Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
Patrick Brauckmann

Modernisierung und Solidarität

Damals ... vor 15 Jahren am 4. Oktober: Die erste Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages

Die 144 Abgeordneten der aufgelösten Volkskammer wurden von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth mit freundlichen, aber auch mahnenden Worten begrüßt: "Von nun an hat sich der Deutsche Bundestag als das gesamtdeutsche Parlament den Aufgaben zu stellen, die sich aus der Vereinigung ergeben." Gleichzeitig machte sie deutlich, wie dringend das Engagement der neuen Abgeordneten benötigt werde. "Wir brauchen ihre spezifischen Erfahrungen", ließ die Bundestagspräsidentin die neuen und alten Abgeordneten des Bundestages wissen. Bereits einen Tag nach den Feiern zur deutschen Einheit begann so am 4.Oktober 1990 die erste Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin.

Insgesamt 663 Abgeordnete aus dem ganzen Bundesgebiet versammelten sich, um der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl beizuwohnen. Der erste gesamtdeutsche Bundeskanzler zeigte sich in seiner Rede am Tage nach den Einheitsfeiern zuversichtlich, dass alle Probleme der Wiedervereinigung gelöst werden könnten. Er räumte aber auch ein, dass "in diesem entscheidenden Augenblick unserer Geschichte" mehr denn je Solidarität gefragt sei. Weiterhin sei eine rasche Modernisierung vonnöten. Politisch machte sich bereits zu diesem Zeitpunkt das gestiegene außenpolitische Selbstbewusstsein der Regierung Kohl bemerkbar. So fand der Kanzler deutliche Worte zur Besetzung Kuwaits durch den Irak und machte damit deutlich, dass das vereinigte Deutschland fortan ein gleichberechtigter Partner im atlantischen Bündnis sein werde. Der Tag nach der deutschen Einheit war aber auch von kontroversen Debatten geprägt. Nach der Vereidigung von fünf ehe- maligen DDR-Politikern für das neue Kabinett wurde den jeweiligen Fraktionen das Wort erteilt. Es ging in der Aussprache um nicht weniger als die Weichenstellung für die kommenden zu bewältigenden Aufgaben, welche die Einheit mit sich brachte. Besonders der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi, mahnte zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte der ehemaligen DDR und auch seiner Partei. "Wir stehen zu unserer Geschichte und der Verantwortung. Das macht den Weg sehr viel schwieriger, aber auch ehrlicher", so Gysi in seiner Jungfernrede vor dem Bundestag.

Für die insgesamt 144 Abgeordneten aus den neuen Bundesländern begann damit ein anstrengender Weg der Vergangenheitsbewältigung. Doch brachten die ehemaligen Volkskammerabgeordneten auch ein neues Verständnis von Demokratie mit, welches eben gerade auf ihren Erfahrungen in der DDR beruhte. Geprägt vom Überwachungsstaat, aber auch vom gewaltfreien Widerstand in den letzten Tagen des überkommenen Systems, war es nun an ihnen, dass Stasi-Erbe aufzuarbeiten. Unterstützt wurden sie dabei von fast allen Parteien des Bundestages. Gleichzeitig warnte der Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt, vor einer "fundamentalistischen Verfolgungsjagd" bei der Bewältigung des SED-Regimes. Weiterhin ermahnte er die Abgeordneten, sich klare Vorstellungen von den Folgen der Einheit zu machen: "Dass die Einheit zum Nulltarif zu erhalten wäre, hat keinen Glauben gefunden." Vielmehr müssten gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um die DDR wirtschaftlich zu festigen und dabei geistig-kulturelle Hemmschwellen zu überwinden. Einig waren sich alle Fraktionen darin, dass sich nicht innerhalb kürzester Zeit alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Wiedervereinigung lösen ließen. Otto Graf Lambsdorff (FDP) betonte: "Die Einigung Deutschlands ist nicht vollendet, auch wenn wir uns heute über die Einheit freuen." Eine Einheit, die politisch nach 40 Jahren mit der ersten gemeinsamen Sitzung des Bundestages Realität wurde, nur wenige Tage nachdem die Volkskammer der DDR und der Deutsche Bundestag am 20.September 1990 dem Einigungsvertrag zugestimmt hatten.

Bedeutsam war auch die Wahl des Ortes der ersten gemeinsamen Bundestagssitzung. Wieder einmal war es Willy Brandt, ehemals Berliner Oberbürgermeister und nun ältestes Bundestagsmitglied, der Weitsicht bewies: "Mit dem Bekenntnis zu Berlin als bloß der symbolischen Hauptstadt kann es nicht sein Bewenden haben." Schließlich hatte der Reichstag in seiner 100-jährigen Geschichte schon viele große Demokraten kommen und gehen sehen. Nunmehr sollte er wieder zum Inbegriff der Freiheit aller Deutschen und ihres Bekenntnisses zur Demokratie werden. So war es nur folgerichtig, dass der Reichstag 1999 wieder zur Heimat des Deutschen Bundestages wurde.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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