Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 04 / 24.01.2005
Martin Ebbing

Parole: "Augen zu und durch"

Vor den Parlamentswahlen im Irak
Der Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Irak am 30. Januar gleicht nur sehr entfernt dem, was man darunter in westlichen Demokratien gewohnt ist. Aus Sicherheitsgründen finden nur wenig Versammlungen statt, auf denen sich die Kandidaten vorstellen und ihr Programm erläutern. Viele Kandidaten ziehen es sogar vor, ihre Kandidatur selbst im engen Freundeskreis zu verheimlichen, weil sie fürchten müssen, zur Zielscheibe von Attentaten zu werden.

Vor allem Frauen gehen ein hohes Risiko ein. Ihnen ist ein Viertel der 275 Sitze im neuen Parlament zugesichert, und sie werden deshalb von den politischen Parteien umworben, aber gleichzeitig sind sie den konservativen Eiferern ein Dorn im Auge. Eine weibliche Kandidatin wurde im Dezember 2004 in ihrer Wohnung in Bagdad ermordet aufgefunden. Eine zweite wurde gekidnappt und ein Lösegeld für sie gefordert. Viele der 84 Parteien und Bündnisse haben Wahllisten veröffentlicht, auf denen nur ihre prominentesten Kandidaten genannt werden.

So ist es nicht verwunderlich, dass viele der 14 Millionen Wahlberechtigten durch das Angebot von mehr als 7.200 Anwärtern eher verwirrt sind. Parteien mit Programmen, die weniger ethnische oder religiöse Interessen in den Vordergrund stellen, sind deshalb benachteiligt. Da sie kaum andere Anhaltspunkte besitzen, werden sich viele Iraker an dem orientieren, was sie kennen: Religions-, ethnische oder Stammeszugehörigkeit.

Als klarer Favorit gilt deshalb die "Vereinigte irakische Allianz", ein Bündnis der beiden großen schiitischen Parteien mit einer Reihe kleinerer Gruppen. Die Allianz hat die Rückendeckung von Großayatollah Ali al-Sistani, dem einflussreichsten schiitischen Kleriker des Landes, der die Teilnahme an den Wahlen in einer Fatwa zur religiösen Pflicht erklärt hat. Mit einer Bevölkerungsmehrheit von geschätzten 60 Prozent scheint ein schiitischer Wahlsieg so gut wie sicher.

An zweiter Stelle rangiert eine Liste, die von dem von den USA eingesetzten Premierminister Iyad Allawi angeführt wird. Auf ihr finden sich sowohl bekannte Sunniten wie auch Schiiten, die aber weltlicher ausgerichtet sind als die Konkurrenz von der Allianz.

Die beiden kurdischen Parteien, die sich für die Wahlen zur "Kurdistan Allianz" zusammengeschlossen haben, dürfen ebenfalls aufgrund des kurdischen Bevölkerungsanteils von etwa 20 Prozent mit einer relevanten Zahl von Sitzen rechnen. Chancen, mit einer kleinen Fraktion im neuen Parlament vertreten zu sein, haben allenfalls noch das Linksbündnis "Volksunion", das von der eher westlich ausgerichteten Kommunistischen Partei angeführt wird.

Aus Protest gegen die unzureichende Sicherheitslage hat die mehrheitlich sunnitische "Islamisch Irakische Partei" ihre Kandidatur zurückgezogen. Die Sunniten werden deshalb mit keiner eigenen starken Gruppe von Parlamentariern vertreten sein. Auch ohne den Rückzug standen für sie die Chancen auf eine angemessene Vertretung schlecht. Mit dem Heranrücken des Wahltermins haben die radikalen Aufständischen die Zahl ihrer Gewaltaktionen noch weiter gesteigert. Betroffen sind vor allem die sunnitischen Gebiete. Die Sicherheitslage ist so bedrohlich geworden, dass die US Militärs öffentlich eingestehen mussten, in der Region um Mossul, Tikrit, Falludschah, Ramadi und selbst in Bagdad sei die Situation so schlecht, dass kein ordnungsgemäßer Wahlverlauf garantiert werden könne.

Die Amerikaner haben den Wettlauf mit den bewaffneten Aufständischen verloren. Als im Sommer vergangenen Jahres der Wahltermin festgelegt wurde, hatten sie noch darauf gebaut, dass es ihnen gelingen würde, die Sicherheitslage unter Kontrolle zu bringen. Die Aufständischen haben sich aber als stärker erwiesen, als sie vom Pentagon eingeschätzt wurden. Selbst die Rückeroberung von Falludschah, bei der praktisch eine ganze Stadt zerstört wurde, hat den Widerstand nicht gebrochen und auch die terroristischen Gruppen nicht zerschlagen. Die Gewalttäter sind nach Tikrit und vor allem nach Mossul, mit fast zwei Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes, ausgewichen.

Auch die Hoffnung, dass die irakischen Sicherheitskräfte bis zur Wahl soweit ausgebildet sind, dass sie selbst die Ordnung garantieren können, hat sich nicht erfüllt. Die irakische Polizei wie die Nationalgarde sind nicht nur schlecht ausgerüstet, sondern auch von der nicht enden wollenden Kette von Anschlägen demoralisiert. Nicht wenige Polizisten sympathisieren zudem mehr oder weniger offen mit der Gegenseite.

Obwohl bei nüchterner Betrachtung die Voraussetzungen für die Wahl eines Parlamentes, das eine neue Regierung wählen und die neue Verfassung des Iraks erarbeiten soll, nicht gegeben sind, haben die USA eisern am Wahltermin festgehalten. Unterstützt wurden sie dabei in einer befremdlichen Koalition von den Schiiten, die ungeduldig darauf warten, endlich die Sunniten, die als Saddams Günstlinge das Land beherrscht haben, von der Macht zu vertreiben.

Aus der Sicht Washingtons gab es auch keine ernsthafte Alternative dazu, die Wahlen wie vorgesehen stattfinden zu lassen. Eine Verschiebung hätte ihnen den Zorn und den möglicherweise offenen Widerstand der Schiiten eingebracht, die sich bislang kooperativ verhalten haben. Gleichzeitig hätten die USA damit ihre Niederlage gegenüber den gewalttätigen Aufständischen eingestanden. Es bestehen keine Aussichten, dass sich die Lage auf absehbare Zeit verbessern wird.

Ob die Politik des "Augen zu und durch" allerdings das von Präsident George Bush deklarierte Ziel, Demokratie und Stabilität im Irak zu schaffen, ein Stück näher bringen wird, ist zweifelhaft. Wenn die Stimmen sowie die Menschenleben, die diese Veranstaltungen kosten, ausgezählt sein werden, dann dürfte die Bilanz sehr gemischt ausfallen.

Auf der Habenseite wird das Weiße Haus allenfalls verbuchen können, dass eine neue Regierung im Amt sein wird, die nun - weil demokratischer legitimiert - selbst die Verantwortung für die Entwicklung im Irak trägt. Zumindest der Anschein wird geschaffen, dass die USA nicht mehr die Besatzer sind. Dem Widerstand soll so der politische Wind aus den Segeln genommen werden. Diese Rechnung geht aber nur auf, wenn die Iraker selbst die Wahlen als legitim und repräsentativ ansehen. Bei den Sunniten, die das Rück-grat der Aufständischen bilden, wird man dafür aber keine Zustimmung finden.

Offen ist zudem, ob die neue irakische Regierung unter Demokratie dasselbe versteht, wie das Weiße Haus. Die "Vereinigte irakische Allianz" ist eine schiitische Sammelbewegung, die mehr westliche orientierte Liberale als hartleibige religiöse Orientierungen in sich vereinigt. Die beiden großen Parteien, Dawa und der Oberste Rat für die islamische Revolution im Irak (SCIRI), die sich in der Allianz zusammengeschlossen haben, besitzen enge Beziehungen zum Iran. Beide Parteien geben sich bislang als irakische Nationalisten, die von Teheran unabhängig sein wollen. Ob dies tatsächlich zutrifft, wird sich erst zeigen, wenn sie mit dem Machtantritt auch die Gelegenheit haben, dies unter Beweis zu stellen.

Klar ist aber schon jetzt, dass die neue irakische Regierung von den Amerikanern einen eindeutigen Zeitplan für ihren Abzug verlangen wird. Auch in den USA werden die Stimmen lauter, die glauben, dass der Krieg-nach-dem-Krieg im Irak nicht zu gewinnen ist und die Wahlen ein guter Zeitpunkt sind, den Rück-zug einzuleiten. Präsident Bush hält sich bislang aber noch alle Optionen offen. Öffentlich hat er sich noch nicht auf einen Rückzugsplan festlegen lassen, amerikanische Medien berichten jedoch, dass er bereits mit seinen Sicherheitsberatern über mögliche Optionen nachdenkt.

Der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Bush sen., Brent Scowcroft, der die Irakpolitik des Sohnes in der Vergangenheit unterstützt hatte, hat in einem vielbeachteten Artikel davor gewarnt, die Sunniten könnten gewaltsam gegen eine schiitische Regierung rebellieren. Das Land würde in einen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten hineinrutschen, was die Kurden wiederum veranlassen könnte, sich loszusagen.

Auch Ex-Außenminister Colin Powell hält eine Verschlechterung der Lage für möglich. "Der Widerstand wird nach den Wahlen nicht verschwinden", sagte er in einem Interview. "Die Aufständischen können sich sogar noch ermutigt fühlen".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.