Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 - 26 / 20.06.2005
Eva Grundl

Humanitarismus als Messlatte

3. Konstanzer Europa-Kolloquium

Die Vielzahl von Kulturen und Religionen hat für Europa doppelte Bedeutung: Sie ist Europas Erbe und gleichzeitig integrales Wesensmerkmal der Gemeinschaft in der Gegenwart. Das Leben dieser "Vielfalt in der Einheit" muss sich täglich neu bewähren. Eine janusköpfige Rolle spielen dabei die Religionen. Sie führen zwar einerseits zu Konflikten, bergen aber andererseits auch Lösungen und konkrete Handreichungen für ein friedliches Zusammenleben.

Auf dem 3. Konstanzer Europa-Kolloquium diskutierten Wissenschaftler, Politiker, Journalisten und Kirchenvertreter unter dem Titel: "Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa", welche Bedeutung die Religionen für das Zusammenleben haben. "Das jesuanische Menschenbild des Evangeliums mit seinem Verbot jeglicher Kategorisierung des Menschen ist auch für die anderen Religionen überzeugend und einleuchtend", führte der Politiker Heiner Geißler aus.

Auch im Koran, so die Islam-Wissenschaftlerin Angelika Hartmann von der Universität Gießen, fände sich das zentrale Gebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Es zähle zusammen mit der Entwicklung einer toleranten und pluralen demokratischen Gesellschaft zu den bedeutendsten Errungenschaften der europäischen Zivilgesellschaft. Diesen Werten müssten sich die Weltreligionen in Gegenwart und Zukunft verstärkt verpflichtet sehen. Als Messlatte für religiösen Pluralismus und Toleranz in Europa wurde der Humanitarismus ausgemacht. Er wird laut Wörterbuch definiert als "praktische Tätigkeit, durch die versucht wird, punktuelle Probleme von Individuen oder Menschengruppen zu lösen".

Für den französischen Publizisten Alfred Grosser spielen dabei die Toleranz des Anderen und das Prinzip der Reziprozität eine wichtige Rolle: "Wahrheit ist immer plural. Sie kann aber nicht, wie es die Kirchen jahrhundertelang praktiziert haben, per Zwang auferlegt werden", kritisierte er. Angelika Hartmann plädierte dafür beim interkulturellen und interreligiösen Dialog nicht mit säkularisierten Argumenten, sondern mit gleichen kulturellen Codes zu kommunizieren.

Wie aber kann festgestellt werden, ob die europäische Gesellschaft ihrem Anspruch einer menschenwürdigen Gesellschaft gerecht geworden ist? Für Heiner Geißler gibt es dafür ein eindeutiges Indiz: die Gleichberechtigung der Frauen. Sie stellen weltweit nicht nur den größten Teil der Analphabeten dar, sondern werden zum Beispiel durch die Praxis der Beschneidung körperlich und in ihrer Menschenwürde aufs schwerste verletzt. Für den Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, sind aber nicht die Weltreligionen an sich, sondern deren Anhänger für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich - ebenso wie Politik und Gesellschaft.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.