Wie bildet man Werte?
Die Diskussion über Wertewandel, Werteschwund, Werteverfall und Wertebildung wird nicht erst seit dem Entstehen unserer Spaßgesellschaft geführt, wenn die beiden Phänomene auch gerne miteinander in Verbindung gebracht werden. Sie ist im Lauf der Jahre auch nicht griffiger geworden, soweit man überhaupt zu definieren vermag, welche Kategorie von Werten gemeint ist. Wenn über "Werte" räsoniert wird, muss man nicht selten erkennen, dass die Entwicklung der Gesellschaft die bis dato gültigen Raster bereits wieder obsolet gemacht hat. Kann die Wertediskussion die Entwicklung noch beeinflussen oder muss sie sich auf den Versuch beschränken, sie zu beschreiben? "Fragil ist der Firnis der Zivilisation", konstatiert die Evangelische Akademie Tutzing im Geleitwort zu ihrer Tagung "Werte bilden - Zum Einmaleins des Humanismus". Welche Werte sind fundamental, welche variabel? Wie bilden und wie verändern sie sich, wie kann man sie pflegen und begründen? Können ökonomisch und technisch dominierte Dynamiken solidarische und ökologische Leitbilder integrieren?
Prominentester Referent des dreitägigen Kolloquiums war Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit einem weit in die Zukunft greifenden Vortrag zum Thema "Grundwerte für eine gerechte Weltordnung". Damit wurde die Tagung eingeleitet, was wegen der Zeitplanung des Parlamentspräsidenten notwendig war, aber auch ihm selbst konferenzdramaturgisch nicht ganz logisch erschien. Thierse nahm die globalen Aspekte des Themas Wertebildung unter die Lupe, warb für weltweite Wertestandards, die das gefährliche Aufeinander treffen rassischer, religiöser und weltanschaulicher Strömungen verhindern oder doch entschärfen sollen. Ohne eine neue "Umrahmung" und gemeinsame Wertvorstellungen als Grundlage von Politik und besonders für die internationalen Beziehungen würden sich die Tendenzen zu gewaltsamer Abgrenzung oder gar Auseinandersetzung wohl verstärken, vermutete Thierse. Aber können Werte - Grundwerte - als normative Vorgaben für die Gestaltung internationaler Politik dienen? "Eine wertorientierte Debatte über internationale Politik bietet zwar noch keine Handlungsanweisung für konkrete und spezifische Fragen der Außen-, Sicherheits- oder Entwicklungspolitik, aber sie kann zum Verständnis für neue Prioritäten beitragen und Entscheidungsprozesse unterstützen", sagte der Parlamentspräsident, wobei Wertorientierungen keinesfalls nur eine Messlatte zu sein hätten, die an das Handeln der Politik gewissermaßen von außen angelegt werde - "sie sind so etwas wie die Währung, mit der sich die Verständigung innerhalb der Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften abspielt, wenn diese anschlussfähige Wertordnungen vorfinden. Diese Suche nach Anschlussfähigkeit und Übersetzbarkeit grundlegender Überzeugungen und Werte macht die Bedeutung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs aus". Wesentlich aber sei auch der Dialog an sich; im gleichberechtigten Diskurs der Weltkulturen werde sich erweisen müssen, in welchem Umfang und auf welche Weise die erreichte globale Vernetzung und Schicksalsgemeinschaft zu einem Konsens über Grundrechte führen kann.
Der weltweiten Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit müsse eine verstärkte Bewegung zu Solidarität vorausgehen, die dann in Politik umgesetzt werden kann, meinte Thierse. Aber: "Da reicht es nicht aus, die Welt nur nach den derzeitigen Regeln der ökonomischen Globalisierung, also auf der Grundlage einer liberalen Wettbewerbsordnung zu organisieren." Bevor man transnationale Institutionen und politische Steuerungsmöglichkeiten schaffe, müsse man sich auf verbindliche Werte einigen, die den Instrumenten der Regelung Sinn und Richtung geben.
Für seine visionären Darlegungen erhielt der Parlamentspräsident viel Beifall, aber mancher Zuhörer hätte sich offensichtlich doch gewünscht, die Tutzinger Wertediskussion im überschaubaren geographischen und zeitlichen Umfeld zumindest beginnen zu lassen. Wie soll ein globaler Wertekonsens entstehen, wenn er schon "zuhause" kaum zu finden ist?
Die Veranstalter von Wertediskussionen wissen wohl, dass für die meisten Menschen sich mit dem Begriff "Wert" der Begriff "Ethos" im Sinne von Tugend verbindet und mit der Formel Werteverfall eine Abkehr von diesen Tugenden, etwa denen, die sich unter dem Stichwort "Gemeinsinn" subsumieren lassen. Gibt es, beispielsweise, eine signifikante Abkehr vom Wert Gemeinsinn zumal bei den Jungen, und ist, wenn ja, daran überschäumender Individualismus schuld? Professor Johano Strasser, deutscher PEN-Präsident, mochte dem nicht zustimmen. Vielmehr, meinte er, würden "in der Debatte um den angeblichen Verfall des Gemeinsinns ... Individualismus und gesellschaftszerstörender Egoismus oft gleichgesetzt. Das moderne Individuum wird dann als der allzeit nur seinen eigenen materiellen Vorteil verfolgende Rationalist gedeutet, gegen dessen natürliche Neigungen mit allen gesetzlichen, politischen, justiziellen und pädagogischen Mitteln das unersetzliche Minimum an Gesamtwohl-Orientierung mühsam durchgesetzt werden muss."
"Werte", zitierte Christoph Glaser von der Eberhard-von-Kuenheim-Stiftung der BMW AG in seinem Referat "Werte in Bewegung" den Soziologen Niklas Luhmann, "seien nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, die man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten."