Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005
Ulrike Schuler

Fischer macht den starken Mann

Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen am 9. und 10. Juli in Berlin
Eine junge blonde Studentin brachte Joschka Fischer im Berliner Velodrom arg ins Schwitzen. Rhetorisch brillant und inhaltlich überzeugend focht sie beim Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen zum neuen Wahlprogramm den Anspruch des Außenministers an, einziger Spitzenkandidat zu sein. "Wir haben unsere Grundsätze nicht umsonst aufgeschrieben", mahnte Susann Worschech eine "kohärente Frauenpolitik" bei den Grünen an und forderte im Namen des Kreisverbandes Berlin-Pankow die Aufstellung einer zusätzlichen Spitzenkandidatin.

Doch nicht nur, dass die junge Frau mit bestechender Logik den Finger in die Wunde des Alleinvertretungsanspruchs von Fischer legte, der ohne Frau an seiner Seite den Spitzenkandidaten machen wollte. Worschech bekam von den Delegierten auch noch donnernden Applaus und die Parteispitze, die den Antrag innerlich längst abgehakt hatte, ein Problem. Der Vorstand musste die besten Rednerinnen ins Rennen schicken - und das mit dem kuriosen Auftrag, dem rebellierenden Plenum zu vermitteln, dass Frauen an der Spitze nur dann wichtig sind, wenn Joschka das auch will.

So sagte Verbraucherschutzministerin Renate Künast, sie stehe zwar zur Doppelspitze, aber nun müsse man "in Kampf- und Formationsstellung" gehen, und: "Wir stellen unseren stärksten Mann nach vorn." Diese militärisch durchwehte Begründung provozierte einige Buhrufe und auch Claudia Roth erhaschte nicht nur Beifall, als sie sich anschickte zu erklären, warum das grüne Grundprinzip der Quotierung auf einmal nicht mehr so relevant sei: "Wir haben uns immer und überall für Frauenrechte eingesetzt, und das tun nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer." Die ehemalige nordrhein-westfälische Ministerin Bärbel Höhn warnte vor einem "bretterharten Wahlkampf", der es erfordere, dass die Delegierten in Geschlossenheit hinter Joschka Fischer ständen und den Antrag zur Benennung einer Spitzenkandidatin ablehnten. Zudem müsse man so viel Angst vor dem weiblichen Gesicht der Union nicht haben. "So wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, macht eine Merkel noch keine Frauenpolitik", sagte Höhn. Dem entgegnete die junge Delegierte Dana Frank, dass zwar eine Schwalbe sicher keinen Sommer mache, "aber ein grüner Spitzenmann tut das auch nicht". "Frauenpolitik ist doch keine Frauenpolitik, wenn sie nur in die Mitte gestellt wird, wenn's nicht mehr weh tut", kritisierte sie. Auch Helen und Julia vom "Frauen-Guerilla-Wahlkampfteam" der Grünen Jugend überzeugte die Logik der Spitzenfrauen nicht. Die beiden führten auffällige dunkelrote Barette mit der Aufschrift "Frauen bilden Banden" im Plenum spazieren und machten ihrem Unmut Luft. "Wenn es wirklich um die Wurst geht, wenn es wichtig ist, haben auch die Grünen Nachholbedarf bei der Frauenquote", findet Julia.

Letztendlich wurde der Antrag zugunsten einer Spitzenkandidatin knapp abgelehnt. Das erstaunte nicht wirklich, hatte sich Fischer doch im Velodrom mal wieder standing ovations erredet, als er mit zeitweilig heiser-dramatischer Stimme seine Parteifreunde aufforderte, mitzuhelfen, aus dem scheinbar Unmöglichen das Mögliche zu machen. "Ich möchte auf Sieg spielen," rief der Außenminister. Die Liberalen kanzelte er als "kalte Modernisierer" ab und das Bündnis zwischen WASG und PDS als "linksgetarnten Rechts-populismus", gegen den knallhart opponiert werden müsse. Künasts "stärkster Mann" spielte noch einmal all sein rhetorisches Können aus, um die Grünen zu einem leidenschaftlichen Trotz-alledem anzufeuern.

Allerdings könnte der Beigeschmack eines Glaubwürdigkeitsproblems bleiben. Mehr als einmal wurde dieses Stichwort von Delegierten in Bezug auf das neue Wahlprogramm gegeben. Mit dem wollen die Grünen angesichts des drohenden Erfolges der Linkspartei aus PDS und WASG wieder unbedingt und ausdrücklich "Linke" sein, und zwar "moderne, werte-orientierte und emanzipative". "Wer soll uns Seriosität abnehmen, wenn wir ein halbes Jahr später, das, was wir beschlossen haben, wieder in Frage stellen", monierte beispielsweise der baden-württembergische Landtagsabgeordneter Winfried Kretschmann, als es um die Forderung ging, den zu Jahresanfang von 45 auf 42 Prozent gesenkten Spitzensteuersatz wieder auf 45 Prozent anzuheben. Die Mehrheit der Grünen versuchte, das Dilemma dadurch zu lösen, dass sie Fehler der rot-grünen Regierung eingestand und die korrigierenden Beschlüsse zum Wahlprogramm als erste Schritte zur Besserung verkaufte. "Wir müssen zu unserem Kurs stehen und das, was unvollkommen ist, weiterentwickeln", formulierte beispielsweise Parteichef Reinhard Bütikofer. "Ehrliche Bilanz - Aus Fehlern lernen" ist ein Kapitel des grünen Wahlprogramms überschrieben. Fehler diagnostizieren die Grünen vor allem in der Arbeitsmarktpolitik, bei der das Fördern dem Fordern noch nicht hinreichend gegenüberstehe und in der Steuerpolitik, in der Starke mehr leisten sollen als Schwache. Zum ersten Mal hat die Partei nicht die Ökologie zum ersten Kapitel eines Programms erkoren, sondern Arbeitsmarkt- Sozial- und Steuerpolitik. Die vom Parteivorstand schon im Entwurf anvisierten Korrekturen zu mehr sozialer Gerechtigkeit wurden von den Delegierten in Berlin noch einmal verschärft und konkretisiert.

Verweise auf hehre Ziele waren bei den Delegierten mehr als willkommen. "Es geht jetzt auch um ein Signal für Gerechtigkeit", hielt die nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Britta Haßelmann dem gegenüber der Erhöhung des Spitzensteuersatzes skeptischem Kretschmann entgegen. Viel war bei der Debatte um die Besteuerung der Besserverdienenden auch von Solidarität die Rede und von starken Schultern, die stärker belastet werden müssten. Das überzeugte - und die Anhebung auf 45 Prozent wurde ins Programm aufgenommen.

Der immer mal wieder auf Parteitagen als linker Unruhestifter in Erscheinung getretene Münsteraner Wilhelm Achelpöhler setzte die Forderung durch, dass die Regelsätze für Sozialhilfe und ALG II "deutlich angehoben werden, damit sie vor Armut schützen". Zudem wollen die Grünen den Bezug von Sozialleistungen stärker vom Partnereinkommen entkoppeln, die Regelsätze in Ost und West angleichen und notwendige Altersvorsorge-Aufwendungen freistellen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird als Schritt in Richtung einer sozialen Grundsicherung für alle gesehen, die die Partei anstrebt.

Während die geforderten Verbesserungen zu Hartz IV auf der Bundesdelegiertenversammlung relativ glatt durchgingen, gab es um eine Erhöhung der Mehrwertsteuer eine heftige Debatte. Der schon oft in der Partei wegen Neoliberalität geschmähte Oswald Metzger plädierte für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, um die Lohnnebenkosten zu senken, was seiner Ansicht nach zu neuen Jobs führen würde. Er beschrieb Schweden als Vorbildmodell, das den Kostenfaktor Arbeit durch die Steuer entlastet habe. Ähnlich sahen das mehrere Vertreter norddeutscher Landesverbände. "Das skandinavische Modell ist eine reale Alternative zum Neoliberalismus", sagte Martin Henschel aus Schleswig-Holstein. Trotz hoher Steuerquote seien die skandinavischen Länder wesentlich wettbewerbsfähiger als Deutschland, da Arbeit dort weniger koste und die Arbeitnehmer dennoch mehr Lohn in der Tasche hätten. Auch die Fraktionsvorsitzende Krista Sager unterstützte einen Antrag, der eine sozial und ökologisch gestaffelte Mehrwertsteuererhöhung vorsah. Als Gegenredner trat Bundesumweltminister Jürgen Trittin ans Mikrofon. Er empfahl die im Programm vorgesehene Senkung der Lohnnebenkosten für untere Einkommen als angemessenes Mittel, um neue Jobs zu schaffen, und warnte vor den Auswirkungen für die Konjunktur, wenn auf Rentner und Sozialhilfeempfänger höhere Preise zukämen. Auch Wahlkampfmanager Fritz Kuhn fand, eine "Erhöhung wäre jetzt Gift". Durchgehend wurde die Sorge geäußert, mit Angela Merkels CDU, die die Mehrwertsteuer auf 18 Prozent erhöhen will, in ein Boot gesetzt zu werden. Statt einer Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen die Delegierten, im Wahlprogramm die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Anhebung der Erbschaftssteuer zu fordern. Zudem wollen sie Steuersubventionen abbauen und im Ausland lebende Bürger - ähnlich wie die USA es handhaben - einkommenssteuerpflichtig machen.

Mehr Arbeitsplätze will die Partei durch gestaffelte Lohnnebenkosten, die bei unteren Einkommensgruppen durch Zuschüsse niedriger gehalten werden sollen, schaffen. Eine generelle Verlängerung der Arbeitszeit halten die Grünen für den "falschen Weg" und wollen Tarifverhandlungen über eine Reduzierung von Arbeitszeit bei anteiligem Lohnverzicht anregen. Beim umstrittenen Mindestlohn wurde ein Kompromiss gemacht: Gesetzliche Regelungen sollen nur da greifen, wo Tarifvereinbarungen zu einem armutsfesten, branchenspezifisch differenzierten Mindestlohn nicht zustande kommen.

Zorn gab es auf dem Parteitag über die defensiven Formulierungen im Programmentwurf zur Ökosteuer, die in der Aussage gipfeln: "Angesichts der Energie- und Ölpreise planen wir keine Erhöhung der Ökosteuer." Ein "klimapolitischer Erfolg ohne gleichen" sei doch die Ökosteuer gewesen, meinte der Delegierte Hartwig Berger und forderte wie auch andere Grüne eine Weiterführung der ökologischen Steuerreform. Doch die Mehrheit wollte nicht den "Watschenmann" geben, wie Jürgen Trittin formulierte, und lehnte eine Erhöhung der Ökosteuer ab. Allerdings sollen ungerechtfertigte Ökosteuer-Ausnahmen genauso wie Kohlebeihilfe und Eigenheimzulage abgeschafft, die Pendlerpauschale reduziert werden.

In der Gesundheitspolitik setzen die Grünen auf die Bürgerversicherung, in die "alle gemäß ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit einbezahlen". Die Beitrags-parität soll erhalten bleiben und die Bemessungsgrenze maßvoll angehoben werden. Auch für die Pflege will die Partei eine Bürgerversicherung, hält allerdings ergänzende Vorsorge für nötig.

"Fangt jetzt nicht an zu schwächeln", forderte Fraktionschefin Krista Sager die Delegierten am späten Abend des 9. Juli auf, als nach langen Debatten noch die Themen Bildungs-, Familien- und Frauenpolitik auf der Tagesordnung standen. Doch Sager konnte nicht mit der Idee einer Kinderkarte überzeugen, die bedürftigen Kindern kostenlosen Zugang beispielsweise zu Sportvereinen oder Musikunterricht ermöglichen sollte. Auch ein Elterngeld, das den Ausstieg aus dem Job ohne größere finanzielle Einbußen ermöglichen sollte, lehnte der Parteitag aus Kostengründen ab. Allerdings soll es nach dem Willen der Grünen für Familien mit Kindern deutliche Verbesserungen geben. So wird ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr und ein kostenfreies Vorschuljahr angestrebt. Der Bund soll zu einem auch qualitativ verbesserten Betreuungsangebot der Kommunen finanziell beitragen.

Die Wehrpflicht wollen die Grünen durch einen "freiwilligen flexiblen Kurzdienst" ersetzen. Einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren lehnen sie ebenso wie den großen Lauschangriff ab. Ausländer sollen leichter eingebürgert und die doppelte Staatsbürgerschaften großzügig hingenommen werden. Die Partei setzt auf einen neuen Anlauf zu einer EU-Verfassung und will über Teile des Gesetzwerkes europaweit abstimmen lassen.

Ist die Partei damit also im Wahlkampf gegen die Konservativen, aber auch die neue Linkspartei gut aufgestellt? Der Vertreter vom linken Flügel, Hans-Christian Ströbele, war zumindest zufrieden. "Das ist ein geläutertes grünes Programm", stellte er fest. "Viele Forderungen der Linken seien aufgenommen worden wie die Anhebung der ALG-II-Regelsätze und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Frithjof Schmidt sah den "starken neoliberalen Einfluss der Fraktion" zurückgedrängt. "Es gab Korrekturbedarf", so Schmidt. Mit den Beschlüssen des Parteitags sei der erfüllt worden: "Das ist eine positive Entwicklung." In diesem Sinne schloss Joschka Fischer die Bundesdelegiertenversammlung denn auch mit der Behauptung: "Der Sommer wird grün."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.