Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
Bernd Jürgen Wendt

Realpolitiker und Politikverächter

Bismarcks gesammelte Werke in der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe"

Die zwischen 1924 und 1935 herausgegebenen "Gesammelten Werke" Otto von Bismarcks, die inzwischen klassische "Friedrichsruher Ausgabe", waren gedacht als "ein Denkmal, das Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung dem Reichsgründer errichtet". Dabei hielten es die "Denkmals-Gründer" damals für angebracht, mit den Quellen in einer teilweise willkürlichen, fragmentierten und das Bild der Bismarckschen Politik verzerrenden Weise umzugehen.

Ein grundlegender Neuansatz war überfällig. Er ist jetzt mit den ersten beiden Bänden der "Neuen Fried-richsruher Ausgabe" (NFA) auf Initiative der wissenschaftlich ungemein produktiven Otto-von-Bismarck-Stiftung und auch mit Hilfe ihres Archivs in Friedrichsruh überzeugend gelungen. Mit fachlicher und editorischer Kompetenz legen Andrea Hopp und Rainer Bendick, wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung, als Bearbeiter die Schriften (unter Einschluss der Briefe) und Dokumente zur Außenpolitik von 1871 bis 1876 vor.

Sie haben eine Fülle neuer, bisher ungedruckter Materialien einbezogen und auch neue Themenfelder und Fragestellungen zur Innen- und Außenpolitik nach der Reichsgründung dokumentiert, die früher noch nicht im Blickfeld der Forschung lagen. Beide Bände sind mit informativen thematischen Einführungen, knappen Inhaltsangaben sowohl vorn im Dokumentenverzeichnis als auch im Vorspann der Dokumente selbst, durch die chronologische Anordnung der Dokumente, die Präsentation inhaltlich relevanter Marginalien und Begriffs- sowie Sacherläuterungen in den Anmerkungen, durch den in der Regel vollständigen Abdruck der Dokumente und ein Personenregister mit den Funktionen im Bearbeitungszeitraum nicht nur für den Fachhistoriker, sondern auch für einen breiteren Kreis historisch Interessierter außerordentlich leserfreundlich gestaltet.

Das Ziel der getroffenen Auswahl, in der Innen- und Außenpolitik das politische Denken und Handeln Bismarcks, seine taktischen und strategischen Schachzüge, seine Pläne und Ziele und die politischen Entscheidungsprozesse an Hand der Quellen nachvollziehen zu können, ist anschaulich erreicht. Zentrales Thema des ersten Bandes (1871 - 1873) sind der Auf- und Ausbau des jungen Nationalstaates und seine innere wie äußere Befestigung, der Friedensvertrag mit Frankreich und der ständige Versuch einer internationalen Isolierung der Republik gegenüber den europäischen Monarchien, der Kulturkampf mit seinen inneren und äußeren Dimensionen sowie Gegenaktionen gegen die befürchtete "sozialistische Gefahr".

Im zweiten Band steht stärker die Außenpolitik im Vordergrund. Es ging Bismarck um die Sicherung des Reiches und seiner internationalen Handlungsfähigkeit im europäischen Mächtesystem. Dabei geriet Bismarcks Außenpolitik mit dem von ihm provozierten massiven Druck gegen Frankreich in der "Krieg-in-Sicht-Krise" 1875 erheblich "aus dem Tritt", als sich Großbritannien und das Zarenreich wider Erwarten demonstrativ auf die Seite Frankreichs schlugen und die Berliner Politik in ihre Schranken verwiesen.

Interessant dokumentiert sind auch Bismarcks Personalpolitik, sein oft rüder Umgang mit Untergebenen und sein nicht spannungsfreies Verhältnis zum Kaiser mit mehrfachen Rücktrittsdrohungen. Deutlich wird seine entschlossene Verteidigung des Primats der Politik und seiner persönlichen Machtstellung als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident gegen Ansinnen der Militärs etwa mit der Forderung nach einem von ihm stets entschieden abgelehnten Präventivkrieg gegen Frankreich.

Geradezu hymnisch beschwört Bendick Bismarcks "Virtuosität" in der europäischen Machtpolitik und seine "ultimative Form der Staatskunst des 19. Jahrhunderts" mit der realpolitischen Lernfähigkeit als "transhistorisches Vorbild erfolgreicher Politik". Was für die 1870er-Jahre noch gelten mag, sollte sich freilich im folgenden Jahrzehnt, etwa in der Russlandpolitik, doch ganz anders ausnehmen. Bismarck hinterließ seinen Nachfolgern nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch erhebliche Hypotheken.

Bei dem sorgfältigen editorischen Standard der ersten beiden Bände ist abzusehen, dass die NFA, die zügig fortschreiten möge, auch wieder ein "Klassiker" werden wird.


Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb (Hrsg.)

Otto von Bismarck: Gesammelte Werke.

Neue Friedrichsruher Ausgabe,

Abteilung III: 1871 - 1898. Band 1: 1871 - 1873, Band 2: 1874 - 1876.

VerlagFerdinandSchöningh,Paderborn/München/Wien/Zürich 2005;

LXXXII / 637 S., 60,- Euro (Subskription 52,- Euro); LXXX / 710 S., 66,- Euro (Subskription 57,- Euro)


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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