Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005
Frauke Hamann

Endspiel und Trauma eines Wahns

Walter Kempowski hat sein Meisterwerk vollendet
Dieses Buch fesselt, man kann sich ihm unmöglich entziehen. Walter Kempowski versammelt und montiert in seinem "Abgesang '45" Zeugnisse über vier markante Tage: den 20., den 25. und den 30. April sowie über den 8./9. Mai 1945. Angefangen bei Adolf Hitlers letztem Geburtstag über das Zusammentreffen von Amerikanern und Russen bei Torgau an der Elbe und die Gründung der Vereinten Nationen bis zum Selbstmord des "Führers" und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Kempowski hat aus seinem vor über 20 Jahren begonnenen Tagebücher- und Zeitzeugen-Archiv das Endspiel des Dritten Reiches so wahrhaftig und fesselnd choreografiert, wie nur er es vermag.

Kempowski ist mit seinem Echolot-Projekt zum Komponisten der Erinnerung geworden, er ist für uns hinabgetaucht in die Vielstimmigkeit der Zeitzeugenschaft. Das Buch gleicht einer Zeitreise zurück in die letzten Tage des NS-Regimes, des Zweiten Weltkrieges, einer unerhörten, für die Beteiligten kaum fassbaren Situation. Soldaten verschiedener Nationen kommen zu Wort, aber auch militärisch und politisch Verantwortliche; Schriftstellerkollegen wie Erich Kästner, Elias Canetti und Ernst Jünger äußern sich, vor allem aber Menschen aller Schichten.

Der große Choreograf Kempowski zeigt sich in der Qualität seiner short cuts. "Die Welt wird schöner mit jedem Tag", mit diesem Vers aus Ludwig Uhlands Frühlingsglaube grundiert er den ersten Tag, an dem Adolf Hitler seinen 56. Geburtstag begeht, "während ringsum in Berlin alles brennt" und Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in der Lagebesprechung im Führerbunker kundtut, durch das Ausharren in Berlin "könne man einen moralischen Welterfolg erzielen".

Zu diesem Aberwitz kontrastiert, was ein US-Kriegsberichterstatter angesichts der Ströme von befreiten Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen empfindet: "Sie waren das Treibgut Europas." Beim Zusammentreffen von Amerikanern und Russen bedauert einer der Beteiligten angesichts des historischen Augenblicks: "Keiner brachte einen unsterblichen Satz zustande." Ein Kriegsgefangener spürt "wirkliche Gottverlassenheit", ein anderer kann nur denken: "Was wird, was kommt, wie lange noch?", während die in Auschwitz befreite Jüdin Ruth Klüger begreift: "Nicht unsretwegen war in diesem Krieg gekämpft worden."

So wie sich die Ereignisse überlagern, tun es auch die Empfindungen. Das Buch versammelt eine Fülle von Gefühlen, von Denk- und Verhaltensweisen. Während die Schlacht um Berlin tobt, liest Ernst Jünger "weiter im Hiob. Mehr erfasst keine Philosophie."

Richard Strauss wimmelt derweil in Garmisch amerikanische Soldaten ab, die sein Haus requirieren wollen - indem er den "Rosenkavalier" spielt und zufrieden notiert: "Abwehrerfolg durch den Geist." Walter D., Kriegsgefangener in Texas, vermerkt: "Deutschland hat den Krieg verloren. Diese Worte sind unsagbar schwer zu schreiben." Und Dieter Wellershoff in Mecklenburg gesteht sich ein: "Ich bin nicht im geringsten mit all dem fertig, was passiert. Ich kann es in Wirklichkeit überhaupt nicht fassen."

Gebirge von Erinnerungen

Alfred Döblin bekennt, dass sein "persönlicher Bedarf an historischen Ereignissen nun völlig gedeckt" sei. Ein Rotarmist hat "Sehnsucht nach Stille" inmitten des Kampflärms. Knut Hamsun erfährt von Hitlers Selbstmord und bekundet: "Wir, seine treuen Anhänger, neigen nun unser Haupt." Heimito von Doderer hingegen schreibt: "Man kann durch Dulden schuldig werden. So, letzten Endes, hat der totale Staat den Menschen eingesackt."

Kompositorisches Können und Vertrautheit mit der historischen Situation wie dem Zeitzeugen-Material ermöglichen die Intensität des "Abgesang '45". Aus einem Gebirge von Erinnerungstexten hat Kempowski jene geborgen, die die historische Situation treffen, die aber auch uns treffen - ihre Vielstimmigkeit ergibt eine Fülle der Perspektiven.

Nach den ersten vier "Echolot"-Bänden von 1993, der ebenfalls vierbändigen "Fuga furiosa" von 1999 über den Januar und Februar 1945 und dem einbändigen Prolog "Barbarossa '41" ist das Echolot-Projekt nun meisterlich vollendet - und als Hauptwerk Kempowskis sichtbar. Vor 25 Jahren hatte Kempowski beschlossen, alle Tantiemen für den Aufbau und Erhalt seines Archivs von unterdessen mehr als 8.000 Tagebüchern und biographischen Texten zu verwenden. Er sieht sich als Vertreter einer "Literatur der Objektivität". Lange sei er abgestempelt gewesen "als Halbidiot, weil ich humorvoll geschrieben habe. Seit dem Echolot ist das anders. Es gibt zwischen meiner Familienchronik und dem Echolot ein Wechselspiel: Das eine ist mehr subjektiv erzählt und das andere ist eine Versammlung der Vielen - dadurch bekommt es einen objektiven Charakter."

Kempowski trifft die Auswahl: "Ich halte die Tür offen und lasse nicht jeden rein. Und wie ich die Aussagen der Menschen komponiere, zusammenfüge und dialogisiere, sie zueinander in Beziehung setze und ins Licht rücke - damit eben äußere ich meine Meinung." Das letzte Wort hat Hölderlin, bei dem es heißt: "Der Menschen Thätigkeit beginnt mit neuem Ziele,/So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele."


Walter Kempowski

Das Echolot. Abgesang '45.

Albrecht Knaus Verlag, München 2005; 496 S., 49,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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