in Deutschland lyrische Spitzenklasse sind. Die Deutschen sind leider kein Volk von Seefahrern - wer von den deutschen Landbewohnern kennt schon die sorbische Insel? Dabei ist Kito Lorenc' Anthologie eine Entdeckung im unübersichtlichen literarischen Meer, schon um das eigene Land besser kennen zu lernen.

Kito Lorenc (Hrsg.)

Das Meer Die Insel Das Schiff.

Sorbische Dichtung von den Anfängen

bis zur Gegenwart.

Ins Deutsche übertragen von Kito Lorenc, Albert Wawrick, Róža Domašcyna und anderen.

Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2004; 328 S.,

24,90 Euro


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