Arnold Gehlens radikale Kritik von Zivilisation und Kultur
Aufgrund seiner Mängel steht der Mensch unter einem enormen Handlungsdruck, von dem er sich zu entlasten sucht: Erstens durch den technischen Eingriff in die Welt; zweitens durch die Bildung von Gemeinschaften und entsprechenden Institutionen; drittens durch die Ausprägung einer bestimmten dazu passenden psychischen Struktur.
Um also die Welt beherrschen zu können, muss der Mensch nicht nur handeln, er muss sich selbst auch entsprechend entwickeln. Gehlens Anthropobiologie, deren Anfänge in die NS-Zeit zurückreichen, spricht vom Menschen als Zuchtwesen. Sie verbindet damit Philosophie und Biologie.
Arnold Gehlen, am 29.Januar 1904 in Leipzig geboren und 1976 gestorben, wurde mit seinem Buch aus dem Jahr 1940 "Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" ein Vordenker des Nationalsozialismus. In der Kriegsgefangenschaft orientierte er sich zunehmend an der amerikanischen Soziologie. Bereits 1947 erhielt er einen Lehrstuhl an der Akademie für Verwaltungswissenschaften in Speyer und 1962 einen Ruf nach Aachen.
Gehlen avancierte zu einem konservativen Mahner in der frühen Bundesrepublik. In diesem Sinne entwickelte er die Soziologie ähnlich wie sein Freund und Schüler Helmut Schelsky primär empirisch. Er beeinflusste Peter Berger, Thomas Luckmann und Nicklas Luhmann. Sein Hauptwerk ist seine modernitätskritische Kultur- und Technikanalyse von 1957 "Die Seele im technischen Zeitalter", das jetzt zusammen mit thematisch verwandten Schriften als Band 6 der Gesamtausgabe erschienen ist.
Alle kulturellen Errungenschaften - Staat, Technik und Kunst - dienten bisher dazu, den Menschen von den vielfältigen Herausforderungen und Verunsicherungen durch die Umwelt zu entlasten. Die moderne Kultur dagegen, so Gehlen, leistet das immer weniger. Anstatt seine Wahrnehmung einzuschränken, sie zu verstetigen, was ihn beruhigen würde, vervielfältigt die Moderne die Wahrnehmungsmöglichkeiten. Der Mensch heute fühlt sich ständig bedrängt, überfordert und reagiert gereizt.
Die moderne Kultur übersteigert die Subjektivität. Früher versuchte der Mensch, zusammen mit der Natur zu leben, sich in die Gesellschaft einzuordnen, heute nicht mehr. Anstatt sich als Mängelwesen der notwendigen Zucht zu unterwerfen und sich in eine universale Ordnung einzufügen, verlangen die Men-schen heute nach immer mehr Wohlstand - eine rechtskonservative Kritik, die Gehlen besonders für die frühe Bundesrepublik formulierte, mit der er auch höhere Rüstungsausgaben forderte.
Das stellt natürlich auch einen Zerfall absoluter ethischer Werte dar - es ist die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige These vom Wertezerfall, die von Bergson über Gabriel Marcel bis zu Eric Voegelin reicht. Man ist nicht mehr bereit, sich der Gemeinschaft unterzuordnen, geschweige denn sich zu opfern. Die gesellschaftliche Moral verschwimmt im Werterelativismus. Es verwundert dann nicht, wenn Leitbilder verblassen und an die Stelle des Gesunden gar das Kranke tritt, das ob seiner Drastik noch das Maximum an ethischer Orientierungskraft entwickelt. Die "großen Toreöffner" der Moderne wie Kierkegaard, Nietzsche, van Gogh und Strindberg sind selbst von Krankheit gezeichnet.
Daran schließt auch Gehlens harsche Intellektuellenkritik der 60er-Jahre an: Die moderne Kultur lenkt die menschliche Antriebsenergie nur noch unzureichend. Das Mängelwesen Mensch braucht aber Gewohnheiten, Institutionen und feste Vorstellungen. Daraus folgert Gehlen eine Psychologie der Zucht: die Kultur sollte den menschlichen Charakter erziehen und stabilisieren. Doch wohin die kulturelle Reise geht - das weiß Gehlen sehr genau - ist offen.
Arnold Gehlen
Die Seele im technischen Zeitalter.
Band 6 der Gesamtausgabe; Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. 2004; 898 S., 94,- Euro
Urmensch und Spätkultur.
Moral und Hypermoral.
Erweiterte Neuauflagen, Klostermann Seminar,
Frankfurt/M. 2004; 318 S., 21,- Euro beziehungsweise
196 S., 19,- Euro